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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Michael Simon (Hg.)

Audiovisionen des Alltags. Quellenwert und mediale Weiternutzung

(Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 20), Münster 2020, Waxmann, 192 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4280-1


Rezensiert von Johannes Müske
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.09.2023

„Audiovisionen des Alltags“ ist die aktuelle Publikation der dgekw-Kommission Film und audiovisuelle Anthropologie überschrieben. Der Titel des Buchs, das dem Thema entsprechend auch zahlreiche Abbildungen enthält, bildet die Klammer für verschiedene Fragen: nach Erschließung und Quellenwert audiovisueller Materialien für wissenschaftliche Fragestellungen, ethischen Aspekten bei der Verwendung in Forschung und Vermittlung sowie Möglichkeiten der audiovisuellen Repräsentation in der ethnografischen Forschung (7), wie Herausgeber Michael Simon (Mainz) einleitend schreibt. Die Beiträge, die sich diesen Fragen mit unterschiedlichen Schwerpunkten widmen, geben en passant einen Überblick über den aktuellen Methoden- und Fachstand im Feld audiovisuelle Anthropologie/Ethnografie.

Medial vermittelte Bilder und Töne sind im Alltag omnipräsent – „Audiovisionen“, wie die Autorinnen und Autoren im vorliegenden Band sie nennen, finden sich allerorten und durchdringen die Lebenswelt. Der Titel des Bandes weckt zunächst Neugier: Was sind „Audiovisionen“? In einem grundlegenden Aufsatz nimmt Torsten Näser (Göttingen) den zunächst durchaus diffus wirkenden Titelbegriff der „Audiovisionen“ genauer in den Blick – seine Stärke liege gerade in seinen „definitorische[n] Unschärfen“ (13): So werde die Vielfalt filmischer und auditiver Bewegtbilder und Töne des Alltags erfasst, die in unterschiedlichen Formaten (z. B. alte Videokassetten, Tonbänder oder zunehmend digitale Datenträger wie Smartphones) und Kontexten (z. B. Privatsammlungen, Online-Videoportale) erscheinen. Doch warum werden, angesichts der Fülle filmischer Alltagsdokumente in Archiven und Privatsammlungen, diese nicht viel öfter in ethnografisch-kulturwissenschaftlichen Filmen als „found footage“ genutzt– sie ließen ja besonders gut Einblicke in eine medial geprägte Gegenwart zu? Die Ursachen hierfür liegen zum einen in großen urheberrechtlichen Herausforderungen, zudem aber auch, wie Näser vermutet, im Fach selbst, das ethnografisches Forschen als Idealbild hat und damit die Nutzung von fremdem Material eher skeptisch betrachtet und zudem auch weiterhin Vorbehalte gegenüber dem kulturwissenschaftlichen Film bestehen.

In den Audiovisionen des Alltags liegen also noch große Potenziale für die ethnografisch-kulturwissenschaftliche Forschung, und worin diese bestehen, wird in den folgenden Fallstudien entwickelt. Drei, als Panel eingereichte, Beiträge aus dem Umfeld des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn behandeln die Nutzung von audiovisuellen Dokumenten für die Museumsarbeit. Eingegangen wird vor allem auf den Wert der Audiovisionen als „Wissensspeicher“ und als „Vermittlungsmedium“. Dagmar Hänel (Bonn) berichtet von einem Projekt zu den historischen Filmbeständen zur Volkskultur in der Region, die hauptsächlich in den 1960er und 1970er Jahren entstanden sind und erörtert insbesondere den Quellenwert und Inwertsetzungspotenziale der Filme (die nach heutigen Maßstäben unter schwierigen methodischen Prämissen entstanden sind). Während zum Beispiel die Hoffnung, historische Handwerkstechniken filmisch zu dokumentieren, sich nicht erfüllte, weil etwa Körperwissen so nicht erfasst werden kann, könne die empirische Nutzung der Materialien für die Feldforschung mit Handwerkerinnen und Handwerkern wichtige Daten liefern und wiederum gut für die Vermittlung genutzt werden. Konkrete Beispiele hierfür im Museumskontext liefern Andrea Graf (Bonn) mit einem Langzeit-Filmprojekt zum Thema Wald und Lisa Maubach (Hagen), die Filme zur genaueren Beschreibung von Objekten und als Anleitung zur Arbeit mit ihnen untersucht. Ein weiteres Beispiel im Museumskontext gibt der schön bebilderte Beitrag von Raphael Thörmer (Kommern) zur Nutzung von audiovisuellen Ego-Dokumenten als Quellen zur Untersuchung ländlichen Bauens und Wohnens (Anlass waren Translozierung und Ausstellung eines Quelle-Fertighauses von 1964 im Freilichtmuseum Kommern im Jahr 2014).

