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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Marc-Aeilko Aris/Christoph Kürzeder/Steffen Mensch/Carmen Roll (Hg.)

Verdammte Lust. Kirche. Körper. Kunst. Bd. 1 (Katalog), Bd. 2 (Essays)

(Kataloge und Schriften des Diözesanmuseums für Christliche Kunst des Erzbistums München und Freising 81 u. 82), München 2023, Hirmer, 453 Seiten mit Abbildungen, 215 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-7774-4147-4


Rezensiert von Walter Pötzl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.09.2023

Die Anregung für diese Ausstellung entstand bereits im Jahr 2018, als die Missbrauchsfälle die Kirche erschütterten. Sie geht auf den damaligen Generalvikar der Erzdiözese München und Freising Peter Beer und auf Kardinal Reinhard Marx zurück, der im Grußwort von den Kunstwerken schreibt, dass sie „ganz nahe an der Lebensrealität von uns Menschen sind, in der sich Körperlichkeit und Sexualität in letzter Konsequenz jeder Regulierung und Normierung durch Gesellschaft und Kirche entziehen“.

Vom Team des Diözesanmuseums wurden 170 Objekte zusammengetragen, von denen ein Drittel aus dem Bestand des Museums selbst stammt und meist auch dort gezeigt wird. Die Liste der Leihgeber ist lang, öfter tauchen Museen in Florenz, Genua, Mailand und Neapel auf. Das Augenmerk der Initiatoren fiel nicht nur auf bedeutende Gemälde und Skulpturen, sondern auch auf Gegenstände des religiösen und profanen Alltags wie Votivgaben und Votivtafeln, Türschellen und Tonlampen. Einige archivalische Dokumente verdeutlichen Lebenszusammenhänge wie das Verbot geheimer Eheschließungen, Trauungsregister oder der Liebesbrief eines Schlossverwalters. Der zeitliche Rahmen der Objekte erstreckt sich vom 4. bis zum 2. Jahrhundert vor Christus (Kat. 6.110: Votivgaben-Penes aus dem Heiligtum von Cales) über die römische Zeit ins späte Mittelalter und in die dominante Renaissance- und Barockzeit bis zu Sigmund Freuds „Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ (Kat. 8.148) und einer in Paris 2009 bemalten Fotografie, die den hl. Sebastian meint (Kat. 4.48).

Die Exponate werden in acht Abteilungen präsentiert, von denen sich sieben auf den Körper unter den Aspekten schamlos (d. h. im Paradies vor dem Sündenfall), sündig, sinnlich, rein, verboten, erlaubt und verletzt ausrichten. Die achte Abteilung versucht ein Resümee: „Es bleibt schwierig!“ Hingeführt wird zu den einzelnen Abteilungen mit einem Exposé. Die Bedeutung von Körperlichkeit und Nacktheit erfährt der Besucher beziehungsweise die Besucherin gleich beim Betreten der Ausstellung: Auf einer Großleinwand tanzt das Ballett des Staatstheaters Nürnberg Passagen aus einer Oper von Jean-Philipp Rameau. Im Essay-Band werden die 20 Beiträge in vier Gruppen präsentiert: I. Ist Augustinus an allem schuld? Theologische Beiträge, II. Sexualität als Tatbestand. Historische Beiträge, III. Der begehrte Körper. Kunst- und kulturhistorische Beiträge, IV. Selbstbestimmt? Zeitgenössische Impulse. In diesen Band werden viele Abbildungen aus dem Katalog übernommen, doch kommen auch viele Ergänzungen hinzu.

