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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Harm-Peer Zimmermann/Simon Peng-Keller (Hg.)

Selbstsorge bei Demenz. Alltag, Würde, Spiritualität

Frankfurt am Main 2021, Campus, 375 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-593-51349-2


Rezensiert von Mirko Uhlig
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.08.2023

Zwischen 2017 und 2021 untersuchten zwei am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft sowie an der Professur für Spiritual Care (beide Universität Zürich) angesiedelte Forschungsprojekte, wie tragfähig ein Konzept der Selbstsorge im Kontext von Demenzerkrankungen ist. Der vorliegende Band versammelt 17 Beiträge, die in diesen Forschungszusammenhängen entstanden sind und das Thema „Selbstsorge bei Demenz“ aus unterschiedlichen Fachperspektiven beziehungsweise aus Sicht der therapeutischen Praxis diskutieren.

Dabei geht es, wie die beiden Herausgeber und Projektleiter Harm-Peer Zimmermann und Simon Peng-Keller in ihrem eigenen Text betonen, nicht allein um die Schärfung eines interdisziplinär anschlussfähigen analytischen Zugangs. Mit der Publikation wird auch die Absicht verfolgt, „verbreitete Einstellungen und Vorstellungen zu korrigieren, nach denen Menschen mit Demenz vor allem pflegebedürftig sind, und das heißt: vor allem passiv, teilnahmslos und abhängig von Betreuung“ (19). Selbstsorge wird hier vor allem unter Rekurs auf den ressourcenorientierten Ansatz nach Tom Kitwood als eine responsive und resonante Praxis konzipiert, der „ein solidarisches Verhältnis zwischen Mensch und Welt“ (22) zugrunde liegt. Der Selbstsorge ist, diesem Verständnis zufolge, stets die „Sorge um andere“ (23) eingeschrieben. Sie sei also nicht mit Selbstbezogenheit zu verwechseln und schon gar nicht mit einer neoliberalen Selbstoptimierungsideologie gleichzusetzen, die letztlich zur zynischen Bagatellisierung einer schweren Erkrankung führen, Sozialstaat wie Solidargemeinschaft aus der Pflicht nehmen und die betroffenen Menschen ihrem Schicksal überlassen würde. Nun hat Kitwood den „personenzentrierten Ansatz“, der die Bedürfnisse der an Demenz erkrankten Personen würdigt, in einer therapeutischen Umgebung entwickelt, aber dieser Ansatz deckt sich mit der alten ethnologischen Bemühung, die Welt aus den Augen der Akteurinnen und Akteure zu sehen. Wie also wird Selbstsorge in konkreten Situationen ausgehandelt und praktiziert? Bevor im weiteren Verlauf diverse „Alltagspraktiken“, die sprachliche/narrative Dimension von Selbstsorge sowie die „Rolle des Umfeldes“ analysiert werden, streut Burkhard Plemper (u. a. Soziologe, Journalist und im Vorstand der „Aktion Demenz“ tätig) zunächst ein wenig Sand ins Getriebe der öffentlichen Sorge-Diskussionen. Mittels eindrücklicher Fallbeispiele benennt der Autor einige Herausforderungen, vor die sich eine kritische Demenzforschung gestellt sieht, so sie mit dem Selbstsorge-Konzept operiert. Als besonders bedenkenswert erscheint mir die Forderung, „die sozioökonomischen Lebensbedingungen in die Betrachtung einzubeziehen, um Konzepte der Selbstsorge nicht als eine Idee für wenige erscheinen zu lassen“ (89). Eine kritische Forschung sollte also fragen, wie „Selbstsorge im Prekariat“ situiert ist und gelingen kann. Spätestens an dieser Stelle wird die dialektische Qualität des Buches sichtbar: Die Herausgeber haben sich nämlich nicht gescheut, auch solche Texte mit aufzunehmen, die kritische Nachfragen an das Konzept der Selbstsorge stellen. Die Perspektive der medizinischen Profession (z. B. Geriatrie, Gerontologie und Innere Medizin) überwiegt. Da die Texte aber größtenteils frei von lästigem Jargon sind – und, das möchte ich an dieser Stelle positiv hervorheben, sehr gut redaktionell betreut wurden (Stichwort: Querverweise) –, habe ich auch die nicht-kulturwissenschaftlichen Texte mit Gewinn gelesen. Exemplarisch sei hier der Beitrag „Kultursensible Sorge um Muslime bei der Demenzdiagnostik und Pflege“ der Ärztin Jenni-Marie Ratten genannt. Sie hält (selbst-)kritisch fest, „dass Medizin und Neurologie gerade im Hinblick auf den Umgang mit einer Demenzerkrankung gut beraten sind, auf sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse zurückzugreifen“ (308). In ihrem Plädoyer für einen „kultursensible[n] Zugang“ (ebd.) warnt Ratten aber auch vor den platten Essenzialismen, die Medizinerinnen und Medizinern bisweilen in Schnellkursen über kulturelle Unterschiede und Kompetenzen vermittelt werden. Darüber hinaus bietet der Text viele erkenntniserweiternde, aber auch nachdenklich stimmende Einsichten. Zwar wird die populäre Auffassung, muslimische Mitmenschen würden nach wie vor die Demenzerkrankung als übliche Alterserscheinung oder seelisches Problem (miss-)interpretieren, als Klischee dekonstruiert, allerdings wirke das tradierte Narrativ, man habe sich um die kranken Angehörigen zu kümmern, nach wie vor, was bei pflegenden Familienmitgliedern zu erheblichen Belastungen führe. Das Bemühen um professionelle Hilfe und Entlastung (durch Externe), so schilderten es die von der Autorin interviewten Betroffenen, würde von der Community nicht selten als Fehlverhalten sanktioniert. Sorge wird so zum Stigma. Auch die von der Medizin selbst errichteten Sprachbarrieren identifiziert Ratten als ernsthaftes Problem, da „die Diagnose von verbalen Tests ab[hängt]“ (310).

