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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Alexander Reuter

„De olle Vierfuß har dat tweide Gesicht.“ Erzählkultur um Theodor Caspar A. J. Wreesmann, den „Seher von Friesoythe“

Münster 2022, Waxmann, 212 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4397-6


Rezensiert von Kathrin Pöge-Alder
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.09.2023

In unsicheren Zeitläuften erlangen Menschen mit vorseherischen Fähigkeiten verstärkte Aufmerksamkeit. Christoph Daxelmüller schrieb in der „Enzyklopädie des Märchens“ (Bd. 3, 1981, 723–725), der Glaube, Zukünftiges vorhersagen zu können, erlebe mittels der Parapsychologie in der Gegenwart eine Hochkonjunktur. Gerade während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das sogenannte „zweite Gesicht“ beobachtet und schriftlich sowie, wäre zu ergänzen, durch moderne beziehungsweise soziale Medien immer wieder belebt. Im „zweiten Gesicht“ als Teil der Divination drücken sich sowohl Existenzangst als auch „irdische Daseinsbewältigung“ aus. Die praktische Gestaltung des Lebens stehe im Zentrum, nicht intellektuelle Kenntnis (ebd., 721).

Dieses Interesse spiegelt sich auch anhand der „Erzählungen“ um Caspar A. J. Wreesmann (1855–1941) wider. Im Zentrum des Buches von Alexander Reuter, 1992 am Ort des Buchthemas geboren, steht nicht die Person selbst, die das „zweite Gesicht“ gehabt haben soll. Es geht um das über sie Gesagte und die touristische Vermarktung, also das lange Weiterleben der Voraussagen in der Stadtpolitik. Mithin waren und sind die übermittelten Aussagen handlungsrelevant.

Wreesmann lebte in Friesoythe, einer Stadt mit heute mehr als 22 000 Einwohnern im Landkreis Cloppenburg in Niedersachsen. Mit zehn Jahren war er Vollwaise und wuchs bei Verwandten in der Stadt auf. Er gehört zu einer verzweigten, langansässigen Familie. Bekannt ist, dass er als „Kopiar“ beim Amtsgericht und von 1902 bis 1926 als Stadtschreiber tätig war (46). Schon über die Beschreibung der Person gehen die Meinungen auseinander: Er sei menschenscheu – er sei freundlich und aufgeschlossen gewesen. Bekannt ist, dass er in übergroßen Schuhen in der Stadt zu sehen war und daher wie im Titel des Buches „Vierfuß“ genannt wurde (ebd.) Diese Bezeichnung führen andere auf den Einsatz Wreesmanns in der Dreyfuß-Affäre für den 1906 völlig rehabilitierten Artillerie-Hauptmann zurück (47).

Der unverheiratete und kinderlose Sonderling sei mit weit ausladenden Armen als kleiner, dürrer Mann mit übergroßen Schuhen durch die Stadt gelaufen. Was er als Stadtschreiber an Materialien hinterließ, das ist nicht Gegenstand des Buches, da Alexander Reuter die Archive aufgrund der Schließungen während der Corona-Pandemie nicht nutzte (65, 70). Wreesmanns Wohnraum im Kellergeschoss des Krankenhauses steckte voller Bücher und Schriftstücke. Stets habe er etwas geschrieben. Die zahlreichen Zeitungen und Drucksachen in seinem Raum machten ihn bereits zu einem Außenseiter. Mehr noch wird dies an seinem Verhalten festgemacht und zog die Geschichten nach sich, die in der Stadt bekannt waren und sind. Es wird ihm nachgesagt, dass er nachts durch die Straßen schlurfte. Vor welchem Haus er stehen blieb, dort sei etwas passiert (48). Zu seinen Lebzeiten war der sehr belesene, großzügige und gutmütige Alte kein „Spökenkieker“ (74). Er wurde es durch die Zuweisungen von Aussagen, die nach seinem Tode geäußert wurden.

Zwei Voraussagen mit besonderer Bedeutung wurden dem alten Vierfuß zugeschrieben: Einmal habe er vorausgesagt, dass er das Städtchen Friesoythe im Geiste habe brennen sehen. Vom Krankenhaus, wo er lebte, bis zum Amtsgericht sei freie Sicht gewesen. Die Fluchtrichtung sei nur nach Pehmertange erfolgreich, da könne man mit Pferd und Wagen die weiße Brücke über das Flüsschen Oythe nehmen (95). Die zweite Vorhersage betrifft ein noch immer freies Grundstück in zentraler Lage in der Stadt. Wreesmann habe gesagt, wenn das Grundstück wieder bebaut würde, drohe der Stadt ein Unglück. Dieses Wissen wird auch befolgt (123–133). Es gibt Überlegungen, dies als Teil der touristischen Darbietung der Stadt zu nutzen (128). Allerdings habe Wreesmann sowieso Brände und Hochzeiten vorausgesagt, wie auch den Brand der Kirche, wenn das Haus des Stammsitzes der Wreesmanns geschlossen würde und dass dann ein rothaariger Geistlicher kommen würde und das weiße Kreuz wieder anbringe. Außerdem sagte er den Wiederaufbau der Stadt und der Einsturz der Kirche während eines Hochamtes voraus.