Wer nicht nur die Kunstwerke bewundern, sondern tiefer in die Thematik der Ausstellung eindringen will, sollte einige Aufsätze aus dem Essay-Band lesen, vor allem den des Münchner Moraltheologen Christof Breitsameter „Verdammte Lust? Ein Beispiel, wie die christliche Theologie die Sünde in die Welt bringt und selbst nicht mehr hinausschaffen kann“ (16–26). Aus dem Fragezeichen des Autors wurde dann im Titel der Ausstellung ein Ausrufezeichen. Der Autor überrascht den theologischen Laien gleich mit seinem ersten Satz: „Es ist innerhalb der Theologiegeschichte ein schier unausrottbares Missverständnis, der Mythos von Adam und Eva beschreibe den Sündenfall des Menschen, weil die beiden von der verbotenen Frucht geschlechtlicher Lust kosten. Dabei ist im biblischen Text weder von Sünde noch von Lust die Rede.“ (18) Augustinus ist sicher an der Entwicklung der Theologiegeschichte nicht „an allem Schuld“, doch seine Persönlichkeit hatte Gewicht.[1] Thomas von Aquin gesteht Breitsameter die „halbherzige, doch immerhin bejahte Sinnlichkeit“ zu (23). Es überrascht, dass der Moraltheologe dem Dichter Giovanni Boccaccio (1313–1375) zugesteht, dass er „die von den Theologen vertretene Herabwürdigung der sinnlichen Liebe vollständig überwindet“ (25). Er begreift das sexuelle Begehren als integralen Bestandteil der Liebe selbst.

Leitbild für die beiden Bände ist das Gemälde von Guillaume de Marcillat (1470–1529) aus dem Jahre 1528/29, das in der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen in Berlin hängt, aus konservatorischen Gründen nicht ausgeliehen werden konnte, aber in einer großen Kopie die Ausstellung eröffnet. Es ist überschrieben mit „Der Disput über die Unbefleckte Empfängnis“. Es disputieren rechts und links von Eva Theologen unterschiedlichen Ranges und insofern entspricht es der theologischen, kontrovers geführten Diskussion des späten Mittelalters und der folgenden Jahrhunderte.[2] Eva hat von der Schlange den Apfel genommen. Das Tier trägt einen männlichen Kopf.[3] Nach der theologischen Meinung erlitt das Menschengeschlecht durch die erste Sünde ein ontisches Defizit, die Erbsünde. Die gesteigerte Marienverehrung des späten Mittelalters ließ die Vorstellung aufkommen, dass Maria, die dann den Erlöser gebären sollte, von dieser Erbsünde unbefleckt sein musste. Das apokryphe Jakobusevangelium zeigte die Lösung auf. Anna empfing Maria bei der Begegnung mit Joachim unter der Goldenen Pforte (Kat. 6.113 r, 6.111, 6.112). Das späte Mittelalter schuf die Figur der Anna selbdritt (Kat. 6.113 l), die, wie aus Gebeten hervorgeht, als Symbol der Unbefleckten Empfängnis begriffen wurde.[4] Die lebensgroße Anna-selbdritt-Figur im Museum hätte gut in die Ausstellung gepasst. Die Barockzeit pflegt ein neues Bild der Unbefleckten Empfängnis. Die jugendliche Maria zertritt der Schlange den Kopf (Kat. 4. 39, 4.40, 5.76). Damit kehrt dieser Komplex zu den Anfängen zurück.

Das Alte Testament kennt zwar mehrere Sexualgesetze, bewertet Sexualität aber keineswegs als negativ (vgl. z. B. die Ehen der Patriarchen oder die subtile Erotik des Hohen Liedes). Jesus begegnet Frauen ganz natürlich (Kat. 4.28: Samariterin bzw. Ehebrecherin) und erscheint nach seiner Auferstehung Maria Magdalena und nicht etwa den Aposteln (Kat. 4.34). Die Entwicklung der Theologie der ersten Jahrhunderte entwickelte sich von den biblischen Positionen weg und geriet dann unter den Einfluss des Manichäismus mit seiner negativen Einstellung zur Sexualität. Die heidnische Antike gestattete ihren Göttinnen und Göttern ein freizügiges Leben, das in der Renaissance und im Barock oft thematisiert wurde (Kat. 3.12–19, 3. 24, 5.64 u. 65, 7. 134 u. 135). Die Künstler des Mittelalters und der Renaissance bewahrten sich ihre Natürlichkeit und gestalteten Szenen situationsgerecht: Adam und Eva sind nackt (Kat. 1.1–5, 2. 6–8), ebenso die von den Alten verfolgte Susanna im Bade (Kat. 7. 137 u. 138) und die Frau des Potifar (Kat. 7.139). Illustrationen der mittelalterlichen Heiligenlegenden bleiben auf diesem Pfad.[5] Eine Maria lactans erregte kein Ärgernis (Kat. 6. 129 u. 130). Ein Weihnachtsbild aus Schloss Tirol, gemalt zu Beginn der 1370er Jahre, zeigt Maria, die gerade dabei ist, das Kind aus der Krippe zu sich ins Wochenbett zu holen, um ihm die Brust zu geben, mit nacktem Oberkörper.[6] Christus ohne Schamtuch am Kreuz ist selten, aber durchaus akzeptiert (Kat. 4.29–31).[7] Der Auferstandene kann nur leicht bekleidet erscheinen (Kat. 4.33 u. 34), wie auch Christus an der Geißelsäule (Kat. 5.84). In einer Vision begegnet Christus dem hl. Martin fast nackt (Kat. 5.77). 

