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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Daniel Fischer

Stadtbürgerlicher Eigensinn in der DDR? DDR-Stadtjubiläen zwischen parteipolitischer Intention und kommunaler Selbstdarstellung

(Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 68), Leipzig 2022, Leipziger Universitätsverlag, 379 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-96023-479-1


Rezensiert von Andreas Ludwig
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.08.2023

Der Titel dieser auf Grundlage einer Dissertation an der TU Dresden publizierten Arbeit formuliert eine Dichotomie: hier Staat dort Stadt. Verwiesen wird damit indirekt auf ältere Publikationen, etwa die Untersuchungen von Adelheid von Saldern, Lu Seegers, Elfie Rembold und Alice von Plato im Rahmen eines Förderschwerpunkts der VolkswagenStiftung. Die Arbeit geht jedoch weit über diese letztlich machtpolitischen Auseinandersetzungen und Aushandlungen hinaus, indem die Stadt als Ort einer historischen, kulturellen, materialisierten und vor allem temporalen Sinnproduktion verstanden wird.

Daniel Fischer bezieht sich dabei auf unterschiedliche Theorieangebote, die These der durchherrschten Gesellschaft (Jürgen Kocka), des Eigensinns in der Diktatur (Thomas Lindenberger), der Eigenlogik der Städte (Martina Löw), der Bürgerlichkeit (Manfred Hettling) sowie der Produktion des Raums (Henri Lefebvre). Auf sie wird fallweise bei der Interpretation der Stadtjubiläen sächsischer Städte zurückgegriffen, die den empirischen Kern des Buchs ausmachen. Untersucht werden Dresden, Leipzig und Chemnitz/Karl-Marx-Stadt, Freiberg, Zittau, Altenburg und andere, eine Auswahl aus den 347 Stadtjubiläen, die in 291 Städten in der DDR insgesamt stattfanden. Dabei wird eine zeitliche Spanne von den 1950er bis in die 1980er Jahre in den Blick genommen und damit eine Periodisierung erarbeitet. Während in den 1950er Jahren Stadtjubiläen noch auf den Traditionsbeständen des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufbauten, waren die 1960er Jahre von einer ideologischen Durchdringung unter der Kontrolle der SED und einer starken Betonung der sozialistischen Gegenwart geprägt. Ab den 1970er Jahren zeigte sich unter dem Einfluss der Diskussionen um „Tradition und Erbe“ dagegen eine teilweise Rückkehr des Historischen in die inhaltliche Ausgestaltung der Jubiläumsfeierlichkeiten, die dennoch, wie Fischer hervorhebt, weiterhin eine Dominanz der Gegenwartsgeschichte seit 1945 erzwang.

Genauer in den Blick genommen werden die politischen Aushandlungsprozesse um die inhaltliche Ausgestaltung der Jubiläumsfeierlichkeiten, die hierbei und bei den Feiern selbst involvierten Akteure sowie die Materialisierungen der jeweiligen Jubiläen. Es trafen lokale Vorstellungen über die Stadtgeschichte als Ereignisabfolge sowie eine generelle Charakterisierung der städtischen Besonderheit(en) auf der einen Seite auf eine politische Priorisierung andererseits, vertreten durch städtische Eliten wie die Stadtverordneten, die Reste des städtischen Bürgertums, den Kulturbund, die Stadtarchivare und in den 1950er Jahren noch die Kirche, aber auch einfache Stadtbewohner auf der einen, die SED und die übergeordneten staatlichen Instanzen auf der anderen Seite. Fischer zeichnet solche Auseinandersetzungen an verschiedenen Beispielen detailliert nach, so unter anderem die Diskussion um das Plakat zur Festwoche anlässlich der 750-Jahrfeier Dresdens 1956, in denen es um das visuelle Verhältnis von historischer und aktueller Stadt ging. Paradigmatisch waren die Debatten auch für die Akzentuierungen der städtischen Selbstcharakterisierung als Kunststadt, Stadt der Wissenschaften oder sozialistische Stadt. Diese Auseinandersetzungen fanden nicht nur in Dresden, sondern auch an anderen Orten statt. Fischer analysiert in diesem Zusammenhang das Beispiel der 800-Jahrfeier des 1953 in Karl-Marx-Stadt umbenannten Chemnitz im Jahr 1965. Dort hatte das Narrativ des Neuen absoluten Vorrang vor der älteren Stadtgeschichte, wie es sich ähnlich auch anlässlich der 800-Jahrfeier Leipzigs 1968 zeigte.

Systematisch werden die einzelnen Komponenten untersucht, die Teil eines Stadtjubiläums waren und die als „Formanten des Stadtraumes“ (133) bezeichnet werden. Neben dem Festzug als Höhepunkt, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist, kommen Festzeitungen, Festschriften und Vorträge als lokalgeschichtliche Komponenten in den Blick. Ebenso wird Jubiläumssouvenirs wie Postkarten, Anstecknadeln und sonstigen Devotionalien Aufmerksamkeit geschenkt, von denen in Karl-Marx-Stadt zur 800-Jahrfeier allein 49 Varianten produziert wurden. Visualisiert und präsentiert werden sollte allerdings nicht die alte Stadt, sondern ein immer wieder neu zu verhandelndes Verhältnis von Alt und Neu. Die Ausschmückung der Stadt, ihrer Hausfassaden und Schaufenster, die Pflege von Grünanlagen und die erwartete Bürgerbeteiligung bis in die Wohnquartiere hinein zeigen das Stadtjubiläum als kommunale, die Massenorganisationen einbeziehende Organisationsleistung und vergemeinschaftende bürgerschaftliche Initiative. Auch wenn Fischer wiederholt Mobilisierungsdefizite und unterschiedliche Meinungen über die darzustellenden (stadt)historischen Entwicklungsschwerpunkte thematisiert, bleibt doch der Eindruck, dass das Stadtjubiläum als gemeinschaftliche Aufgabe begriffen wurde, dessen Charakter als kommunaler Höhepunkt unbestritten war. Ob sich diese Herstellung von Zugehörigkeit immer auch in den dargestellten Inhalten wiederfand, wird zurecht bezweifelt, aber der Vergemeinschaftungseffekt scheint unbestreitbar und auch ein allgemeines Verständnis über die zu erwartenden Festelemente. Abweichungen hat es, bis auf die 750-Jahrfeier in Ost-Berlin als Staats- und Hauptstadtfest (und obwohl dort die Lokalgeschichte eine erhebliche Rolle spielte, auf die Fischer allerdings nicht eingeht), anscheinend nicht gegeben.

