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Aktuelle Rezensionen


Jean-Louis Georget/Christine Hämmerling/Richard Kuba/Bernhard Tschofen (Hg.)

Wissensmedien des Raums. Interdisziplinäre Perspektiven. Tagung „Saisir le terrain / Terrain und Kultur II: Wissensmedien des Raums“

(Zürcher Beiträge zur Alltagskultur 23), Zürich 2020, Chronos, 304 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-0340-1480-9


Rezensiert von Susanne Rau
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.09.2023

Mit dem aus der Tagung „Saisir le terrain / Terrain und Kultur II: Wissensmedien des Raums“ hervorgegangenen Sammelband liegt nun auch eine ethnologische Perspektive auf die vielfältigen Praktiken und Medien räumlichen Wissens vor. Die Beiträge stammen nicht nur aus der Ethnologie, sondern auch aus der Geografie, der Kunstgeschichte, der Linguistik und der Technik- und Mediengeschichte. Dadurch, dass die meisten Beitragenden auch Mitglieder des deutsch-französischen Netzwerks „Saisir le terrain / Terrain und Kultur“ sind, ergibt sich ein spezieller Diskussionszusammenhang, der Epistemiken des Terrains von verschiedenen Standpunkten aus in den Blick nehmen kann, wie es sonst, aus den Einzeldisziplinen heraus, nur schwer gelingen würde.

Am Anfang steht ein Beitrag über Wissensmedien des Raums. Bernhard Tschofen stellt hier fest, dass ein Sammelband über Raumwissen und Raummedien heute keiner besonderen Rechtfertigung mehr bedarf. Das mag für Teile der Geistes- und Sozialwissenschaften gelten, die das Raumparadigma in ihre Forschungen integriert haben, doch gibt es weiterhin auch noch viel Unverständnis und Beharrungskräfte, die es möglich machen, dass Geschichte etwa von Städten, Straßen, Handelsrouten oder Handelsräumen in einer fast ausschließlich euklidischen Weise betrachtet wird. Umso wichtiger ist es, dass nun auch eine Gruppe historisch informierter, ethnologisch arbeitender Forscherinnen und Forscher zu Techniken der Vermessung, Erfassung und Visualisierung von Raum arbeitet und auf die Produktion von Raumwissen hinweist. Die Hinführung ist für Insider freilich nichts Neues, umso überraschender, dass für die Geschichtswissenschaft Karl Schlögel ins Feld geführt wird, dessen Methode – mit der Mischung aus sozialgeografischen Ansätzen und Begehungen konkreter Stadträume – doch noch etwas ambivalent ist. Sich mit Raum im Kontext von Wissen und Medien zu beschäftigten, heißt für die Herausgeber nicht nur, sich mit dessen Entstehung, Zirkulation und Transformation zu beschäftigen, sondern auch einen nicht-substanzialistischen Medienbegriff (Joseph Vogl) zu wählen, mit dem Medien als bewegliche Arrangements verstanden werden. Wer so den Blick auf epistemische Dynamiken richtet, kann auch die digitale Transformation räumlichen Wissens einschließen.

