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Peter Dudek
Rebellen gegen den Krieg – Sucher nach Gemeinschaft. Der jugendbewegte „Berliner Kreis“ im Kontext des Ersten Weltkrieges
Bad Heilbrunn 2021, Klinkhardt, 265 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-7815-2435-4
Rezensiert von Ulrich Linse
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.09.2023
Peter Dudeks Studie beschreibt, in Ergänzung der bisherigen Geschichtsschreibung über die deutsche bürgerliche Jugendbewegung, die Reaktion einer Gruppe großstädtischer junger Männer bester bildungsbürgerlicher Herkunft auf die rücksichtslose Ausbeutung ihres gymnasialen Idealismus durch die politische Erwachsenenwelt. Diese ehemals kriegsfreiwilligen Wandervögel wandelten sich im Ersten Weltkrieg zu Kriegsgegnern. Zu ihrem 1916/17 gebildeten „Berliner Kreis“ gehörten auch die erinnerten gefallenen Freunde, am bekanntesten von ihnen Peter Kollwitz (97–104), geliebter Sohn von Käthe Kollwitz, deren „Passion“ im Denkmal der Pietà in der Berliner „Neuen Wache“ einen zentralen deutschen erinnerungspolitischen Ort gefunden hat; anrührend der Exkurs über den bis dato unbekannten Erich Krems (73–96). Eine bedenkenswerte psychohistorische Wurzel von Käthe Kollwitzʼ Bildfindung nennt Dudek mit dem Hinweis auf das rituelle Gedenken der Berliner Freunde an Peter Kollwitz in dessen Stube im Elternhaus (101–103).
Im Mittelpunkt der theoretischen und praktischen Bemühungen der nun „Kriegsverwendungsunfähigen“ stand die Suche nach neuen Gemeinschaftsformen aus dem Geist der Jugendbewegung, durch welche das idealistische Potential dieser Jugend zur Gestaltungkraft einer Welt ohne Krieg und Klassenkampf genützt werden sollte (auch auf dem linken Flügel der bürgerlichen Jugendbewegung wurde dieses angestrebte Ziel damals als „Deutsche Volksgemeinschaft“ bezeichnet, 177–182). Als Vehikel ihres „Aufbruchs“ benützten die Beteiligten des Kreises das von dem Reformpädagogen Gustav Wyneken bereitgestellte „schillernde Wort“ (11) einer „Jugendkultur“.
Peter Dudeks übersichtliche, biografisch sehr informierte und auch das jugendbewegte Umfeld des Kreises in den Blick nehmende Darstellung beruht auf der Auswertung einer breiten Materialbasis. Sie wird künftig kaum zu erweitern sein, da die einst handelnden Personen umfangreiche schriftliche Hinterlassenschaften vor allem im Archiv der deutschen Jugendbewegung (Burg Ludwigstein bei Witzenhausen) und, im Falle des späteren DDR-Kulturfunktionärs Alfred Kurella, in der Akademie der Künste (Berlin) bereitstellten.
Peter Dudek beschreibt die Themen, welche den „Berliner Kreis“ bei seinen Begegnungen beschäftigten, so die erotische pubertäre Bindung adoleszenter Jungen (die lesbische Bindung von jugendbewegten Mädchen wurde von ihnen ausgespart), und die Diskussionen über alternative Möglichkeiten der Ausgestaltung des Verhältnisses zum anderen Geschlecht zwischen den Polen Promiskuität und Kameradschaft (109–128). Bedauerlich ist, dass Dudek auf die Rolle der Mädchen im „Berliner Kreis“ und seiner Nachfolge-„Siedlung“ kaum eingeht, obwohl nach dem Willen des (Mit)Gründers Hans Koch beides gerade keine „antifeministischen“ „Männerbund“-Gemeinschaften im Sinne Hans Blühers sein, sondern die Frau in die neue Gemeinschaftsbildung miteinschließen sollten (Zitate Koch 112 und 116) und tatsächlich auch einige starke junge Frauen anzog. Die Betonung des „körperseelischen“ Aspekts in der Sexualität (119–122) hatte Auswirkungen bis in die religiösen Präferenzen. Sein religiöses Äquivalent war übrigens im Rahmen des von Dudek kurz angesprochenen „Orientalismus“ nicht nur der Buddhismus, sondern auch die Mazdaznan-Körperpraxis.
Durch Peter Dudeks Analyse wird deutlich, dass auf dem Feld der „Veränderung der Gesellschaft aus dem Geist der Jugendbewegung“ (175) vor allem Konzepte der Erwachsenenwelt die Diskussionen des „Berliner Kreises“ beherrschten, seien es die schul-„revolutionären“ Forderungen Gustav Wynekens (11–20) oder der anarcho-kommunistische „Siedlungs“-Sozialismus von Gustav Landauer (137, 149, 185–189). Besonders ergiebig ist dabei Dudeks Behandlung der politischen Positionen der zeitgenössischen Jugend(bewegungs)schriften „Der Anfang“, „Der Aufbruch“ und „Der neue Anfang“ zwischen Wyneken und Landauer (133–189).
