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Christine Thiel
New Work. Der mobile Alltag Digitaler Nomaden zwischen Hype und Selbstverwirklichung
(Arbeit und Alltag 21), Frankfurt/New York 2021, Campus, 268 Seiten, ISBN 978-3-593-51466-8
Rezensiert von Katharina Mojescik
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.09.2023
Lange Zeit war vollständig ortsunabhängiges und digitales Arbeiten nur einer kleinen Minderheit von IT-Spezialisten und anderen Wissensarbeiterinnen und -arbeitern vorbehalten. Jedoch sind durch die digitale Transformation und die Plattformökonomie neue Beschäftigungsfelder und somit Einkommensmöglichkeiten entstanden, die als „Nährboden“ für die Entstehung des „digitalen Nomadentums“ fungieren (13). Christine Thiel legt mit ihrer Dissertation erstmalig eine tiefgreifende Analyse dieses Phänomens im deutschsprachigen Raum vor.
In Teil I führt Thiel in die Arbeit ein und definiert digitale Nomaden als „all jene, die ihr Einkommen als Selbstständige, Unternehmer*innen oder Angestellte mittels digitaler Technologien generieren“ oder es künftig wollen, um einen ortsunabhängigen Lebensstil zu führen (13). Während digitales Nomadentum als „mediales Konstrukt“ davon geprägt ist, dass der Lebensstil ein selbstbestimmtes und freies Leben inmitten von paradiesischen Orten verspricht, verfolgt Thiel als Zielsetzung ihrer Arbeit den tatsächlichen „Arbeits- und Lebensstil mobiler Webworker*innen, die der Szene der digitalen Nomad*innen folgen“ (17), zu analysieren. Hierzu stützt sie sich theoretisch vornehmlich auf Michel Foucaults Gouvernementalitätstheorie und Ulrich Bröcklings Sozialfigur des unternehmerischen Selbst (17). Für ihren ethnografischen Zugang war Thiel an die globalen Hotspots der Szene gereist, um dort in Co-Working-Spaces teilnehmend zu beobachten und Interviews zu führen. Ergänzend bezieht sie Online-Quellen wie Blogs ein, um „die Interdependenzen zwischen Online- und Offline-Diskursen im Feld“ (18) herauszuarbeiten. Da die Autorin auf ein Methodenkapitel verzichtet, sind die Rahmenbedingungen ihrer Feldforschung nur punktuell ersichtlich. Der Fokus des Buches liegt auf der Darstellung ihrer Analyse, was ihr, soviel darf schon einmal vorweggenommen werden, überzeugend gelingt. Thiel verdichtet Blogartikel, Beobachtungen und Interviewpassagen in den folgenden Kapiteln plausibel und übersichtlich, um die Strukturen der Szene (Teil II), die „Befreiungsdiskurse“ (Teil III) und den mobilen Arbeits- und Lebensstil (Teil VI) zu analysieren.
In Teil II unterscheidet sie unter Rückgriff auf Roland Hitzlers Szeneverständnis zwischen Ikonen, Szenekern und Publikum. Die Szene der digitalen Nomaden ist charakterisiert durch „starke monetäre Hierarchien“ (22) und folgt „neokapitalistischen Logiken“ (51). So beschreiben die Ikonen nicht nur in Blogs ihren (Arbeits-)Alltag, sondern veranstalten kostenpflichtige Konferenzen und Camps, auf die der Szenekern für Vorträge eingeladen wird. Hier sollen dem zahlenden Szenepublikum die notwendigen Skills und Kontakte vermittelt werden, um erfolgreich als digitale Nomaden zu starten. Die empirische Analyse führt nachvollziehbar und gleichzeitig packend in die Welt des digitalen Nomadentums ein. Es wird deutlich, dass es „die“ digitalen Nomaden gar nicht gibt: Durch ihre reichhaltige ethnografische Analyse gelingt es Thiel unter den Ikonen verschiedene „Denkschulen“ zu identifizieren und die Zugehörigkeit des Szenepublikums je nach Verweildauer in der Szene nachzuzeichnen.
In Teil III stehen die zentralen „Befreiungsdiskurse“ der digitalen Nomaden zu Arbeit, Gesellschaft und Staat im Fokus. Thiel zeichnet diese Diskurse anhand der Diskrepanz zwischen weiterhin persistenten fordistischen Arbeitsstrukturen und postfordistischen Wertvorstellungen nach. Dabei dient das gesellschaftliche Idealbild des Normalarbeitsverhältnisses den digitalen Nomaden als Kontrastfolie zu ihrem eigenen Lebensstil. Die „starren Strukturen“ der abhängigen Beschäftigung werden als Gefängnis und Hamsterrad beschrieben, die weder Sicherheit garantieren noch kreative Entfaltung ermöglichen. Ausweg und somit Ausbruch ist der „Aufbau einer ortsunabhängigen Selbstständigkeit“ (94), welche idealerweise zu einem passiven Einkommen durch skalierbare digitale Güter führen soll. Während die Ikonen diese Geschäftsmodelle durch E-Books, Online-Kurse und Portale für digitale Nomaden erfolgreich umsetzen, zeigen Thiels Ausführungen, dass dies für die meisten digitalen Nomaden nicht nur die Ausnahme, sondern sogar die „klischeehafte digitale Nomaden-Falle“ (108) ist. Obwohl die Versprechungen der Ikonen sich als nicht (oder nur schwer) realisierbar erweisen, halten die von Thiel interviewten Personen dennoch an ihrem gewünschten Lebensstil fest und loten weitere Optionen für sich aus. Neben der Selbstständigkeit ist der Wunsch nach Selbstverwirklichung von zentraler Bedeutung. So werden nicht nur die starren Strukturen der Festanstellung, sondern auch des institutionalisierten Lebens(ver)laufes in Frage gestellt. Thiel beschreibt eine „Abwendung von gesellschaftlich vorgegebenen Zielen zugunsten der eigenen Individualität“ (122). So wird der „nomadische Lebensstil“ als eine erlebte Befreiung der „Normen, Regeln und Bewertungsmaßstäbe der Herkunftsgesellschaft“ (126) gerahmt. Damit geht eine starke Gegenwartsorientierung einher, in der die Selbstverwirklichung nicht auf das Rentenalter, sondern „in das Hier und Jetzt verlagert“ wird (127). Die digitalen Nomaden greifen zur Durchsetzung des Wunsches nach einem selbstbestimmten und erfüllten Leben zwei unterschiedliche Strategien zurück: Erstens entziehen sie sich den sozialen Sicherungssystemen, aber nutzen staatliche Hilfen wie den Gründungszuschuss, zweitens verwenden sie angelehnt an die „globalen Finanzstrategien internationaler Konzerne“ (145) das Konzept der Geoarbitrage, indem sie Steuervorteile und Einkommensgefälle auf globalen Märkten nutzen. Thiel fasst den strategischen Gebrauch des deutschen Sozialsystems einerseits und von globalen Märkten andererseits als „globales Rosinenpicken“ zusammen.