Frühe kartografische Darstellungen der Welt aus der Sicht Asiens und Europas eigene eurozentrische Darstellungen der Welt nimmt Jean-Louis Georget zum Anlass, um über die Rolle der Kartografie, die einen Beobachtungsstandpunkt voraussetzt, in einer zunehmend fluiden und grenzenlosen Welt nachzudenken. Richard Kuba verfolgt die Anfänge des Mediums Karte in der deutschen Ethnologie. Das betrifft nicht nur das Aufzeigen der geografischen Verteilung ethnologischer Gruppen, sondern seit Friedrich Ratzel (um 1890) auch die geografische Verteilung anthropologischer, physiognomischer und ethnischer Eigenschaften. Die Wirkungsmacht dieses Mediums zeigt sich nicht zuletzt darin, dass noch bis ins späte 20. Jahrhundert Karten verwendet wurden, um Migrationsphänomene und diachrone Perspektiven schriftloser Kulturen aufzuzeigen. Zu Heinrich Berghaus (1797–1884) wären hier noch die Bestände (und Vorarbeiten) der Sammlung Perthes Gotha heranzuziehen. Hélène Ivanoff beschäftigt sich mit der Fotografie, die im frühen 20. Jahrhundert Teil der ethnografischen Praxis geworden ist. Die Bilder, die durch das wissenschaftliche Arbeiten beispielsweise von Leo Frobenius oder Claude Lévi-Strauss in den Untersuchungsgebieten entstanden sind, haben nicht nur zu einem besseren Verständnis dieser Regionen geführt, sondern auch zur Schaffung eines Bildes vom Anderen, was heute meist mit dem Begriff des „Othering“ bezeichnet wird. Allison Huetz und Estelle Sohier gehen der Einführung des Reliefs als dritter Dimension in der Kartografie (in Genf, um 1900) nach und können zeigen, dass es dazu diente, ein neues Publikum zu erschließen, indem es die physische Umwelt wie politische Verhältnisse haptisch erfahrbar machte. Pascale Schaller und Alexandra Schiesser gehen raumkonstituierenden Praktiken in der Dialektologie nach. Um der revidierten Konzeption von Räumlichkeit in der Sozialgeografie nachzukommen, plädieren sie dafür, das Vorgehen in der Sprachwissenschaft (Dialektologie) entsprechend anzupassen, um das Verhältnis von Sprache (Dialekt), Sprecher beziehungsweise Sprecherin und Raum besser abzubilden. Völlig zu Recht. Daniela Zetti untersucht das Schicksal des „Regalmeters“ (oder „Laufmeters“) im Zeitalter der Digitalisierung, das insbesondere Forschende betrifft, die zu zeitgeschichtlichen Themen und/oder mit digitalen Korpora arbeiten. Während in digitalen Korpora lineare Zeiten und dreidimensionale Räume (und letztlich auch die klassische Archivreise) verschwinden, sind die Archive als „dreidimensionale Räume“ stärker durch Lagerelationen geprägt. Tobias Scheidegger untersucht Praktiken biologischer Bestandserfassungen in der Schweiz um 1900 und die Entstehung kantonaler Inventare von Flora und Fauna, die ihrerseits wiederum Auswirkungen auf die Idee der Bewahrung der Natur und die Heimatideologie hatte. Franka Schneiders Gegenstand sind „Räume auf Papier“, nämlich die Inventarbücher und Karteikarten des Museums für Volkskunde (Berlin) aus seiner Entstehungszeit. Mit der Inventarisierung entstand einerseits ein System der Wissensorganisation, welche auch eine räumliche Dimension umfasst, indem „Regionen“ der gesammelten Objekte gebildet wurden, die sich meist an administrativen oder politischen Einheiten orientierten. Andererseits wurden viele Aspekte der gesammelten Objekte – wie Zirkulation, Nutzung und Veränderung – durch den Prozess der Komplexitätsreduktion auch ausgelöscht. Jan Hinrichsen beschäftigt sich mit Gefahrenzonierung und der Schaffung von „Topografien der Unsicherheit“ als Reaktion auf Lawinen und andere alpinen Naturgefahren. Flurina M. Wartmann und Ross S. Purves untersuchen, wie in unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Disziplinen Landschaftsobjekte identifiziert und Landschaften beschrieben werden. Die Heterogenität der Daten (Bilder wie Beschreibungen) stellt insbesondere in der partizipativen Kartografie eine Herausforderung dar. Yonca Krahn widmet sich der Frage, wie Vorstellungen von Strecke vermittelt werden können, so dass sie zu Raumbildern werden. Gerade im Ausdauersport werden oft Längenmaße angegeben, doch es gibt auch die räumliche Erfahrung des Athleten mit dem „Parcours“, welche subjektiv ist und – je nach körperlicher Verfassung oder Umwelteinflüssen – sehr unterschiedlich sein kann. Huib Ernste betrachtet in seinem englischsprachigen Beitrag die Stadt als Medium und Schauplatz von Begegnungen, um Prozesse der Gentrifizierung als relationalen Prozess zu beschreiben. Basis dafür ist DeLanda’s Assemblage-Theorie. Und Ulrike Gehring setzt sich in ihrer Beschäftigung mit historischen und zeitgenössischen Methoden, Migrationswegen und maritimen Katastrophen (wie Schiffbrüchen) mit der Frage der damit einhergehenden ethischen und politischen Verantwortung auseinander.

Räume und Medien des Wissens werden in diesem Band in unterschiedlichen Fragestellungen und unter ganz verschiedenen Perspektiven betrachtet, keineswegs nur aus ethnologischer. Vielmehr enthält der Band viele Schnittstellen zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Geografie, Kartografie und Geschichte, wie das heute eigentlich üblich sein sollte. Denn weder Räume noch Wissen – deren Produktionen, Zirkulationen und Transformationen – können als Gegenstand von einer einzigen Disziplin gepachtet werden. Der Sammelband hätte noch etwas mehr von dem leider immer üblicher werdenden Charakter des „Sammelsuriums“ verloren, wenn die Beiträge in mehrere Unterkapitel gegliedert worden wären, die man dann auch mit einer kleinen Einführung in Form von Dachartikeln hätte versehen können, um sowohl systematische Punkte wie Leerstellen zu diskutieren. Allein die historische Perspektive, die in den letzten Jahren in der Auseinandersetzung mit Soziologie und Geografie eine eigene Methodologie zur Analyse räumlicher Dimensionen historischer Gesellschaften entwickelt hat, stellt in dem Band eine auffällige Lücke dar. Dabei wären diese Arbeiten gerade auch im Hinblick auf Raumwissen, Kartenwissen, Wissensräume und Wissensmedien durchaus anschlussfähig gewesen. Denn im Grunde unterscheiden sich Geschichtswissenschaft und Ethnologie gar nicht so sehr: In der einen Disziplin liegt „das Andere“ in einer fremden Vergangenheit, in der anderen in einer fremden Kultur oder Region. Beide Disziplinen müssen sich also zuerst über die Medien und spezifischen Kommunikationsbedingungen bewusst werden, bevor sie über Räume, räumliches Wissen und Wissensmedien forschen können. Aber eine solch notwendige Begegnung der Disziplinen ließe sich ja durchaus noch nachholen.