Hatte sich der Kreis ursprünglich, hervorgehend aus Freundschaftsgruppen, im Krieg in der Großstadt Berlin konstituiert, so fand er kurzzeitig im Rahmen der Ereignisse der Münchner Novemberrevolution 1918/1919 wirtschaftende Gestalt in einer „kommunistischen“ ländlichen „Siedlung“ im bayerischen Dorf Blankenburg bei Donauwörth (207–220). Dieses praktische sozialistische Gemeinschaftsexperiment vermochte keine bleibende Schneise in die politische und ökonomische Erwachsenenwelt zu schlagen. In biografischer Fortsetzung von Dudeks Darstellung wäre das Buch von Günter Wiemann: Hans Löhr und Hans Koch – Politische Wanderungen“ (Braunschweig 2011) heranzuziehen, um zu sehen, dass Hans Koch auch nach dem Scheitern der „Blankenburger Kommune“ nach Wegen suchte, um insbesondere auf dem für die Jugendlichen zentralen Feld der Berufsfindung jugendbewegte „Visionen“ in einer kapitalistischen Welt zu verwirklichen (231–232). Zurecht verweist Peter Dudek übrigens auf Hans Kochs viel spätere Anschlussversuche an die Kibbuzim Israels (234) und an die „Kommune“-Bewegung der 1970er Jahre (113, 124, 199).
Aber Peter Dudek hält nichts von solchen „Visionen“ (188). Er vergleicht vielmehr den „jugendkulturellen“ Impetus mit der „Mission“ einer politischen oder religiösen „Sekte“ (200). Bei dieser Bewertung spielen wohl päderastische Abhängigkeitsverhältnisse im Umfeld von Gustav Wyneken die maßgebende Rolle; siehe Dudeks Bemerkung zur (nicht nur) brieflichen Beziehung zwischen Wyneken und Erich Krems: „Hier schrieb ein Eleve an seinen Meister, ein Gläubiger an seinen Herrn in einer Semantik und in einem Jargon, die in diesen extremen Ausprägungen Formen der Hörigkeit und Intoleranz aufweisen wie sie gewöhnlich politischen oder religiösen Sekten eigen sind. Aber für den Kreis um Wyneken war diese von religiösen Metaphern durchsetzte Redeweise ja nicht untypisch.“ (83) Durch solche „Assoziationen“ nach hundert Jahren (200) bringt Dudek sein Thema auf eine falsche Schiene: Die „Jugendkulturbewegung“ war keine „Jugendsekte“. Ihre heute pathetisch, gar „religiös“ klingende Suche nach dem „Neuen Menschen“ und der „Neuen Gemeinschaft“ bestand ganz real in dem Versuch, den autoritären patriarchalischen Strukturen in Familie, Schule und Universität und dem wilhelminischen monarchischen Obrigkeitsstaat Modelle einer jugend(bewegungs)gemäßen Erziehung zur Gemeinschaftsbildung entgegenzusetzen. Im Falle der Schule ließ sich das zunächst freilich nur in Wynekens „Jugendburg“ der „Freien Schulgemeinde“, also in einem Raum der „machtgeschützten Innerlichkeit“ (Thomas Mann), realisieren. Die lebenspraktische Umsetzung der klassenübergreifenden „Siedlung“ scheiterte auch an der reaktionären politischen Macht selbst: Der libertär-sozialistische „Siedlungs“-Inspirator Gustav Landauer wurde während der Gegenrevolution in München erschlagen, den „Siedlern“ als den praktischen Umsetzern von Landauers „Verwirklichungs-Sozialismus“ 1920 der politische Prozess gemacht (221–230), nicht ohne dass einige der „Siedlerinnen“ zuvor noch einem führenden Mitglied der Münchner kommunistischen Räteregierung zur lebensrettenden Flucht verholfen hatten (229). Das war ein deutliches politisches Bekenntnis gegen die gegenrevolutionären Verursacher des „weißen Terrors“, kein Ausdruck sektiererischer Schwärmerei. Der Rezensent ist sich mit dem Autor Peter Dudek aber einig, dass weder Wyneken (207–210) und Landauer (217, 236) noch die Blankenburger „jugendkulturellen“ „Siedler“ einen nennenswerten Rückhalt in der konservativen ländlichen und bürgerlichen bayerischen Bevölkerung besaßen.
Abschließend sei der Hinweis erlaubt, dass die meisten der von Dudek angesprochenen Themen inzwischen auch bei Antje Harms: Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik (Frankfurt am Main 2021) als eigene Kapitel abgehandelt werden: „Kriegskritik und Kommuneleben: Der Berliner Kreis“, „Jugendbewegte Kriegsfreiwillige“ – „Gewalterfahrungen“ – „Traumata des Kriegs“, „Gustav Wyneken als geistiger Mentor“, „Jugendkulturbewegung und Der Anfang (1913/14)“, „Sozialismus der Jugend und Revolution des Geistes: Der Aufbruch (1915)“, „Volksgemeinschaft und Sozialismus“, die Revolution 1918/19. Erstmalig in die Jugendbewegungshistorie eingeführt wurde das spezielle Thema schon vor fünfzig Jahren bei Ulrich Linse: Die Kommune der deutschen Jugendbewegung. Ein Versuch zur Überwindung des Klassenkampfes aus dem Geiste der bürgerlichen Utopie: Die ‚kommunistische Siedlung Blankenburg‘ bei Donauwörth 1919/20 (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Beiheft 5, Reihe B, München 1973). Aber schon in der Weimarer Republik hatte Oskar Maria Graf in seinen „Kalendergeschichten“ sowohl auf das kurze Vorspiel der „Berger Kommune“ am Starnberger See (bei Linse 95, bei Dudek 211–212) in der Erzählung „Auffassung freibleibend“ wie auf die Blankenburger Kommune in der Geschichte „Die Siedler“ hingewiesen.