Die in den 1960er Jahren vorrangige Politisierung der Stadtjubiläen traf auf eine skeptische bis ablehnende Stadtbevölkerung, wie Fischer anhand von die Feierlichkeiten störenden Vorkommnissen berichtet. Zerstörungen, mangelnde Beteiligung an der Festvorbereitung und das Verlassen des Festumzugs deuten auf eine Distanz von Teilen der Stadtbevölkerung zu den Festaktivitäten hin. Untermauert wird dies durch nachträgliche Auswertungen durch die Organisatoren sowie Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit, die von Fischer ausführlich zitiert werden. Gerade diese Hinweise auf Störungen aller Art beinhalten jedoch ein Parallelnarrativ, das Konfliktlinien ganz anderer Art zeigt. So strömten 1976 sogenannte „Tramper“ nach Altenburg, um die dortige 1000-Jahrfeier zu besuchen, angezogen vom Ereignischarakter, durch das Festprogramm und möglicherweise auch durch die gute Versorgungslage zu diesem Anlass. Berichtet wird in diesem Zusammenhang vor allem vom Unmut der örtlichen Bevölkerung, weil diese Besucher nicht in das schmuck gemachte Städtchen passten. Leider wird das Beispiel nicht zum Anlass genommen, die jeweiligen Erwartungshorizonte genauer auszuleuchten, die sich offensichtlich auf andere Themen als die Ortsgeschichte allein richteten. Die Bedeutung der „Sonderversorgung“, aber auch habitueller Anpassungsdruck wären Themen, die die Mikrogeschichte der Feierlichkeiten zu einer exemplarischen Gesellschaftsgeschichte erweitert hätten.

Weitere Kerne der Analyse bilden die zum Stadtjubiläum obligatorisch zugehörigen Festumzüge, eine im 19. Jahrhundert auf die städtische Selbstrepräsentation umgedeutete Form der Feierlichkeit, für die eine Beteiligung der Bevölkerung bei der Vorbereitung und als Publikum notwendig war. Beides untersucht Fischer an mehreren Beispielen, wobei aufschlussreich ist, dass die Stadtgeschichte in Form einer chronologischen wie inhaltlichen Vollständigkeit den örtlichen Erwartungshorizont bildete, wogegen staatliche Instanzen und die SED eine selektive Vorgehensweise durchzusetzen suchten. Fischer analysiert die daraus resultierenden Konflikte unter dem Gesichtspunkt der Durchherrschung und als sozialistische Aneignungsbemühungen urbaner Traditionsbestände“. Ergebnis war, wie zu erwarten, eine Gemengelage von mangelnder oder unvollständiger Durchherrschung und teils erfolgreichem Eigensinn. Daraus „Rückschlüsse auf die Durchherrschbarkeit städtischer Gesellschaften“ (293) zu ziehen, wie resümiert wird, scheint etwas weit gegriffen, denn bei den jeweiligen Jubiläumsfeierlichkeiten handelt es sich um temporäre Ereignisse, die aus der longue durée der städtischen Entwicklung herausragen. Fischer erwähnt in diesem Zusammenhang den in der DDR praktizierten Städtebau, geht aber der Ereignishaftigkeit als besonderer, temporär begrenzter Situation nur punktuell nach. Problematisch erscheint dies vor dem Hintergrund der Produktion des Raums nach Henri Lefebvre als theoretischem Rahmen (neben anderen) für die Untersuchung. Lefebvre meint damit ja nicht eine temporäre Bespielung, sondern einen dauerhaften Prozess konfligierender Ansprüche, Inanspruchnahmen, baulicher und symbolischer Manifestationen. Im Hinblick auf diesen weiteren Horizont wäre zu überprüfen, ob die Jubiläumsfeierlichkeiten längerfristige Auswirkungen hatten. Auch die These der Durchherrschung als strukturelle Gewalt scheint am Beispiel von temporären Feierlichkeiten vor allem von symbolischer Relevanz, wenn auch zu bedenken ist, dass solche Ereignisse auch als Manifestation des gegenseitigen Einverständnisses gedeutet werden können, wie Rainer Gries am Beispiel der Maifeiertage und „Republikgeburtstage“ herausgearbeitet hat. Es wäre also wiederum nach der Dauerhaftigkeit der Arrangements zu fragen.

Ungeachtet dieser kritischen Einwände ermöglicht das Buch detaillierte und aufschlussreiche Einblicke in die innere Verfasstheit von Städten in der DDR, die sich anlässlich von Jubiläumsfeierlichkeiten anhand von kulturellen und mentalen Überschüssen festmachen lässt.