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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Joachim Eibach

Fragile Familien. Ehe und häusliche Lebenswelt in der bürgerlichen Moderne

Berlin 2022, De Gruyter Oldenburg, 288 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-11-074937-3


Rezensiert von Marita Metz-Becker
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.08.2023

Die vorliegende Monografie fokussiert das Thema Familie als Gefühls-, Unterstützungs-, Konflikt- und Überlebensgemeinschaft im langen 19. Jahrhundert. Beginnend mit der Familie des Bauernsohns Ulrich Bräker in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über bürgerliche Ehekonzepte städtischer Eliten bis zu Beispielen sozialen Abstiegs in Kleinbürgertum und Proletariat geht Joachim Eibach der Frage von Verfall oder Resilienz der Familie des 19. Jahrhunderts mit den Methoden der Mikro- und Geschlechtergeschichte nach.

Im Zentrum der Betrachtungen liegen der häusliche Alltag und das „Durcheinander“ (4) hinter dessen Fassaden vor dem Hintergrund der brisanten gesellschaftspolitischen Entwicklung der Zeit. Auf der Basis von Selbstzeugnissen wie Tagebüchern und Briefen analysiert Eibach die Geschichte der Familie von innen heraus. Anhand seiner signifikanten Fallbeispiele versucht er sowohl Transformationsschübe als auch Kontinuitäten von der Aufklärung bis zu den Reformideen um 1900 sowie den häuslichen Alltag in seinen Austauschprozessen mit der Außenwelt zu erfassen. Fakt ist, dass das urbane Bürgertum seit dem 18. Jahrhundert einen spezifischen Habitus herausbildete, der „viel mit der Präsentation von Haus und Familie zu tun hatte“ (20). Die bürgerliche Eheschließung basierte auf Zuneigung beziehungsweise Liebe und war gleichzeitig mit Aspekten der Absicherung und Dauerhaftigkeit verknüpft. Das Problem dabei war allerdings, dass Liebe und Moral fragile Größen sind, auf die in Bezug auf Dauerhaftigkeit nur schwer Verlass ist. Vor diesem Hintergrund fördert die Studie von Joachim Eibach mehrere interessante Ergebnisse zutage:

Bezüglich der Geschlechtscharaktere kann er aufzeigen, dass die vielbeschworene bürgerliche Ansicht, der „Mann [müsse] hinaus ins feindliche Leben – und drinnen walte die züchtige Hausfrau…“ (nach Schiller), nicht stimmte. Anhand seiner Fallbeispiele wird vielmehr deutlich, dass die Frau keineswegs aufs Haus beschränkt und der Mann nicht zwangsläufig außer Haus tätig war. Sowohl im Intellektuellen- als auch im Künstlermilieu arbeiteten beide Partner zu Hause und Häuslichkeit war auch für den Mann ein wichtiger Wert. Dies galt indes nicht für die proletarische Familie, in der beide aushäusig tätig sein mussten, wobei der alltägliche Haushaltsstress aber meist an der Frau hängenblieb, ganz gleich, in welchem der untersuchten Milieus. Besonders negativ wirkte sich dies auf die Erwerbsarbeit leistenden Frauen aus der Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum aus.

Was aber stabilisierte das so oft totgesagte bürgerliche Familienmodell immer wieder? Die Untersuchung kann hier die identitätsstiftende Bedeutung „kleiner Rituale“ ausmachen, wie gemeinsame Mahlzeiten, Spaziergänge und Feste wie Weihnachten und Geburtstage. Der bürgerliche Habitus zeigt sich ferner in Tischsitten, Kommunikationsstilen und Literaturkompetenz. Für die Arbeiterfamilie spielen diese Fähigkeiten ebenfalls eine Rolle, wie an der Lebensgeschichte der Fabrikarbeiterin Adelheid Popp deutlich wird, die sich politisierte und als Autodidaktin sowohl eine sozialistische Zeitschrift als auch eine Autobiografie herausgab. Zu ihren schönsten Stunden zählten diejenigen, schrieb sie, in denen sie sich mit einem Buch zurückziehen konnte.

Was die bürgerliche Familie ferner auszeichnete, war der Spagat zwischen Privatheit und Offenheit. Eine ausgeprägten Besuchs- und Geselligkeitskultur ersetzte die nachbarschaftliche Interaktion, wie sie noch für die Frühe Neuzeit wichtig gewesen war. Für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts galt indes als Grundidee die freie Assoziation sich austauschender Bürger, zu denen auch die Frauen gehörten.

Das spannende Buch gibt Einblicke in den familiären Alltag unterschiedlicher Gesellschaftsschichten, wobei auch so pikante Dinge, wie etwa, dass die Ehe von Modersohn-Becker an der zeitweisen Impotenz des Ehemannes zu scheitern drohte oder dass sich die Hamburger Eheleute Beneke außereheliche Beziehungen leisteten, nicht verschwiegen werden. Interessant ist auch, dass das zeitgenössische Geschlechtermodell auf dem Prüfstein stand und Konzepte entworfen wurden, bei denen der starke Mann empfindsam und seine Frau stark sein durfte. Freilich trifft dies nur für das städtische Patriziat zu; in den Unterschichten hingegen spielte körperliche Gewalt seitens des „starken“ Mannes, oft hervorgerufen durch Alkoholexzesse, keine geringe Rolle.

Nach Eibach ergibt sich zusammenfassend nach Sichtung all der verschiedenen Puzzleteile eine eigenständige Epoche der bürgerlichen Familiengeschichte: Die der offenen Häuslichkeit. Seine These lässt sich bei der Lektüre des Bandes im Wesentlichen nachvollziehen, mit der Ausnahme jedoch, dass für das kleinbürgerlich-proletarische Milieu andere Maßstäbe anzulegen wären. Hier wurde weder eine Geselligkeitskultur unter Einschluss der Frauen praktiziert noch Häuslichkeit gelebt, schon allein deshalb nicht, weil die räumlich-materiellen Voraussetzungen fehlten. Eine mehrköpfige Familie in einer schmutzigen Einraumwohnung, die noch dazu Schlafburschen aufnehmen musste, hatte andere Sorgen als die freie Assoziation mündiger Bürger.

So bleibt bei Joachim Eibach die drängende Frage offen, warum das bürgerliche Familienmodell auch für die Unterschichten so wirkmächtig und leitbildgebend war, obgleich sie es nicht umsetzen konnten. Marx und Engels forderten angesichts der Lage der arbeitenden Klassen im Kommunistischen Manifest 1848 lautstark „die Aufhebung der Familie“ vor dem Hintergrund der elenden Verhältnisse, in denen sie sich befand. Doch das bürgerliche Familienkonzept erwies sich als erstaunlich widerstandsfähig, möglicherweise gerade aufgrund seiner Fragilität. „Fragile Familien haben ihren eigenen Rhythmus“, stellt Eibach am Ende des Buches fest, mit dem er die kulturhistorische Familienforschung zweifellos bereichert hat.