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Aktuelle Rezensionen


Stefanie Samida (Hg.)

Der Gürtel. Mehr als nur ein modisches Accessoire

Berlin 2022, Vergangenheitsverlag, 83 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-86408-284-9


Rezensiert von Alexander Karl Wandinger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.08.2023

In ihrer Einleitung bringt es die Herausgeberin Stefanie Samida auf den Punkt: „Kulturhistorisch hat der Gürtel eine lange Geschichte […]. Interessanterweise fristet er in der Erforschung vestimentärer Kultur – abgesehen von archäologisch-kunsthistorischen Analysen – eher ein Schattendasein.“ (9) Tatsächlich repräsentiert der Gürtel eine Urform der menschlichen Kleidungskultur mit unverkennbar archetypischen Zügen. Seine ringförmig umschließende Gestalt – die er mit Krone, Ring, Hals- und Armreif gemein hat – ist ein Urbild. Ein archetypisches Symbol löst Grundassoziationen aus, die sich über die Zeiten in verschiedenen Kulturen ähneln und zu Elementarbegriffen verdichten. In diesem Buch wird erfolgreich dargelegt, dass das Umlegen des Gürtels nur als praktische Handlung zu interpretieren entscheidende Betrachtungsweisen übergeht. Das Forschungsfeld Gürtel wird auf eine einladende Weise geöffnet und die Analysen zeigen, wie ein vermeintlich alltäglicher Gegenstand an inhaltlicher Tiefe gewinnt, wenn man sich nur intensiv genug – und das heißt immer auch interdisziplinär – mit ihm beschäftigt.

In sechs sehr unterschiedlichen Beiträgen befassen sich studierende Autorinnen und Autoren in teils erfrischend essayistischer Manier mit modischen, materiellen oder kulturhistorischen Aspekten. Zwischen den Beiträgen sind Informationen über weitere Gürtelformen eingestreut, die wir alle kennen und doch nicht direkt mit dem klassischen Gürtel zusammenbringen. Hier zeigt sich in erweiterten Kontexten einmal mehr: Der Mensch ist ein Gürteltier!

Christoph Söller wagt unter dem Titel „Kleider machen Geschichte“ einen Parforceritt durch die Modegeschichte und belegt, wie politisch Kleidung sein kann. Er spannt den Bogen von der Mode des 18. Jahrhunderts, die Französische Revolution über politische Zustände im deutschen Kaiserreich bis hin zur „Generation Internet“. Dabei arbeitet er heraus, wie sehr wirtschaftliche, soziale, religiöse oder berufliche Gründe unsere Kleider beeinflussen.

Hanna Blume führt das Thema Gürtel – zunächst überraschend – auf die sprachliche Ebene. Sie spielt mit durchaus komplexen englischen und deutschen Redewendungen, ohne den inhaltlichen Faden zu verlieren. Banal ist, den Gürtel auf das Zusammenhalten von Kleidung zu beschränken – das wird mit jeder analysierten Redewendung klarer. Die englische Formulierung „belt and braces“ steht beispielhaft für die übertragene Bedeutung einer Redewendung im Sinn des „mehr Vorsichtsmaßnahmen treffen als notwendig wären, um sicher zu gehen, dass ein Vorhaben auf jeden Fall Erfolg hat/funktioniert“ (29). Eine Schlussfolgerung, die im Zusammenhang mit dem Gürtel als taillenhohe Markierung auf dem Körper gezogen wird, irritiert: „Betrachtet man die Entstehungszeit der Redewendung, lässt sich das erklären. Gürtel hatten im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert weder in der Männer- noch in der Frauenmode eine große modische Bedeutung.“ (31) Tatsache ist, dass in der oberschichtlichen Mode Gürtel ab etwa 1750 vor allem als Accessoires der Männerkleidung nur noch von marginaler Bedeutung sind. Gleichzeitig ist in der bäuerlich-bürgerlichen Männer- und Frauenkleidung – zumindest im deutschsprachigen Raum – ein Gewand ohne Gürtel kaum vorstellbar. Vor allem erstaunt die handwerklich brillante Ausführung der überlieferten Artefakte und eine regionaltypische Gestaltung, die Trachtencharakter besitzt. Vor dem Hintergrund, dass die Kleidung der adligen Bevölkerung im 18. und 19. Jahrhundert zahlenmäßig einen prozentual sehr geringen Anteil in der Mode hat, sollte die bäuerlich-bürgerliche Mode zumindest mitgedacht werden.