Etliche der Beiträge, die die Sichtweisen der an Demenz Erkrankten thematisieren, sind narrationsanalytisch ausgerichtet. Anhand von qualitativen Interviews kann Valerie Keller zeigen, wie Menschen mit (beginnender) Demenz mit den „Erschütterungen im Selbstbild“ (103) umgehen und über das Erzählen lebensgeschichtlich stimmige Sinnentwürfe herstellen. Aber nicht nur der erzählte Inhalt, sondern auch die Performanz (also das Erzählen an sich und auch die eigene Bewertung des Erzählten) kann zur Vermittlung eines Selbstbildes beitragen und somit zu einer aktiven Selbstsorge. Allerdings, so Keller kritisch, müsse das soziale Umfeld diese Art der narrativen Selbstsorge auch als solche wahrnehmen und würdigen. Den Aspekt der Performanz und das daran gekoppelte Selbstwirksamkeitserleben (im Sinne einer Selbstsorge) – also die Relevanz des Sprechaktes – rücken auch Jürgen Steiner und Franzisca Pilgram-Frühauf ins Zentrum ihrer jeweiligen Aufsätze. Pilgram-Frühauf kommt in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die „Sprache von Menschen mit Demenz […] in besonderem Maß dialogisch aufgebaut“ ist (237–238). Die so entstehenden „narrative collaborations“ dürften, so Pilgram-Frühauf, von der Forschung aber auch nicht romantisiert werden. Stets zu bedenken sei der Umstand, dass das autobiografische Erzählen nicht zwingend und ausschließlich der Herstellung einer lebensgeschichtlich stimmigen Kausalkette dienen muss. So fragt die Autorin: „Liegt nicht auch darin Selbstsorge, wenn sich jemand dem Unerklärlichen, Unbeschreibbaren, der Angst vor Abhängigkeit und unvermeidlichen Verlusten stellt und sie fragend und klagend zum Ausdruck bringt […], wenn jemand die Wirkung der eigenen Stimme erprobt oder auch Schweigen aushält?“ (243) Malte Völk hat Tagebücher aus der Sammlung Frauennachlässe (Universität Wien) untersucht, um den Zusammenhang von Selbstsorge und Selbstreflexion diskutieren zu können. Zum einen verdeutlichen Völks Ausführungen die unterschiedlichen Funktionen des autobiografischen Schreibens – in einem Fallbeispiel dienten die Notizen einer an Demenz erkrankten Frau dazu, sich immer wieder Details aus dem eigenen Leben (von einer vertrauten Person) berichten zu lassen, was Völk als „erzählerische Selbstermächtigung“ (264) interpretiert. Zum anderen führt der Text besonders die zeit(geist)abhängigen Deutungen beziehungsweise Verschleierungen und somit Bewertungen einer demenziellen Erkrankung vor Augen, was für medizinanthropologische und -historische Ansätze aufschlussreich ist.

Der Umstand, dass nicht alle abgedruckten Beiträge die an Demenz erkrankten Menschen zu Wort kommen lassen (können), fällt angesichts der gebotenen Kontextualisierungen und Einsichten nicht schwer ins Gewicht. Durch die unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema und die ausgewogenen Überlegungen zur Frage, wie man auch die hermeneutischen Untersuchungen für eine konkrete Behandlungspraxis produktiv machen könnte, löst der Sammelband das selbstgesteckte Ziel ein, konstruktive Vorschläge zu unterbreiten, die helfen mögen, „zu einer weiteren Verbesserung von Pflege- und Betreuungssituationen“ (19) beizutragen.