Aktuelle Rezensionen
Jörg Albrecht
Vom „Kohlrabi-Apostel“ zum „Bionade-Biedermeier“. Zur kulturellen Dynamik alternativer Ernährung in Deutschland
(Religionswissenschaft und Religionskritik 1), Baden-Baden 2022, Tectum, XXIV, 561 Seiten, ISBN 978-3-8288-4789-7
Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.09.2023
In den letzten Jahren hat die Menge an Veröffentlichungen zur Geschichte der „alternativen Ernährung“ stark zugenommen; diese gestiegene Bedeutung ist im Kontext der gegenwärtigen Besorgnis um den Klimawandel und das damit zusammenhängende aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Interesse an „naturnahen“ und „nachhaltigen“ Lebens- und Ernährungsstilen und ihren historischen Vorläufern und Vordenkern – beispielsweise in der Lebensreform der vorletzten Jahrhundertwende – zu verorten. Waren es vor dem Jahr 2000 nur sehr wenige Autorinnen und Autoren, die sich – wie etwa Judith Baumgartner und Eva Barlösius – mit der Geschichte von alternativer und naturressourcenschonender Ernährung – und als solche gelten Vegetarismus und Veganismus – im Rahmen der Lebensreform befasst haben, so wurde das Thema nach der Jahrtausendwende in akademischen Kreisen und im Rahmen eines neuen Interesses am Sujet „Natur“ fast schon zu einem modischen „must have“, wie man heute so schön sagt. Die Vollakademisierung des Themas und die öffentliche Debatte um politisch, moralisch und gesellschaftlich korrekte Ernährungsweisen hatten dabei zur Folge, dass in den letzten Jahren auch populärwissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte des Vegetarismus und Veganismus, wie etwa die mit leichter Hand verfassten Übersichten von Florentine Fritzen (2006, 2016), erschienen sind.
Weitaus schwerer wiegt indes die Studie des Religionswissenschaftlers Jörg Albrecht, die aus seiner Dissertation hervorging, die der Autor am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig angefertigt hat. Sie gehört in den Kontext einer ganzen Reihe von religions- und kulturhistorischen Studien beziehungsweise Dissertationen zur Geschichte alternativer Denkmuster, Bewegungen, Praktiken und Projekten, die das Leipziger Institut in den letzten Jahren angestoßen und begleitet hat. Dazu zählen etwa die Arbeiten von Bernadett Bigalke zur Lokalgeschichte der Theosophie oder von Johannes Graul zur Geschichte der Mazdaznan-Bewegung, die beide einen deutlichen thematischen Bezug zur vorliegenden Veröffentlichung (Lebensreformbewegung, alternative Religion, Vegetarismus etc.) von Jörg Albrecht aufweisen.
Im Mittelpunkt der Studie von Jörg Albrecht steht die Frage, wie aus einer im späten 19. Jahrhundert noch „belächelten, kritisierten oder gar als gefährlich betrachteten“ und als nonkonform eingestuften Verhaltens- und Ernährungsweise aktuell „akzeptierte, etablierte und teilweise sogar als normative Leitbilder funktionierende Vorstellungen und Praktiken der Ernährung“ geworden sind (12). Wie, warum, mit welchen Aspekten und auf welche Weise wurde also eine als „alternativ“ bezeichnete kulturelle Randerscheinung eine konforme Praxis des kulturellen Zentrums? Dabei bezieht der Autor seine Fragestellungen nicht nur auf seinen speziellen Forschungsgegenstand, sondern kann ihn aufgrund seines ausgreifenden Ansatzes von „kultureller Dynamik“ generell auf vergleichbare Transferprozesse und Transformationen in Bezug auf die gesellschaftliche Ausbreitung auch anderer randständiger Ideen und Praktiken beziehen.
Jörg Albrecht dekliniert sein Thema stringent durch. Seine ersten Abschnitte zur Geschichte des Vegetarismus und der Rohkost befassen sich mit den Gründungsgenerationen des Vegetarismus und den „Kohlrabiaposteln“, den Vegetariervereinen, Naturheilanstalten und der Reformwarenwirtschaft sowie mit der „Biologisierung und Nationalisierung“ (Kapitel 3) der Vollwertkost im Kontext desjenigen Teils der nationalsozialistischen Ideologie, die eine gewisse Nähe zu einer so interpretierten „alternativen“ Landwirtschaft aufwies. Ein weiterer umfangreicher Abschnitt widmet sich den ökologischen Ernährungs- und Anbauweisen der neuen alternativen Bewegung seit der 1968er Generation. Und im letzten historischen Kapitel untersucht Jörg Albrecht die verschiedenen alternativen Wirtschafts- und Landbauweisen zwischen 1910 und heute, wobei er sich auch mit den entsprechenden – allerdings weit weniger bekannten und zahlreichen – Initiativen der 1950er und 1960er Jahre auseinandersetzt.
Zum Abschluss formuliert der Autor seine „Thesen zur kulturellen Dynamik“ (484–487): Nonkonforme Milieus produzieren nichthegemoniale Innovationen und alternative Praktiken. Sie stehen in einem antagonistisch-oppositionellen, spannungsreichen und vielfältigen Verhältnis zur „offiziellen“ Kultur, das von Negation und Abwehr über Adaption bis zur Abspaltung reicht und als dialektische Entwicklung begriffen werden kann, die Synthesen nach beiden Seiten hervorbringt und als offener Prozess zu interpretieren ist.
Das Buch ist enzyklopädisch geschrieben und in seiner breiten Rezeption der Fachliteratur (weniger der Quellen) als Rechercheinstrument gut geeignet. Aufgrund der Neigung des Autors, allen möglichen Nebensträngen des Themas plus der entsprechenden Literatur aufs Gründlichste nachzugehen (das Literaturverzeichnis umfasst 70 engbedruckte Seiten) sowie jedes thematische Schlüsselwort ausgiebig zu definieren beziehungsweise sich durch ausführliche Definitionen abzugrenzen und abzusichern – möglichweise auch der heutigen verbreiteten Unsicherheit über die Grenzen des Sagbaren geschuldet – ist das Werk in einem fast schon überakademisierten elaborierten und ermüdenden Stil gehalten, der einem fortwährend das Gefühl vermittelt, dass man etliches doch auch einfacher und kürzer hätte sagen können. Aber aufgrund eben dieses enzyklopädischen Ansatzes dürfte das Buch zu den wichtigeren Studien zum Thema zu zählen sein.