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Andreas Bässler
Spottgilden, Narrenzünfte und Narrenabteien (1381–1743). Einführung und kommentierte Anthologie
Würzburg 2021, Königshausen & Neumann, 610 Seiten, ISBN 978-3-8260-7381-6
Rezensiert von Werner Mezger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.09.2023
Mit seinem 600 Seiten-Werk bietet Andreas Bässler eine breite Übersicht über das bislang noch nie umfassend in den Blick genommene Spektrum real existierender und fiktiver Narrenkorporationen des französischen, niederländischen und deutschen Sprachraums zwischen 1381 und 1743 samt den mit ihnen in Verbindung stehenden einschlägigen Textgattungen wie grotesken Statuten, Mandaten, Vexierbriefen, Spottpredigten und anderem mehr. Der erste Teil, der ein knappes Drittel des Gesamtwerks ausmacht, gibt nach ein paar kurzen Vorbemerkungen zur Quellensituation eine inhaltliche Einführung, der zweite Teil präsentiert eine umfangreiche Anthologie ausgewählter Texte samt Kommentaren und, soweit es sich um fremdsprachige Texte handelt, mit Übersetzungen.
Dass eine Einführung in ein so komplexes Themenfeld angesichts der Fülle der herangezogenen Zeugnisse und der Vielfalt der Textgenera nur relativ grobe Linien aufzeigen und keine Spezialfragen klären kann, versteht sich von selbst. Umso bewundernswerter ist der Mut, mit dem sich der Verfasser an eine Kategorisierung und Systematisierung der seiner Einschätzung nach historisch fassbaren Fakten des per se schillernden Metiers närrischer Organisationsformen wagt. Gewiss kann man über die vorgeschlagene Einteilung der Narrenkorporationen mit ihren Aktivitäten und der komplementären literarischen Dokumente dazu unterschiedlicher Meinung sein, aber allein schon der Versuch, ordnende Kriterien zu entwickeln, verdient hier Respekt. Mit seinem universalen Zugriff liefert Andreas Bässler eine ungemein breite, durchaus hilfreich vorstrukturierte Materialbasis, die im Unterschied zu den bisher nur isoliert verfügbaren Einzelperspektiven erstmals den vergleichenden Blick aufs große Ganze ermöglicht.
Ein prinzipielles Problem der Forschung ist freilich die in vielen Fällen sehr fragile Überlieferungslage zu den behandelten Phänomenen, deren Anfänge sich trotz manch kühn behauptetem Gründungsdatum häufig in legendären Ursprungsnarrativen verlieren. Hinzu kommt, ebenfalls gegenstandsimmanent, die mangelnde Trennschärfe zwischen Primär- und Sekundärquellen. Zwar hat Andreas Bässler mit bewundernswerter Sorgfalt eine Vielzahl von Primärdokumenten und primärliterarischen Texten identifiziert, ausgewertet und in der Anthologie im originalen Wortlaut bereitgestellt, andererseits aber ist er sich auch der Tatsache bewusst, dass sich zumindest ein Teil der Nachrichten zu dem in vieler Hinsicht bizarren Themenfeld der Narrenorganisationen nur noch aus unentwirrbar ineinander verwobenen Primär- und Sekundärinformationen rekonstruieren lässt und dass es zudem stets historische Brechungen in den Sichtweisen zu berücksichtigen gilt.
Eine Fülle solcher Materialien von nur schwer einzuschätzender dokumentarischer Qualität, an denen jedoch für den französischen Raum kein Weg vorbeiführt, lieferte beispielsweise Jean-Bénigne Lucotte du Tilliot (1661–1750) aus Dijon, dessen Werk „Les Mémoires pour servir à l’histoire de la fête des foux, qui se faisoit autrefois dans plusieurs églises“ (Lausanne/Genf 1741) bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zahlreiche Nachdrucke erlebte. Das deutsche Pendant zu du Tilliot bildete eine Lebensspanne später Karl-Friedrich Flögel (1729–1788) mit seiner „Geschichte des Groteskkomischen. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit“ (Liegnitz/Leipzig 1788), die ebenfalls lang nachwirkte und in einer Überarbeitung und Erweiterung von Friedrich W. Ebeling (1822–1893) 1867 erneut einen breiten Leserkreis erreichte. Bei Flögel gilt es neben grundsätzlicher Quellenskepsis zudem noch zu bedenken, dass seine Kollektaneen zu den historischen Organisationsformen der Narretei und Manifestationen der Unvernunft auf dem Höhepunkt des Zeitalters der Vernunft entstanden – Erstedition im Vorjahr der Französischen Revolution – und dass sie somit nicht von ihrem spezifisch aufklärerischen Erkenntniskontext zu trennen sind.
