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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Carl Bethke (Hg.)

Migrationen im späten Habsburgerreich

(Studien und Materialien des Ludwig-Uhland-Institutes der Universität Tübingen 51), Tübingen 2020, Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 272 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-947227-06-8


Rezensiert von Karolina Novinšćak Kölker
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.08.2023

Die Geschichte Österreich-Ungarns (1867–1918) ist zu großen Teilen eine Migrationsgeschichte. Der Sammelband „Migrationen im späten Habsburgerreich“, herausgegeben von Carl Bethke, wirft Schlaglichter auf die Besonderheiten der Migrationen des Habsburgerreiches ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Doppelmonarchie. Der 272-seitige Konferenzband mit elf migrationshistorischen Beiträgen gibt Einblicke in aktuelle Forschungsergebnisse. Einleitend stellt der Herausgeber die zentralen Untersuchungsfelder der Autorinnen und Autoren vor: Wanderungen in und zwischen den Regionen, zwischen Religions- und/oder Sprachräumen sowie Migrationen unterschiedlicher sozialer, ethnischer und konfessioneller Gruppen und Eliten vor dem Hintergrund sich wandelnder Migrationsregime. Der erste Beitrag von Andrea Komlosy beschreibt regional bestimmte Migrationsmuster im Kontext struktureller Disparitäten des Habsburgerreiches und unterscheidet dabei Wanderungen von Peripherien in Zentren, von Zentren in Peripherien sowie zwischen Zentren und Peripherien. Eindrücklich werden Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Wanderungen in und zwischen den Regionen vor dem Hintergrund räumlicher Ungleichheiten dargelegt, wobei Ungarn aufgrund der staatlichen Selbständigkeit (1867) nicht in die Analyse einbezogen wird. Es folgen weitere, vertiefende Beiträge zur Beziehung zwischen Zentren und Peripherien, mit unterschiedlichen Forschungsmethoden und geografischen Untersuchungsräumen. Den Urbanisierungsprozess Zagrebs auf Basis zeitgenössischer Statistiken behandelt Ivana Žebec Šilj. Die Autorin zeigt, dass um 1910 hauptsächlich Kleinbäuerinnen und Kleinbauern aus dem umliegenden ländlichen Raum nach Zagreb zuwanderten. Die Mikrostudie von Werner Weissmüller nimmt die Auswanderung der Banater nach North Dakota und ihre Orientierung hin auf Städte in den Blick. William Klinger beschreibt in seinem Beitrag das Monopol der britischen Schifffahrtsgesellschaft in Rijeka/Fiume zur Beförderung der Auswanderinnen und Auswanderer aus Ungarn in überseeische Staaten als Ergebnis der selbstständigen, ungarischen Migrationspolitik und Gesetzgebung. Die berufliche Mobilität imperialer Eliten und von Beamten behandelt Malte Rolf, der einen vergleichenden Blick auf die Mobilität der Repräsentanten des Russischen Reichs wirft. Sein biografischer Forschungszugang macht zum einen die Gestaltungsmöglichkeiten und Spielräume zaristischer Beamter innerhalb des Zarenreiches deutlich und analysiert die Rückwirkung dieser Migrationen in die Peripherie auf die Herrschaftsstruktur. Er stellt fest, dass die Beweglichkeit der höchsten Reichsrepräsentanten des Zarenreiches in die Randgebiete zwar die Zentrumsorientierung der Gesandten des Zaren sicherte, damit aber auch den Gegensatz zwischen der indigenen Bevölkerung und der Petersburger Obrigkeit unterstrich. Tamara Scheer behandelt die Auswirkungen der Arbeitsmigration auf das österreichisch-ungarische Offizierskorps und die benutzten Regimentssprachen. Ihre Auswertung von Memoiren von Offizieren ergab, dass ihnen infolge der Migrationen die spannungsvolle nationale Frage in „jedem Winkel der Donaumonarchie“ drastisch vor Augen geführt wurde (80).

Ein weiteres Untersuchungsfeld bildet der Zusammenhang zwischen Migration und Konfession. Die Ursachen und Folgen der Migrationen deutscher Lutheranerinnen und Lutheraner in und zwischen zwei Peripherien in der Batschka (Ungarn) und in Syrmien (Kroatien-Slawonien) erörtert Márta Fata anhand von Kirchengemeindebildungen. Die Verbindungen der Gemeindemitglieder förderten den Informationsaustausch über neue Ansiedlungs- und Erwerbsmöglichkeiten und verstärkten somit ihre Migrationen. Ljiljana Dobrovšak weist anhand statistischer Analyse nach, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg die Zuwanderung deutschsprachiger Juden und Jüdinnen nach Osijek an Intensität zunahm und im Städtevergleich in Kroatien am stärksten ausgeprägt war; sie erörtert deren Ursachen.

Mit den Menschen bewegten sich auch ihre Ideen. Marija Vulesica thematisiert die Mobilität von Geistlichen aus Mitteleuropa und die Rückwirkungen ihrer Ideen auf die Herkunftsgebiete. Die Verbreitung des Zionismus in die Herkunftsregionen weist sie am Beispiel der in Wien gegründeten Vereine jüdischer Akademikerinnen und Akademiker aus Kroatien nach. Sie konstatiert, dass sich die südslawischen Zionistinnen und Zionisten trotz der gemeinsamen jüdischen Identität bis 1914 als kroatische oder serbische Jüdinnen und Juden betrachteten (212). Mit den Menschen migrieren auch ihre Sprachen. Die Migration der Wörter untersucht Nedad Memić, indem er die Entwicklung des administrativen Wortschatzes in Bosnien-Herzegowina zur Zeit Österreich-Ungarns nachzeichnet. Mit der Okkupation Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn (1878) ziehen über 100 000 österreichische und ungarische Staatsangehörige in diese Region. Ihre Sprache haben sie mit im Gepäck – häufig Deutsch sowie Kroatisch und Serbisch, mit weitreichenden Folgen für den Sprachgebrauch dort. Die Verwaltung und das Militär in Bosnien-Herzegowina sprach zur Zeit der Okkupation vorwiegend Deutsch, während sich trotzdem und zeitgleich Standardisierungsprozesse des einheimischen Idioms vollzogen. Jens-Peter Müller zeichnet die Migration der Roma aus den Donaufürstentümern (ab 1878 Rumänien) in das Königreich Ungarn nach und erörtert die Konfliktlinien beim Aufeinandertreffen mit den fast völlig assimilierten Romungros in Ungarn.

Der Band stellt konzise Einzelstudien und Forschungstrends vor und eröffnet so neue Perspektiven auf die Migrationsgeschichte der heterogenen Bevölkerung Österreich-Ungarns. Besonders gut ausgeleuchtet werden Wanderungen aus dem ländlichen Raum und Binnenmigrationen zwischen Zentren und Randgebieten, die im Vergleich zu den Auswanderungen nach Übersee in der Forschung weniger Beachtung gefunden haben, ebenso wie die Diversität migrierender deutschsprachiger Gruppen und migrationsbedingte sprachliche Assimilationsprozesse innerhalb der heterogenen Sprachlandschaft. Wie der Herausgeber bereits in seiner Einleitung betont: Der Konferenzband kann kein Handbuch sein (27). Der Band ist dank der Präsentation vielfältiger Forschungsperspektiven und Methoden eine Quelle der Inspiration und kann weiteren Forschungen in der europäischen Migrationsforschung als Anregung dienen.