Anhand der dargebotenen Materialien lässt sich der Weg vom vagen Wissen über scheinbar Vorgefallenes über Ereignisse bis hin zu ersten schriftlichen Mitteilungen in Zeitungen, durch eine Heimatschriftstellerin und Erzählungen von Zeitzeugen nachverfolgen. Die Heimatschriftstellerin formte einen konsistenten Text, die Zeitzeugen erzählen vage, was sie erinnern. Anhand der Studie von Helge Gerndt von 2020 „Sagen – Fakt, Fiktion oder Fake“ ordnet Reuter seine Fundstücke ein und kommentiert sie. Für die historische Interpretation zieht er vor allem Monica Black heran, die 2021 „Deutsche Dämonen. Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland“ veröffentlicht hatte. Sie spreche von einer „Apokalyptik innerhalb der deutschen Bevölkerung zum Ende des Zweiten Weltkrieges“, die zusammen kam mit der starken Ideologisierung der Bevölkerung und vom NS-Regime in Aussicht gestellten „Wunderwaffen“, der Verunsicherung im Zusammenhang mit ihrem physischen Untergang und der kryptischen Benennung von Aktionen auf Seiten der Alliierten, wie etwa die „Operation Gomorrah“ (100).

Mit dem Historiker Gisbert Strotdrees („Ich sehe Friesoythe brennen.“ In: Landwirtschaftliches Wochenblatt 12 [2008] 112) weist Alexander Reuter darauf hin, dass die gesamte Vorhersage erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und dem Vorherseher im Nachhinein angedichtet worden sein könnte, denn es gäbe keine Dokumente dazu (102). Allerdings führt Reuter dagegen die zahlreichen Zeitzeugenberichte an, die ihm ein Indiz dafür sind, dass Gerüchte in der Bevölkerung doch bekannt gewesen sind (102). Ist also letztlich doch etwas an der Voraussage? Eine Zeitzeugin hatte erklärt, dass ihre Mutter mit ihr und ihrem Bruder gerade wegen des Wissens um die Voraussage in die gewiesene Richtung geflüchtet sei: Sie seien „nach Pehmertange geflüchtet, ‚weil‘ Wreesmann dies Jahre zuvor angeraten habe. Auch andere Familien seien diesem Rat gefolgt.“ (102, Hervorhebung i. Orig.) Der Autor kommentiert dies: „Natürlich muss dabei auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass eine von Wreesmann geäußerte Mutmaßung oder Überlegung später zum Vorgesicht verklärt worden sein kann.“ (102) Entgegen der Nichtanerkennung von Zeitzeugenaussagen durch die Geschichtswissenschaft, der die Rezensentin in dieser Pauschalität nicht zustimmt, „erscheint mir [Alexander Reuter] die These, die gesamte Erzählung sei erst nach dem Krieg entstanden, in diesem Falle doch zu gewagt“ (103).

Diese Situation ist der Erzählforschung vertraut. Das Abwägen zwischen den unterschiedlichen Quellen zeigt: Erste schriftliche Zeugnisse liegen aus 1948/49 vor (103). Da die Schriften von Wreesmann nicht untersucht sind, sind keine weiteren Erkenntnisse vorhanden. Die positiven Fluchtresultate mit dem Wissen um das Vorgesicht zu erklären, das wird aus der Lektüre ersichtlich, hilft in mehrfacher Hinsicht.

Alexander Reuter wendete zahlreiche sozialwissenschaftliche Methoden an, so Zeitzeugenbefragung, Literaturrecherche und Zeitungs- und Bildauswertung. Allerdings verwundert es, dass er kein Interview transkribierte, sondern lediglich mit Gesprächsnotizen arbeitete (14). Entweder sind die Beiträger wirklich ängstlich, etwas in ein Aufnahmegerät zu sprechen und es gelang dem Autor nicht, die Bedenken zu zerstreuen. Oder die „Angst des Forschers vor dem Feld“ wirkte zu stark.

Auffällig ist der in hohem Maße von Regieanweisungen geprägte Schreibstil des Autors, die meines Erachtens entfallen könnten, da man ja liest, was im nächsten Abschnitt folgt. So aber stört dies den Lesefluss und die eigene Auseinandersetzung (15, 42, 43, 156 und öfter). Eine eigene Wertung lässt der Autor wenig deutlich werden beziehungsweise wägt in oben dargestellter Weise ab (41, 181). Dies ist vielleicht auch seiner Verbundenheit mit dem Forschungsfeld geschuldet, handelt es sich doch um seine Heimatstadt, von der aus er auszog und in Bremen studierte, sich jetzt in Paderborn im Promotionsstudiengang befindet.

Der Band gliedert sich in sieben Kapitel, hat ein Literatur- und Quellenverzeichnis und stellt überdies auch die regionalsprachlichen Quellen mit Übersetzung sowie Sagenfassungen vor, zitiert Befragte und Literatur. Gerade damit erreicht er einen dokumentarischen Wert. Er bietet ein Beispiel der Sagenbildung und ihrer Nachwirkung in einer longue durée und ist zur Kenntnisnahme ausdrücklich empfohlen.