All diese Überlegungen hat Andreas Bässler umsichtig in sein gewichtiges Opus einbezogen, das sich übrigens an mehrere Wissenschaftsdisziplinen richtet und das er selber an der „Schnittstelle der Forschung von Historikern, Volkskundlern und Literaturwissenschaftlern“ verortet (4). Speziell aus Sicht der Volkskunde, die sich heute lieber als Kulturwissenschaft bezeichnet, sei ganz am Rande angeregt, den im ersten Teil der Arbeit relativ häufig verwendeten Begriff „Brauchtum“ in künftigen Studien besser durch den unverfänglicheren Plural „Bräuche“ zu ersetzen, da der Terminus „Brauchtum“ in einer Linie mit Wortschöpfungen wie „Deutschtum“ und „Volkstum“ steht, die mit Blick auf die deutsche Vergangenheit in der wissenschaftlichen Kommunikation als kontaminiert gelten. Dies nicht etwa als Kritik, sondern lediglich als freundlicher Tipp über die Fachgrenzen hinweg.
Wohl wissend, dass ein so universales Werk sich im Umfang beschränken muss, um nicht ins Uferlose zu geraten, wäre die Berücksichtigung zweier Aspekte vielleicht doch noch wünschenswert gewesen. Zum einen hätte man im Sinne von Herman Pleij etwas deutlicher akzentuieren können, wie schwer es bei manchen Dokumenten zu entscheiden ist, ob sie rein fiktionaler Natur und damit schlicht ein Stück Literatur waren oder ob sie sich auf real existierende närrische Korporationen bezogen. Das Dokument zum „Narrenkappenorden von Jutphaas“, wie Bässler es zu benennen vorschlägt (395–405), ist geradezu ein Paradigma hierfür. Der Text bietet weder einen fassbaren Anhaltspunkt dafür noch ein handfestes Argument dagegen, dass sich das Mandat des Narrenfürsten Markolf auf einen wirklich amtierenden Akteur bezog, während sich beispielsweise von dem 1528 entstandenen Augsburger Narrenteller auf Schloss Ambras mit Sicherheit sagen lässt, dass er die materielle Objektivation einer tatsächlich in Augsburg existierenden Zunft zur Narrenmutter war, die in der Fastnacht ihre Hauptaktivitäten entfaltete, wohl aber auch das Jahr über gesellschaftliche Repräsentationsaufgaben wahrnahm.
Zum anderen wäre im Einführungsteil des Bandes vielleicht noch der Hinweis für Nichthistorikerinnen und -historiker hilfreich gewesen, dass die Hochkonjunktur der närrischen Korporationen und deren temporärer Quasireiche einschließlich ihrer literarischen Parallelen im 15. und 16. Jahrhundert exakt mit derjenigen Epoche zusammenfällt, in der Alternativentwürfe zu bestehenden Gesellschaftsformen intensiv diskutiert wurden oder sich auch tatsächlich realisierten. Erinnert sei hier an philosophische Konzepte wie die „Utopia“ von Thomas Morus (1516), an phantastische oder komische Sozialutopien wie die Idee vom Schlaraffenland, popularisiert durch Sebastian Brant und Hans Sachs oder das Lalenbuch beziehungsweise Schildbürgerbuch (1597/98) bis hin zu vorübergehend sogar Wirklichkeit gewordenen Gegenmodellen zur bestehenden Feudalordnung wie etwa dem Täuferreich des Jan van Leiden in Münster, dem Gottesstaat von Thomas Müntzer in Mühlhausen oder dem Gottesstaat von Johannes Calvin in Genf, der sich vergleichsweise am längsten hielt. Die Narrenreiche, ob nur literarisch beschrieben oder mit lebenden Akteuren über Fastnacht konkret realisiert, lassen sich zweifellos als komplementäre Erscheinung zu den Sozialutopien und alternativen Gesellschaftskonzepten an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit interpretieren, wobei ihr Zusammenbruch am Aschermittwoch wohl nicht von ungefähr ein spektakulärer Teil der Inszenierung, vielleicht sogar deren Höhepunkt war.
