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Aktuelle Rezensionen


Joanna Nowotny/Julian Reidy

Memes – Formen und Folgen eines Internetphänomens

(Digitale Gesellschaft 47), Bielefeld 2022, transcript, 260 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-6124-8


Rezensiert von Niklas von Reischach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.09.2023

Joanna Nowotny und Julian Reidy liefern mit „Memes: Formen und Folgen eines Internetphänomens“ einen aktuellen und wichtigen deutschsprachigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit betiteltem Gegenstand. Die Monografie eignet sich als (kultur-)wissenschaftlicher Einstieg, um sich mit dem gesellschaftlich und insbesondere politisch brisanten Thema auseinanderzusetzen. Zudem begründen zahlreiche praxisnahe Analysen und gehaltvolle allgemeingültige Einlassungen auch bei fortgeschrittenem Kenntnisstand über Memes eine Lektüre der Publikation.

Nach einer grundlegenden Einführung in das Forschungsfeld werden Erkenntnisse im Umgang mit Memes aus fünf Perspektiven erarbeitet: Referenzialität, Humor, Politik, Mainstreamisierung und Kanonisierung. Gleichwohl sie zentrale Charakteristika von Memes darlegen, verzichten Nowotny und Reidy – zurecht – auf eine geschlossene Definition des dynamischen und fluiden Forschungsgegenstands (13–14). Die von Felix Stalder für die „Kultur der Digitalität“ (2016) postulierte Referenzialität erkennen sie als wesentlich für ein Verständnis des Internetphänomens an (etwa 17). Besonders sinnig erscheint in diesem Zusammenhang der Hinweis, besagte Bezugnahmen von Memes auch hinsichtlich „nicht-digitaler“ sowie Subkulturen-überschreitender Artefakte oder Narrative zu diskutieren (13, 35). Vielschichtig sind die praxisnahen Verweise auf netzkulturelle Diskurse der letzten Jahre, die sich mit tatsächlich oder vermeintlich (da abwertend) humoristischen Beispielen beschäftigen. Nowotny und Reidy führen Mikroanalysen mehrerer ausgewählter, teils ambivalent lesbarer, exemplarischer Memes durch und beleuchten dabei wiederholt Bezüge zu diversen ästhetischen und/oder visuellen Kulturen, etwa zur Kunstgeschichte. Beispielhaft hervorzuheben ist etwa, wie sie anhand des „Captain America-Memes“ die Aufladung eines Meme-Clusters mit zwei völlig konträren Sinngehalten veranschaulichen. Das Motiv, dessen Ursprung bis zu den Superman-Comics der 1940er Jahre reicht, erfuhr sowohl von politisch linken als auch rechten Akteurinnen und Akteuren in den letzten Jahren in Form von Memes eine Aneignung für ihre Zwecke. Damit verdeutlichen Nowotny und Reidy neben anderem, dass eine qualifizierte Decodierung dieser Memes und des Internetphänomens im Allgemeinen Fachwissen über digitale Subkulturen verlangt.

Besonders lesenswert macht die Publikation, dass die Autorin und der Autor auch die – spätestens seit dem Wahlkampf Donald Trumps 2015/2016 relevant gewordenen – potenziellen destruktiven und negativen gesellschaftlichen Auswirkungen durch rechtsalternative Memes beleuchten und diese Spielformen in einem theoretischen Rahmen strukturieren. Limor Shifmans 2013 erschienenes Standardwerk „Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter“ konnte dies freilich noch nicht in diesem Maße leisten. Die Monografie ist auch wertvoll, weil sie dem Neologismus einer „Memesis“ nachgeht. Der Begriff bezeichnet das Grundprinzip der „Erzeugung, Modifikation und Dissemination von ‚memes‘“ (29), das geprägt ist davon, dass sich die Gegenstände über „referenzielle Replikation verbreiten, [...] im Sinne einer Herstellung von stets ‚familienähnlich‘ modifizierten Kopien ihrer selbst“ (36). Die bezugnehmende Veränderung einer Vorversion ist dem Umgang mit Memes sozusagen eingeschrieben, die Referenz entsteht selten beiläufig, unbewusst oder für Kennerinnen beziehungsweise Kenner von Subkulturen besonders chiffriert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Anmerkung, dass die klare Rekonstruktion eines einzigen Originals, trotz oftmals klar erkennbarer Quellenbindung, bei dieser referenziellen Verbreitung von Inhalten und Motiven durch einzelne Meme-Fragmente oftmals im Unklaren bleibt (37) und daher als nachrangig aufgefasst werden kann.

Leserinnen und Leser der vorliegenden Rezension dürften auch die Beobachtungen Nowotnys und Reidys hinsichtlich einer Nähe von Memes/Memesis und folkloristischen Kulturpraktiken interessieren. Nowotny und Reidy erkennen eine Anschlussfähigkeit („eine erhellende Familienähnlichkeit“, 176) der beiden Felder etwa darin, dass sowohl im Umgang mit Memes als auch bei Folklore eine „niederschwellige[] und zur Produktion anregende[] Rezeption, [eine] Quellenbindung und [eine] digitalkulturelle[] ‚unfreiwillige[] Freiwilligkeit‘ innerhalb gemeinschaftlicher Formationen“ (176) bestehe. Zudem werde bei beiden bisweilen mit transformativen Praktiken wie „ironischer Unterwanderung, parodistischer Zitation, absurder Übersteigerung, sarkastischer Desillusionierung und ähnlichen ästhetischen Praktiken“ (36–37) gearbeitet. Gleichzeitig ermöglichten Memes im Gegensatz zur Folklore eine „größere Distanz zur ‚Tradition‘“ (176).

Bündig und dabei vollkommen ausreichend formulieren Nowotny und Reidy ihre Perspektiven bezüglich methodischer Herangehensweisen an den wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand. Sie betonen, dass Meme-Analysen immer im Kontext sozialer, historischer und kultureller Diskurse erfolgen sollten und schlagen eine multimodale Synthese verschiedener Methoden vor (66–68).

Die Monografie ist auf sprachlicher Ebene zweifelsfrei als Wissenschaftsliteratur zu markieren, wobei sich bisweilen zugänglichere Formulierungen vorteilhaft auf den Lesefluss ausgewirkt hätten. Das gesellschaftlich so relevante Thema könnte durch eine tendenziell inklusivere Sprache für eine größere akademische Öffentlichkeit attraktiver werden. Nichtsdestoweniger beinhaltet die Monografie zahlreiche gewinnbringende Analysen und Beobachtungen, weswegen vorsichtig prognostiziert werden kann, dass die Publikation in den kommenden Jahren für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Forschungsfeld relevant und aktuell bleiben wird.