Vivien Schiefer richtet ihren Blick auf den Dresscode von Prostituierten im Mittelalter und die teils stigmatisierenden Kleiderordnungen dieser Zeit. Gleich zu Beginn ihres Beitrags räumt sie mit dem weitverbreiteten Mythos eines historisch real gebräuchlichen Keuschheitsgürtels auf. Was das Bild betrifft, das man sich vom „mittelalterlichen“ Keuschheitsgürtel zu machen pflegt, ist der historische Befund ziemlich eindeutig: In der Welt der Ritter und Edelfräulein hat es derartige Keuschheitsgürtel de facto nie gegeben. Die vermeintlichen Originale haben sich vielmehr als Machwerke aus dem 19. Jahrhundert erwiesen und sind entweder dubiosen Quellen nachempfunden oder verdanken sich diffusen sexuellen Neigungen. Im Weiteren verlässt Schiefer den Gürtel zugunsten anderer Accessoires und Kleidungsstücke. Das mag einerseits an der dürftigen Quellenlage liegen, die eine Verbindung von Dresscodes der Prostituierten und Gürteln nicht durchgängig zulässt; andererseits an der Bedeutung, die dem Frauengürtel in der vestimentären Kultur zugemessen wird. Zwar wird richtig beschrieben, dass der Gürtel im mittelalterlichen Denken sexuell konnotiert war, aber außer Acht gelassen, dass er das bereits in der Antike war und in vielen Kulturen bis heute ist. Deshalb schleicht sich ein Folgefehler ein: Bei Kleiderordnungen geht es in der Regel nicht um den Gürtel an sich, sondern um seine Ausgestaltung, den Geldwert und den Prunk. Er repräsentiert dementsprechend nicht „die Sünde“; sein Tragen im geschlossenen Zustand ist ein Zeichen der Keuschheit, während das Öffnen des Gürtels metaphorisch die Bereitschaft zum und den Geschlechtsakt als solchen symbolisiert. Es werden in Kleiderordnungen in der Regel die Aufmachungen der Gürtel geregelt. Das Tragen des Gürtels war für Frauen im Mittelalter obligat.

Martha Schmitt behandelt den Gürtel in einem wenig bekannten universitären Kontext beispielhaft anhand des „Lateinischen Kriegs“ in Wien in den Jahren 1513/14. Dass das Tragen eines Gürtels überhaupt eine Rolle in einer größeren Auseinandersetzung spielt, ist bemerkenswert. Wir können uns heute kaum noch in eine solche Vorstellung hineinversetzen, weil das moderne Kleidungsverhalten dem Gürtel in der sozialen Alltagswirklichkeit allenfalls eine Nebenrolle zuweist. Wie zentral die Funktion des Gürtels für die Stellung der Artistenstudenten war, wird gut herausgearbeitet. Die Verbindung zum Mönchshabit legt die richtige Fährte zum eigentlichen Grund für die Abneigung der Studenten, einen einfachen Ledergürtel zu tragen. Es hätte sich gelohnt – und dieser Aspekt, dem eigentlichen Wesen des Gürtels nicht ganz auf den Grund zu gehen, zieht sich wie ein roter Faden durch alle Beiträge in diesem Buch – der Assoziation Gürtel und Keuschheit weiter nachzugehen. Tatsächlich ist das Lösen des Gürtels in der Antike eine häufig gebrauchte Metapher für den Beischlaf. Im Gegensatz dazu fungiert im kirchlichen Verständnis der Gürtel – bezeichnenderweise der des Mannes – eher als Schutz zwischen Mann und Frau, wenn nicht als Schutz des Mannes vor der Frau. Das wird jahrhundertelang unverblümt ausgesprochen, allerdings durch die lateinische Sprache dem profanen Verständnis gleich wieder entzogen. Das Gebet zum Anlegen des Cingulums (Gürtel), das beim Ankleiden des Priesters vor der Messe gesprochen werden musste, lautete bis zum 2. Vatikanischen Konzil im lateinischen Original: „Praecinge me, Domine, cingulo puritatis, et exstingue in lumbis meis humorem libidinis; ut maneat in me virtus continentiae et castitatis.“ („Gürte mich, oh Herr, mit dem Gürtel der Reinheit, und lösche aus in meinen Lenden den Saft der Wollust; auf dass die Tugend der Enthaltsamkeit und Keuschheit in mir bleibe.“) Der Zusammenhang von klerikalem Gürteltragen und dem daraus ersichtlichen Anspruch war den Studenten im Wien des frühen 16. Jahrhunderts sicher bekannt.