Über einen „Found Footage“-Film als experimentellen Zugang zur Alltagsgeschichte – methodisch und forschungsrepräsentativ – berichten Johanne Lefeldt, Thomas Schneider und Michael Simon (Mainz). Sie hatten bei einem Projekt zum Thema „1968“ ein Gruppengespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt und aufgezeichnet – und in einem zweiten Schritt daraus einen Film gemacht, den sie mit weiteren Filmmaterialien dieser und weiterer Zeitzeugen aus der damaligen Zeit ergänzten, im Dialog mit den Forschungsteilnehmenden. So entstand ein Dokument, das eine wichtige ergänzende Quelle zu den medial vorherrschenden Diskursen rund um „68“ ist und Sichtweisen von Alltagsakteurinnen und -akteuren Raum gibt.

Weitere Beiträge behandeln audiovisuelle Materialien in den sogenannten Sozialen Medien (Christoph Bareither, Tübingen), die mediale Repräsentation von Flucht und Migration und die Einbeziehung Geflüchteter in die Forschung (Gerhard Schönhofer, Eichstätt). Schließlich werden auch in zwei Beiträgen auditive Quellen in der ethnografischen Forschung untersucht: ihre Nutzung für die Repräsentation in entsprechenden – sinnlichen – Formaten (David Johannes Berchem, Bochum) und der Umgang mit der Herausforderung großer digitaler akustischer Datenmengen zu denen „Musical Information Retrieval“-Verfahren den Zugang gewährleisten sollen (Sonja Grulke, Berlin). Gerade die Beiträge von Bareither und Grulke machen deutlich, dass in einer Welt der massenhaften digitalen „Audiovisionen“ auch jenseits der audiovisuellen Anthropologie in den Kulturwissenschaften digitale Auswertungsverfahren und Zugänge immer wichtiger werden (müssen).

„Audiovisionen“ ist ein angenehm knapper Band, der es „in sich hat“ und der die Weiterentwicklungen im Feld in den letzten knapp drei Jahrzehnten gut widerspiegelt. Trotz des etwas schwammigen Buchtitels sind die Beiträge immer wieder innovativ – so werden überzeugende Nutzungen audiovisueller Materialien präsentiert, die über die klassische Befragung als Quelle im Hinblick auf die „Repräsentation“ von Kultur hinausgehen. Besonders spannend sind die Beiträge im methodischen Bereich; audiovisuelle Materialien werden hier genutzt, um Kulturtechniken nicht nur zu dokumentieren, sondern auch um Erzählanreize für Gespräche zu bieten und historische Alltage erforschen zu können, um in musealen Kontexten Vermittlungsarbeit zu leisten und auch wiederum neue Ansätze im ethnografischen Film zu entwickeln. Die Beiträge machen zudem deutlich, dass audiovisuelle Methoden in der Ethnografie hohen Aufwand bedeuten – und dass sich diese Arbeit besonders im Hinblick auf aussagekräftige Feldforschungsdaten und auf den Wissenstransfer lohnt. Ebenso lohnt sich die Lektüre dieses Bandes, und er sei allen Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftlern empfohlen, die sich über aktuelle Forschungsansätze und Projekte im Bereich der audiovisuellen/sensory Anthropologie informieren und mit diesen weiterarbeiten möchten.