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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Iris Blum

Monte Verità am Säntis. Lebensreform in der Ostschweiz 1900–1950

St. Gallen 2022, VGS Verlagsgenossenschaft, 352 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-7291-1199-8


Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.08.2023

Lebensreform in der Schweiz wird gemeinhin mit der Aussteigerkolonie Monte Verità im Schweizer Teil des Lago Maggiore in Verbindung gebracht, deren (momentan wieder gestiegene) Popularität auch mit der seit der großen Ausstellung von Harald Szeemann 1978 gezielt inszenierten Medialität zu tun hat. Neben dem Monte Verità, der Gegenstand zahlloser wissenschaftlicher, populärwissenschaftlicher und literarischer Veröffentlichungen ist, wurden dagegen andere lebensreformerische Projekte in der Schweiz in der Vergangenheit kaum untersucht; am bekanntesten sind noch die (älteren) Arbeiten von Albert Wirz und Eberhardt Wolff über den Züricher Sanatoriumsarzt und Naturheilkostler Bircher-Benner oder von Roman Kurzmeyer über die Siedlung Amden. Erst in den letzten Jahren erschienen weitere – ausgesprochen gründliche – Studien über Lebensreform und Freikörperkultur in der Schweiz von Eva Locher und Stefan Rindlisbacher. Beide wiesen in ihren Arbeiten jedoch auf noch bestehende Lücken in der Erforschung der Schweizer Lebensreform hin.

Diese Lücken werden nun – zumindest teilweise – geschlossen durch die regionale Studie der Archivarin Iris Blum, die sich der Lebensreform in der Ostschweiz angenommen hat, also der Gegend in den Kantonen St. Gallen, Thurgau, Appenzell und Schaffhausen mit dem Berg Säntis als höchster Erhebung der Ostschweiz und als weithin sichtbare Landmarke. Iris Blum ist über andere archivalische Arbeiten eher zufällig auf das Thema Lebensreform gestoßen, hat dann nachgehakt, systematisch gesammelt und dokumentarisch zusammengestellt, bis sich aus ihrem Sammelbestand die Möglichkeit einer zusammenhängenden Darstellung der lokalen lebensreformerischen Initiativen, Gruppen, Personen und Projekte der Ostschweiz ergab.

Iris Blum geht in ihrer Studie ganz systematisch nach dem lebensreformerischen Kanon vor. Im ersten Teil stellt sie Naturheilkunde, Reformernährung, neureligiöse Gruppen und Reformsiedlungen vor, und in einem zweiten Abschnitt befasst sie sich mit Reformökonomie (Freiland, Freigeld), Reformtanz und Körperkultur sowie Reformpädagogik inklusive der entsprechenden Institutionen. Dabei stellt sie zahlreiche lebensreformerische Einzelbiografien ebenso detailliert vor wie lebensreformerische Institutionen, also Sanatorien, Speisehäuser, Siedlungsprojekte und Reformschulen. Jedem Kapitel vorgeschaltet ist eine erläuternde allgemeine Einführung in den jeweiligen lebensreformerischen Gegenstand: Naturheilkunde, Vegetarismus, Neureligion, Körperkultur und Reformpädagogik. Zwischen die Abschnitte hat die Autorin eine Darstellung des generationenübergreifenden Fotoateliers Rietmann aus St. Gallen montiert, die nicht nur lebensreformerisch lebten, sondern etliche Motive der lokalen Lebensreform auf Fotos festhielten, und deren Sammlung sich in der Kantonsbibliothek Vadiana erhalten hat.

Mit ihrer akribischen kleinräumigen und gründlichen Recherche hat es Iris Blum verstanden, unzählige lokale Lebensläufe und Projekte ausfindig zu machen und zu dokumentieren und somit die historische Landkarte der Lebensreform zu füllen geholfen. Sie hat etliche Dokumente und Quellen ans Licht gefördert, die ansonsten nicht und vor allem nicht so kontextbezogen an die Öffentlichkeit gelangt wären. War der Monte Verità in der öffentlichen Wahrnehmung bislang der eher einzige Schweizer Bezugspunkt zur Lebensreform, so hat Iris Blum dafür gesorgt, dass sich der Blick nun weiten kann.

Was ein bisschen fehlt, ist eine allgemeine Einführung in das Thema Lebensreform, ihre Inhalte, Ausprägungen, Begründungen und historischen Kontexte; das Buch startet zu abrupt mit dem Thema, ohne einen generellen Überblick über das Phänomen zu geben, das diejenigen brauchen, denen der Gegenstand neu ist. Bemerkenswerterweise wird wenig bis gar nichts über Freikörperkultur außerhalb der Sanatoriumsszene gesagt; möglicherweise gab es in der Ostschweiz auch keine unabhängigen FKK-Gruppen mit eigenen Geländen. Durch die sehr starke Orientierung auf einzelne Personen und ihre Biografien zuungunsten eines übergreifenden Gesamtbildes wirkt die Studie auch etwas zerfasert. Zudem hätte man sich eine Übersichtkarte über die Region mit den entsprechenden lebensreformerischen Standorten und Projekten gewünscht, um einen besseren Überblick zu erhalten; dies hätte vielleicht dem Eindruck der Zerfaserung entgegengewirkt. Das Buch enthält überdies zwar eine ganze Menge Abbildungen, sie sind jedoch nicht den einzelnen Kapiteln und Themen zugeordnet, sondern in einem gesonderten Block zusammengefasst. Auch ist dem Rezensenten – aber das ist natürlich Geschmackssache – die mäandernde Typografie (Abschnitte mit wechselnden Schriftgrößen und verschobenen Schriftblöcken) zu unruhig.

Alles in allem aber hat es Iris Blum verstanden, ein bislang unterbelichtetes und noch kaum bearbeitetes regionales Thema gründlich und systematisch darzustellen und ein neues Kapitel in der Lebensreformforschung aufzuschlagen.