Tristan Pressler nutzt das Filmgenre und zeigt anhand des Historienfilms „Outlaw King“ (2018) und des Science-Fiction-Films „Alien“ (1979), welche Bedeutung Gürtel im Setting einnehmen. Wenig überraschend ist, dass das Gürteltragen sowohl im Heldenepos als auch im Horrorfilm auf mehreren Bedeutungsebenen eine Rolle spielt. Als mittelalterlicher Schwertgurt, Machtsymbol, Funktions- oder Prachtgürtel werden die Gürtel in „Outlaw King“ beschrieben. Als „gleich einem Schild“, Teil einer Uniform und Hinweis auf die Mode der „späten 1970er und frühen 1980er Jahre“ (68) finden Gürtel in „Alien“ ihre Bedeutung. Die ausgesprochene Polyvalenz von Gürteln ist damit erkannt. Die Feststellung, dass die Gürtel „mit der Kleidung als Ganzes eine zentrale Einheit, wenn es um die Herstellung der Immersion geht“ (69), bilden, rückt noch einmal ins Bild, wie vielschichtig ein vermeintlich alltägliches Accessoire ist.

Arved Oestringer reflektiert die mediale Wirkung des Gürtels in digitalen Spielen am Beispiel von „Assasins Creed Syndicate“, das ins viktorianische London entführt. Damit gibt er einem scheinbar nebensächlichen Accessoire in der digitalen Welt bewusst eine zentrale Bedeutung. „Stellen Sie sich vor, Sie jagen einen Serientäter, dessen wahre Identität niemand kennt, der mehr ein Mythos oder ein Schatten ist als eine reale Person. Ihnen gelingt es, den Schuldigen zu ergreifen und in einem Kampf auf Leben und Tod auszuschalten und als Belohnung dafür erhalten Sie seinen Gürtel!?“ (71) Der Gürtel als Zeichen des Sieges erinnert an den Boxchampion und seine Trophäe, die er allen in der Arena präsentiert. Er ist ein Zeichen von Macht und Sieg im Kampf, das zeit- und kulturübergreifend Gültigkeit hat. Oestringer führt im Weiteren differenziert aus, wie sich die Funktionen der unterschiedlichen Gürtel im Spiel anhand ihrer Farben ausdrücken, geht auf die Kennzeichen sozialer Unterschiede ein und leitet zu Gürteln und Geschlechterrollen über. Die Stereotypen von weiblichem und männlichen Charakteren in der viktorianischen Zeit werden also anhand der Gürteltypen und Trageweisen beschrieben. Dabei zeigen sich im digitalen Spiel deutlich Unschärfen und ahistorische Bilder, die laut Oestringer auf subtile Weise Geschlechterrollen schaffen.

Den unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten und Aspekten, die in „Der Gürtel“ lesens- und wissenswert beschrieben sind, ist eine weitere Bearbeitung zu wünschen.