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Stefan Krankenhagen

All these things. Eine andere Geschichte der Popkultur

Berlin 2021, J. B. Metzler, XIV, 381 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-476-05829-4


Rezensiert von Kaspar Maase
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.09.2023

Wie bespricht man angemessen ein Buch, das im Wesentlichen aus sehr diversen „Produktgenealogien“ und deren kulturanalytischer Deutung besteht? Ein Buch, das nicht auf die systematische Begründung von Thesen ausgerichtet ist, dessen Qualität vielmehr in der erzählerischen Eleganz weit ausgreifender Interpretationen liegt und dessen geradezu aphoristisch prägnante Formulierungen den Rezensenten immer wieder entzückt haben? – Hier ist mein Versuch.

Manche wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren können analytische Einsichten und Erklärungen von Zusammenhängen so ausdrücken, dass sich beim Lesen die Freude über Erkenntnisse verbindet, ja vervielfacht mit dem Vergnügen an Treffsicherheit und Leichtigkeit der Formulierungen. Stefan Krankenhagens „anderer Geschichte der Popkultur“ gelingt dies über weite Strecken.

Der Band ist klar aufgebaut. Ein einleitendes Kapitel „Über populäre Dinge“ liefert definitorische und konzeptionelle Koordinaten für die folgenden Erkundungen im Feld der Sachkultur und der sich dynamisch entwickelnden Popkultur. Den Hauptteil bilden vierzehn Kapitel zu einzelnen „Dingen“; sie reichen vom Skalp eines indigenen Kriegers, den der Armeekundschafter und Showman Bill Cody / Buffalo Bill erbeutete und inszenierte, bis zur dinglich ausgestatteten Spielwelt von Pokémon GO. Historisch reichen die Beispiele von 1876 bis 2016 mit einem Schwerpunkt auf den USA und Westeuropa.

Jedes Kapitel schildert zunächst plastisch und anekdotisch die Geschichte des jeweiligen „Dings“ sowie seine Vermarktung, Medialisierung und gesellschaftliche Thematisierung, die es populär machten. Behandelt werden zwischen Skalp und Pokémon Kaugummis, ein Gewehr (Karl Mays), Scrapbooks, Diskokugeln, Bananen, Nylonstrümpfe, Fernbedienungen, Suppendosen (Warhols), Brillen (Elton Johns), ein Handschuh (Michael Jacksons), Smileys und Emojis, Selfiesticks. „All these things“ geben Anlass, sie kulturhistorisch und hermeneutisch, soziologisch und alltagsanalytisch einzuordnen und derart ihre Bedeutungen im Alltag herauszuarbeiten. Damit wird die Vielfalt an Dimensionen und Nutzungsweisen von Populärkultur veranschaulicht; aus ihren historisch und kontextuell sich verändernden Formen leuchtet der Autor wesentliche Züge des Popkulturellen heraus.

In den „Ding“-Kapiteln geht es, fern von schematischen Definitionen, bunt zu. Krankenhagen ist weit belesen und hat keine Scheu vor ausgreifenden Deutungen. Der wiederkehrende Bezug auf einige analytische Grundlinien, oft knackig formuliert, sorgt dafür, dass mit jedem „Ding“ die Welt der Popkultur zauberhafter und unser Verständnis differenzierter wird. Zugleich gewinnen abstrakte Bestimmungen wie „Ambivalenz“ und „Selbstreferenzialität“ so evident an Substanz und Überzeugungskraft.