Unter den Heiligen ragen einige heraus, deren Darstellung oft einem Akt gleicht. Dazu bot vor allem Maria Magdalena Anlass. In ihr „vereinen sich [...] die Stereotype von sexuell Sündiger und asketisch Büßender“ (Maria Silvia Proni, Katalog, 147). Manche Darstellungen entziehen sich der Vorstellung, dass sie fromme Andacht befördern könnten (Kat. 4.41–47, 5.71, 7.143). Bei diesen Magdalena-Bildern darf man nicht übersehen, dass die Heilige am häufigsten unter dem Kreuz dem Gläubigen begegnet. Als männliche Aktdarstellung gerät der hl. Sebastian in einen ähnlichen Ruf (Kat. 4. 49–54). Vorangestellt wird dieser Reihe eine bemalte Fotografie von 2009, die den Heiligen „ganz bewusst mit homoerotischem Sex-Appeal“ (Ruth Langenberg, Katalog, 154) zeigt. Seines Pestpatronats wegen steht der hl. Sebastian fast in jeder alten Dorfkirche und wohl kaum jemand denkt an eine Aktdarstellung. Offensichtlich wohl deswegen wurde eine derartige Figur nachträglich aus dem Museum herübergestellt. Dass Nacktdarstellungen grundsätzlich kein Problem, wenn auch keineswegs üblich, waren, belegen die Darstellungen von Johannes dem Täufer (Kat. 4.80 u. 8.146), des hl. Onuphrius (Kat. 4.56 u. 57), der hll. Franziskus (Kat. 5.78) und Hieronymus (Kat. 4.58 u. 58). Ganz anders liegen die Gegebenheiten bei dem bekleideten Antonius Eremita, den nicht nur Dämonen in Versuchung führen wollen, sondern auch nackte Frauen (Kat. 4.55). Vom frühen Mittelalter bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts griffen immer wieder Künstler das Thema auf, bei weitem nicht nur im sakralen Raum.[8] Der unbekümmerte Umgang mit Nacktheit erfuhr eine gewisse Zäsur, als Daniele de Volterra (1509–1566), ein durchaus angesehener Maler und Bildhauer, in kirchlichem Auftrag als anstößig empfundene Stellen in Michelangelos Jüngstem Gericht übermalte und daraufhin als „Hosenmaler“ verspottet wurde. Generationen später war im kirchlichen Raum nicht mehr möglich, was Mittelalter, Renaissance und teilweise noch die Barockzeit als ganz natürlich empfunden hatten.

