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Katharina Wolff
Die Theorie der Seuche. Krankheitskonzepte und Pestbewältigung im Mittelalter
Stuttgart 2021, Franz Steiner, 445 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-515-12969-5
Rezensiert von Bernhard Lübbers
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.09.2023
Über welche Konzepte verfügten die Menschen des Spätmittelalters im Kampf gegen die Pest, die seit ihrem europaweiten Auftreten 1347 immer wieder ausbrach? Welche Methoden der Pestprophylaxe und -therapie kamen zur Anwendung? Und wie wurden diese Konzepte in den drei süddeutschen Städten Nürnberg, Augsburg und München konkret umgesetzt? Diese Fragen stehen im Zentrum von Katharina Wolffs Studie, die, von Jan Keupp betreut, im Sommersemester 2019 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen wurde. Mit ihrer Arbeit setzt Wolff einen gänzlich anderen Akzent als die überwiegende Zahl der bisherigen Forschungen, welche sich mit dem Auftreten des „Schwarzen Todes“ befassen. Bislang überwog hier ein eher deskriptiver Ansatz.
Zunächst umreißt die Autorin ihr Thema und formuliert ihre Fragestellungen (11–32). Es folgt ein Abschnitt über „historische Loimologie“, also die Seuchenkonzepte in der Geschichte (33–87). Sie widmet sich dabei auch der Terminologie: Pest hieß zuerst einmal „eine schwere Krankheit, die massenhaft auftrat“ (33). Erst später wurde daraus die Krankheit, welche wir heute als Pest bezeichnen. Krankheit rufe zudem stets „den Wunsch nach Erklärung hervor“, zitiert Wolff den Medizinhistoriker Michael Stolberg (Homo patiens, 2003, 49). Eines der häufigsten Modelle, um die Ursachen der Pest zu beschreiben, war die Miasmentheorie (von altgriechisch μίασμα, míasma = Verunreinigung). Dahinter stand die Überlegung, dass schlechte Dünste oder vergiftete Luft den Grund für den Ausbruch der Krankheit bildeten (75–78). Deshalb war der Austritt schädlicher Dünste für Konrad von Megenberg (1309–1374) auch eine Begleiterscheinung von Erdbeben. Doch nicht nur Erläuterungen waren notwendig, es ging auch um Strategien. Für Wolff steht fest, dass Seuchen Raum für Ambiguität boten. Tatsächlich stand den Menschen des Spätmittelalters eine große Vielfalt an Optionen zur Bekämpfung der Krankheit zur Verfügung: Bittgänge und Prozessionen wurden ebenso eingesetzt wie Magie und Astrologie; daneben kamen konkrete Maßnahmen zur Anwendung, die auf eine Verbesserung der Hygiene in den Städten zielten. Wer es sich leisten konnte, ergriff häufig einfach die Flucht, um in einer möglichst miasmenfreien Einsamkeit der Ansteckung zu entgehen. Bereits Giovanni Boccaccio (1313–1375) gab in der Rahmenhandlung seines „Il Dekamerone“ (1353) dieser Form des Umgangs mit der Pest Raum.
Um die Frage nach der „Theorie der Seuche“ umfassend beantworten zu können, untersucht Wolff mehr als 30 Pestschriften vornehmlich des Spätmittelalters (88–111). Dieses dritte Kapitel sowie der nachfolgende vierte Abschnitt bilden den Kern der Untersuchung. Sie arbeitet heraus, welche Arzneimittel und andere Praktiken in diesen Schriften empfohlen wurden. Einen Spiegel für die Wahrnehmung der Krankheit zu Beginn des 16. Jahrhunderts stellt Martin Luthers 1527 erstmals erschienene Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ dar (Benzing: Lutherbibliographie, 1989, Nr. 2424; digital VD16, L 5519). Warum Wolff hier jedoch den Nachdruck des Jahres 1552 benutzt, erschließt sich dem Leser beziehungsweise der Leserin nicht, erschienen doch bereits 1527 neun Drucke in oberdeutscher sowie einer in niederdeutscher Sprache (Benzing: Lutherbibliographie, 1989, Nr. 2425–2434). Kapitel vier beleuchtet den konkreten Umgang mit der Pest in den süddeutschen Städten Nürnberg, Augsburg und München (112–224). Aus Nürnberg ist für den Zeitraum zwischen 1480/84 beispielsweise eine Pestschrift überliefert, die von den Experten, den Stadtärzten, verfasst wurde. Sie war die „älteste, auf behördliche Anordnung“ hin verfasste Auseinandersetzung mit dem Thema (144) – ein erster Schritt hin zu einer Seuchenschutzgesetzgebung. In jener Zeit bekamen ausgewählte städtische Mitarbeiter zudem Medikamente, die gegen die Krankheit helfen sollten (144). Die Pestverordnung der Stadt Nürnberg wurde 1520 in einer Auflage von 6 000 Exemplaren hergestellt und gewissermaßen wie eine „Postwurfsendung“ an alle Haushalte verteilt (149). Insgesamt kann Wolff feststellen, dass während des 14. und 15. Jahrhunderts Maßnahmen gegen den „Schwarzen Tod“ nur „bei Bedarf und punktuell“ ergriffen wurden (221). Erst an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert veränderte sich dies: Jetzt ging man zunehmend zu einem „vorausschauenden und planvollen Vorgehen über“. Das hieran anschließende Kapitel behandelt die Geschichte der Mikrobiologie (225–271). Darauf folgt ein „Gesamtresümee“, in welchem die Verfasserin ihre wichtigsten Ergebnisse konzise zusammenfasst (272–275).
Am Ende ist Wolff allerdings ein wenig über das Ziel hinausgeschossen. Nach ihrer Zusammenfassung gibt sie nämlich noch einen „Ausblick“ (276–299). Was beispielsweise der ausführliche Vergleich mit Phänomenen der Popkultur, wie dem Hollywoodstreifen „Outbreak“, in dieser bis dahin grundsoliden historischen Analyse soll, erschließt sich dem Rezensenten leider nicht. Es scheint fast, als habe Wolff sich von den aktuellen Entwicklungen der letzten Jahre fortreißen lassen. Covid-19 hat hier offenbar seine Spuren hinterlassen, worauf auch die Erwähnung der Pandemie in diesem Schlusskapitel verweist (286–292). Insofern ist die Arbeit an dieser Stelle selbst ein historisches Dokument geworden. Hier wäre insgesamt weniger mehr gewesen. Wertvoll ist indes der Tabellenanhang (304–415), der die vorgestellten Pestschriften sowie sämtliche Belege zum Auftreten von Seuchen und Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung in den genannten drei Städten umfangreich erschließt. Nachfolgende Studien werden dankbar darauf zurückgreifen. Register erschließen die klar strukturierte und erkenntnisreiche Arbeit, der jedoch neben einer inhaltlichen Straffung angesichts der zahlreichen Tippfehler auch ein sorgfältigeres Lektorat gutgetan hätte.