Ein Beispiel ist der mit silbernen Swarowski-Steinen besetzte weiße Handschuh, den Michael Jackson bei seinem Auftritt im Civic Auditorium von Pasadena am 25. März 1983 trug. Detailliert wird beschrieben, wie der Sänger das Accessoire in seiner Performance einsetzte – vor etwa 50 Millionen Fernsehzuschauerinnen und -zuschauern. Krankenhagen postuliert, was für viele seiner Beispiele gilt: Die „Aura Populärer Dinge [kann] nicht von der Objekt-Seite verstanden werden, sondern muss aus dem Blick der Vielen auf den Gegenstand rekonstruiert werden“ (272). Zur Rekonstruktion dieses „Blicks“ zieht der Autor die Ikonografie des einzelnen (!) Handschuhs in der englischen Porträtmalerei heran und geht ausführlich auf die Geschichte weißer und schwarzer Massenpublika in den USA ein. Dabei fokussiert er „die historische Ambivalenz der Populären Kultur wie sie rassistische Stereotype gleichzeitig dekonstruiert und fortschreibt“ (281), positionierte sich doch Michael Jackson unverkennbar auch in der Tradition der amerikanischen Minstrel Shows. Krankenhagen akzentuiert die Mehrdeutigkeit dieses außerordentlich einflussreichen Unterhaltungsformats: „Durch Minstrel wurde der Schwarze Körper nicht mehr nur abschätzig, sondern auch bewundernd betrachtet“ – doch es blieb „ein rassistisches Spiel von Weißen für Weiße“ (283).

Aus dessen Bannkreis, so der Autor, konnte Michael Jackson nicht willkürlich ausbrechen. Doch verschob der Sänger die Aufmerksamkeit von der Maske des Blackfacing auf den Handschuh mit seinem royalen Glanz. Krankenhagen bilanziert mit einem jener Merksätze, die sein Grundthema orchestrieren: „Das zweideutige Spiel zwischen Schwarzem und Weißem Körper als integraler Teil der US-amerikanischen Unterhaltungskultur kann man nicht überwinden und nicht beenden, nur klug oder weniger klug weiterspielen.“ (285)

Ganz anders das Kapitel zu Smileys/Emojis mit dem Untertitel „Die Droge Kommunikation“. Zunächst wird die Entwicklung vom Gute-Laune-Anstecker der 1970er Jahre zum digitalen Repertoire der Emojis skizziert und in die großen Linien der Massenkulturgeschichte eingeordnet: „Es ist eine Geschichte der technischen Standardisierung bei gleichzeitiger kultureller und ästhetischer Ausdifferenzierung, eine Popularisierung durch ökonomische Verfügbarkeit sowie ein spielerischer Umgang mit Differenz: Emojis reihen sich ein in die lange Tradition populärer Bild-Text-Formate, die von den Illustrationen der Groschenhefte im 19. Jahrhundert, über die Comics des frühen 20. Jahrhunderts bis zu den Memes der Gegenwart reicht. Das immer wieder neu auszubalancierende Verhältnis zwischen textlichen und bildlichen Informationen produziert Unterhaltung.“ (293) Die heute zur Verfügung stehende Überfülle an Emojis lässt eine Mehrdeutigkeit ihrer Botschaft und Räume der Wahl entstehen, mit denen Nutzerinnen und Nutzer kreativ umgehen. Kommunikation schafft Spielraum – Unterhaltungsraum. Und damit einen Raum, in dem Sender wie Empfänger ästhetische Praktiken entfalten und ästhetische Kompetenzen anwenden (304–305).

Alle „Ding“-Artikel nehmen Stichworte auf und veranschaulichen theoretische Konzepte, die in der Einleitung knapp skizziert wurden. Den analytischen Rahmen für „Popkultur“ liefert Michael Makropoulosʼ „Theorie der Massenkultur“ von 2008, aus der Krankenhagen vor allem die Stichworte „Überfluss“ und „Kontingenz“ aufgreift. „Populäre Dinge sind […] immer en masse vorhanden, sie künden von einer Überflussgesellschaft.“ (23) Das ist weder kultur- noch konsumkritisch akzentuiert, doch sind beim „Überfluss“ stets Anführungszeichen mitzudenken: Gemeint ist die massenhafte, mit ihrer Vielzahl teilweise überfordernde Verfügbarkeit von Dingen, die Ungleichheit, Privilegien und Mangel keineswegs ausschließt. Doch führt die alltägliche, scheinbar unbegrenzte Menge der Optionen im globalen Norden zu einer grundlegenden Erfahrung der Kontingenz: In der modernen Massenkultur könnte alles, auch in unserem Leben, anders sein, als es ist. Diese Kontingenz werde positiv bewertet, als Möglichkeitsoffenheit und Grundelement von Freiheit. Prägnant heißt es: „Modern ist, etwas zu begehren, was man nicht haben kann, aber haben könnte.“ (150–151)