Last but not least darf noch ein Desiderat angemahnt werden, ohne Ansprüche an Andreas Bässlers Monumentalwerk zu stellen, die dieses selber nicht erhebt. Obwohl der Verfasser ausdrücklich keine Vollständigkeit anstrebt, scheint ihm eine zentrale Quelle doch entgangen zu sein. Weit erhellender als die Dokumentation der Zeugnisse zum Stockacher Narrengericht mit seiner eher brüchigen Überlieferungslage (374–382) wäre nämlich die Berücksichtigung des Ehrsamen Narrengerichts von Grosselfingen gewesen. Nicht von ungefähr ist dieses neben den kulturellen Ausdrucksformen „Rheinischer Karneval“ und „Schwäbisch-alemannische Fastnacht“ als einziger lokaler deutscher Fastnachtsbrauch seit 2014 ins Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland nach der UNESCO-Konvention eingetragen, handelt es sich doch um die am längsten kontinuierlich bestehende närrische Korporation des deutschen Sprachraums. Basierend auf einer bis heute lebendigen religiösen Bruderschaft, deren Statuten von 1623 im Original erhalten sind, die aber sicher bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, vollzieht sich in Grosselfingen alle paar Jahre ein komplexes Fastnachtspiel mit über dreihundert Akteuren. Die Spielrollen und Handlungsabläufe sind in einem ebenfalls im Original vorhandenen Bruderschaftsbuch des 18. Jahrhunderts genau festgelegt und werden bis in die Gegenwart streng befolgt.
Grosselfingen liefert den lebendigen Beweis dafür, dass närrische Bruderschaften sich nicht nur „an religiöse Korporationen […] anlehnten“, wie Andreas Bässler an anderer Stelle bemerkt (61), sondern dass sie tatsächlich religiöse Organisationen waren und es im Fall Grosselfingen heute noch sind. Auch das von Bässler als substantiell erwähnte Totengedenken durch die närrischen Konfraternitäten (ebd.) ist in Grosselfingen noch in Übung: Sowohl in den Aufführungsjahren des Narrengerichts als auch in den Jahren dazwischen gehört zu den Pflichten der Bruderschaft an Fastnacht der Besuch eines „Seelenamts“ in der Kirche, wo der toten Mitglieder gedacht und somit das „Memento mori“ des Aschermittwochs vorweggenommen wird. Was sich im Ehrsamen Narrengericht ebenfalls nach wie vor realisiert, ist die Errichtung eines närrischen Quasireiches. Für die Dauer des Spiels verwandelt sich Grosselfingen ins „Venezianische Reich“ mit eigener Gerichtsbarkeit, in das nur Einlass erhält, wer sich ausweist und einen Schlagbaum passiert. Und endlich ist das närrische Machtgebilde des Grosselfinger Narrengerichts geradezu das Paradebeispiel einer Sozialutopie: Die in Abschrift erhaltene Stiftungsurkunde von 1605 endet nämlich mit der absurden Verortung und Datierung: „So geschehen Amsterdam et Verona in diesem Jahr, da alles narret war.“ Aus allen räumlichen und zeitlichen Koordinaten herausgenommen, stellt das Narrenreich von Grosselfingen also eine klassische „Ou-Topie“, etwas nicht Verortbares im exakten griechischen Wortsinn dar.
Eine neue Entwicklung in Grosselfingen bedarf ihrer Skurrilität wegen noch der Erwähnung: 2018 wurde der 400 Jahre alten Bruderschaft ein Kulturverein zur Seite gestellt, weil das Finanzamt Balingen dem Narrengericht wegen der Nicht-Beteiligung von Frauen an der Aufführung die Gemeinnützigkeit aberkannt hatte. Da nun der Kulturverein als zweite tragende Säule des Narrengerichts auch weibliche Mitglieder hat, die zwar nach wie vor nicht am Spiel mitwirken, es aber institutionell unterstützen, ist den Forderungen des Finanzamts Balingen Genüge getan und die finanzielle Basis wieder gesichert. Formen der organisierten Vernunft und solche der organisierten Unvernunft scheinen heute mehr denn je reversibel zu sein, weshalb der Rezensent für diesen kleinen Exkurs um Nachsicht bittet.
Das Fehlen des Grosselfinger Narrengerichts in Andreas Bässlers gewaltigem Werk mindert selbstverständlich nicht das Geringste an dessen Qualität. Mit dem in jeder Hinsicht gewichtigen Band liegt der Forschung ein Standardwerk vor, auf dem künftige Studien zu närrischen Korporationen aufbauen können und auf das gewiss dankbar zurückgriffen wird, insbesondere dann, wenn es um Fragen der Kontextualisierung und des Vergleichs geht.