In Teil IV widmet sich Thiel der Ausgestaltung des mobilen Arbeits- und Lebensstils im Alltag der digitalen Nomaden. Dabei treten neue Abhängigkeitsverhältnisse zutage, die im Widerspruch zu den anfänglichen Vorstellungen von grenzenloser Mobilität und Befreiung aus starren Strukturen stehen. Die permanente Mobilität bedeutet vor allem für Szeneneulinge einen hohen Arbeits- und Zeitaufwand und steht damit konträr zur Produktivität. Zudem unterliegt die Mobilität „globalen Grenzregimen“ (154). Die Akteure etablieren folglich im Zeitverlauf Mobilitätsroutinen, die langfristig in einen „multilokalen Lebensstil“ zwischen mehreren festen Orten münden (178). Ebenso lassen sich hinsichtlich der Arbeitspraktiken zunehmend fordistische Routinen als Stabilisatoren beobachten. Der Alltag wird durch „zeitliche und räumliche Begrenzungen von Arbeit und Leben“ (z. B. durch Co-Working-Spaces, feste Arbeitszeiten) strukturiert, was der „Aufrechterhaltung der Produktivität unter instabilen Bedingungen“ (193) dienen soll.
In Teil V zieht Thiel ihr Fazit zu den Interdependenzen zwischen Befreiungsdiskursen und Praktiken der digitalen Nomaden. Die Idealisierung der ortsunabhängigen Selbstständigkeit als Befreiung aus fordistischen Arbeitsformen ist zentrales Verkaufsargument des Szenemarktes des digitalen Nomadentums. Im Gegensatz zum (propagierten) Ideal des völlig freien nomadischen Lebens sind sie bei der Umsetzung mit realen materiellen Zwängen (Geld, Mobilitätsregime) konfrontiert. Zwar determinieren postfordistische Wertvorstellungen der Selbstverwirklichung und Selbstverantwortung ihr strategisches Handeln, jedoch orientieren sie sich stark an globalen Märkten und neokapitalistischen Logiken. Angetrieben von dem Wunsch langfristig Erwerbsarbeit aufs Mindeste zu reduzieren, sind viele digitale Nomaden dazu gezwungen ihr Selbst fast vollständig zu exploitieren, da der Lebensstil zur digitalen Ware wird. Langfristig greifen sie auf fordistische Regulierungspraktiken (wie Arbeitszeit und -ort) zurück, die sie vormals strikt ablehnten. Dabei dienen postfordistische Rhetoriken der Selbstbestimmung statt einer Fremdbestimmung als Legitimation. Abschließend wirft Thiel die Frage auf, ob die mobilen Webworkerinnen und -worker Prototypen des flexiblen Kapitalismus sind. Als privilegierte Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter können sie die Anforderungen strategisch für sich nutzen. Da Selbstverwirklichung die zentrale Handlungsmaxime darstellt, werden Risiken und Unsicherheiten des mobilen Lebensstils und der Selbstständigkeit billigend in Kauf genommen, wenngleich diese Risikobewertung für die breite Masse an Erwerbstätigen diese Kosten als zu hoch bewerten würde.
Thiels Arbeit zeigt eindrucksvoll, welche Paradoxien mit der Transformation von fordistischen zu postfordistischen Gesellschaften einhergehen. Dabei verdeutlicht die reichhaltige Analyse die Interdependenzen zwischen Narrativen und Diskursen und den Praktiken der digitalen Nomaden. Thiels Arbeit fügt sich zudem in weitere arbeitssoziologische Diskurse zu Formen der selbstständigen und/oder digitalen Arbeit ein – sei es zu Plattformarbeit, Freelancertum oder Influencertum. Aber auch über die wissenschaftliche Rezeption hinaus ist Thiels Buch empfehlenswert. Da ortsunabhängiges Arbeiten für viele Beschäftigte durch die Coronapandemie und den damit einhergehenden Digitalisierungsschub erstmals praktisch erfahrbar war, könnte diese Erfahrung in einigen den Wunsch erweckt haben, zumindest zeitweise als digitale Nomaden zu arbeiten und zu leben. Auch für diejenigen lohnt sich die Lektüre des Buches, um nicht in die klassischen Fallen der idealisierten Vorstellung zu tappen.