Populärkultur und, aus ihr herauswachsend, Popkultur stellten wesentliche Mittel dar, Überfluss zur Gestaltung des eigenen Selbst zu nutzen – indem sie ihn spielerisch in „Unterhaltung als ein spezifisches Funktionssystem moderner Gesellschaften“ (6) übertragen. Im Anschluss an die einschlägigen Arbeiten Hans-Otto Hügels wird Unterhaltung als Spiel verstanden, als Vereinbarung, Phänomene in der Schwebe von Ernst und Unernst zu halten und zu genießen. Im Unterhaltungsmodus ist alles echt und unecht, Realität und inszenierte Fiktion zugleich, wie etwa die Aufführungen im professionellen Wrestling. Jedes Kleidungsstück bedeckt, wärmt usw. – und ist zugleich Teil des unendlichen Spiels der Moden und der Blicke und damit Teil der Populär- oder Popkultur.

Krankenhagen folgt der dominierenden Lesart, den Aufstieg der Populärkultur um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnen zu lassen; rund 100 Jahre später erwachse daraus die Popkultur, und beide seien nicht wirklich scharf zu trennen (10). Doch sei Popkultur durch ihre ausgeprägte „Selbstreferentialität“ gekennzeichnet, „die nicht immer, aber doch dominant als ironischer und/oder subversiver Gestus auftritt“ (11). Reflektiert und ausgestellt wird so ihre unaufhebbare Ambivalenz; „was die Popkultur in ihren wirkungsmächtigen Momenten bis heute ausmacht: auf konforme Weise dagegen zu sein“ (227). Sie „möchte die Massenkultur immer gleichzeitig bedienen und kritisieren, sie möchte high und low zugleich sein“ (229). Dabei setzt sie problematische Stereotype ein, die sie „gleichzeitig dekonstruiert und fortschreibt“ (281).

Anschauliche Beispiele liefert die Super-Serie „Game of Thrones“. Sie bedient sich gängiger Mittel zur Zuschauerbindung, und zugleich mit der Steigerung von Sex und Gewalt werden Erwartungen an Figuren und Figurenentwicklung systematisch enttäuscht, geradezu demonstrativ verweigert. GoT bricht und bedient Konventionen gleichermaßen; so bleibe „den Zuschauerinnen […] gar nichts anderes übrig, als sowohl die dramaturgischen Bedingungen der Serie als auch die eigenen Erwartungen an das Populäre zu hinterfragen“ (232). Solche Thesen sind unmittelbar anschlussfähig an die empirisch-kulturwissenschaftliche Diskussion über Popkultur, die vor Kurzem in Heft 2/2022 des Schweizerischen Archivs für Volkskunde eröffnet wurde.

Die „andere Geschichte der Popkultur“ ist nicht zur Prüfungsvorbereitung gedacht. Nach der Lektüre kann man Popkultur immer noch nicht eindeutig von Populärkultur, POP etc. abgrenzen. Man kann eher lernen, dass definitorische Fragestellungen nur begrenzt zur empirisch-kulturwissenschaftlichen Durchdringung der Phänomene beitragen. Und man hat mit außerordentlichem Lese- und Denkvergnügen sehr viel davon erfahren, was Popkultur um- und antreibt und auf welche Weise sie zu einer der weltverändernden Kräfte des 20. und 21. Jahrhunderts werden konnte.