Der Essay-Band bietet einige Beiträge, die für die Ausstellung kaum Exponate empfehlen können, inhaltlich aber viel zur geschichtlichen Wirklichkeit von Sexualität enthalten. Duane Henderson wertet auf der Grundlage eines DFG-Projekts Akten des Ehegerichts des Bistums Freising aus (82–87). Roland Götz geht auf Grund der Pfarrmatrikel Fällen von Leichtfertigkeit nach, erläutert anhand von Visitationsprotokollen Konkubinate der Geistlichen, aber auch die Moral des Pfarrvolkes und führt Quellen zu Sexualdelikten auf (89–98). Maria Hildebrandt geht den sexuellen Ausschweifungen eines bayerischen Landpfarrers in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nach (111–117). Andreas Tacke beschäftigt sich mit den Konkubinaten geistlicher Fürsten (150–155) und Monica Kurzel-Runtscheiner mit dem römischen Kurtisanenwesen (156–162). Die kleinen, in der Ausstellung präsentierten Kupferstiche (Kat. 2.6–9) werden im Beitrag von Achim Riether durch zahlreiche Beispiele erweitert (180–193). Die Klientel für derartige Erotika rekrutierte sich „aus städtischen, gebildeten, prosperierenden Kreisen“ (182). Insofern gehören sie auch in diesen Komplex. Die kleinen, keine zehn cm hohen Kupferstiche liegen in Vitrinen, ihre vielfachen Vergrößerungen an den Wänden entfremden sie von ihren Gebrauchssituationen als in einem engen Kreis herumzureichende Erotika.

Die Ausstellung schließt mit einer Erstausgabe von Sigmund Freuds „Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ von 1910 (Kat. 8.148). Dieser Schlusspunkt würdigt die Psychoanalyse. Es geht vor allem darum, wie aktiv Leonardo seine homoerotischen Wünsche zum Ausdruck brachte.

Angesichts des Impulses, von dem diese große Ausstellung ihren Ausgang nahm, hätte man als Schlusspunkte auch Themen aus der gegenwärtigen Diskussion wählen können. Das Resümee des Schlussabschnittes „Es bleibt schwierig“ klingt zwar pessimistisch, doch finden sich in der Geschichte durchaus auch positive Ansätze. Der Essay-Band versieht „selbstbestimmte“ Sexualität mit einem Fragezeichen. Ute Leimgruber beschreibt „Verborgene Muster von Weiblichkeit zwischen Religion und Sexualität“ (196–203) und Heike Melzer zeigt Wege zur „Ekstase durch Askese“ (204–211).

Das Team des Freisinger Diözesanmuseums hat ein schwieriges Thema in vielen Komplexen von der Antike her sehr gut aufbereitet. Das wäre wohl in kaum einer anderen Diözese in dieser Exzellenz möglich. Diese Offenheit dürften auch jene respektieren, die der Kirche sonst kritisch gegenüberstehen.

Anmerkungen

[1] Vgl. Manfred Clauss: Ein neuer Gott für die alte Welt. Die Geschichte des frühen Christentums. Berlin 2015, S. 259–275, Kapitel: Glaube und Geschlecht – das Ideal der Keuschheit und das notwenige Übel der Ehe.

[2] Artikel „Unbefleckte Empfängnis“. In: Marienlexikon 6 (1994), Michael Seybold: 1. Dogmatik, S. 519–525, Gregor Martin Lechner: IV. Kunstgeschichte, S. 527–532.

[3] Wolfgang Kemp: Schlange, Schlangen: 3. Die S. m. Menschenkopf. In: Lexikon der christlichen Ikonographie 4 (1972), Sp. 76.

[4] Adolf Reinle u. Elisabeth v. Witzleben: Anna, IV. Ikonographie, 2. A-Selbdritt. In: Marienlexikon 1 (1988), S.159–160.

[5] Vgl. die zahlreichen Bände der von Albert Schramm begründeten Werkreihe „Der Bilderschmuck der Frühdrucke“. Leipzig 1920–1943.

[6] Walter Pötzl: Die Aktivitäten des (heiligen) Joseph im gotischen Weihnachtsbild. Kalendarien, Legenden, mündliche Überlieferungen, Lieder sowie Spiele und ihre Rezeption im Bild. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2014, S. 71–119, Bildteil S. 336, Abb. 4a.

[7] Zu ergänzen: Edgar Harvolk: Der Gekreuzigte ohne Schamtuch, ein Landshuter Kultbild und seine Verehrung. In: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 106 (1980), S. 11–22.

[8] Michael Philipp (Hg.): Schrecken und Lust. Die Versuchung des heiligen Antonius von Hieronymus Bosch bis Max Ernst. München 2008.