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Peter Hersche

Katholizismus – schon immer nachhaltiger? Eine historische Spurensuche

München 2023, Oekom, 124 Seiten, ISBN 978-3-98726-021-6


Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.09.2023

Rezensiert zusammen mit:

Peter Hersche: Max Weber, die Ökologie und der Katholizismus. Basel 2021, Schwabe, 202 Seiten, ISBN 978-3-7965-4274-9

Der Schweizer Historiker Peter Hersche (geboren 1941 im katholischen Appenzell) ist uns hier im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde bekannt (2012, 159–166) durch sein zweibändiges Hauptwerk von 2006 „Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter“. Im Jahr 2012 hat der Autor ein aus jenen Studien abgeleitetes Büchlein verfasst mit dem Untertitel „Was wir vom Barock lernen können“ (Rezension im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde 2012, 160–161). Inzwischen verlegt er sich auf kleinere Schriften in den Verlagen Schwab in Basel und oekom in München, zum Beispiel „Kirchbau als Gemeinschaftswerk“ (Basel 2021). Hersches Schwerpunkte liegen auf „Spurensuchen“ zum sogenannten „Fortschritt“ und der Ökologie in Landwirtschaftsregionen. Seine These lautet: Katholische Bevölkerungen haben in der Vergangenheit „nachhaltiger“ gewirtschaftet. Dabei bedient sich der Autor in seiner generellen Auseinandersetzung argumentativ mit Max Webers Interpretation des „protestantischen“ Kapitalismus, womit wir uns unten noch ausführlicher befassen. Zur Geschichte der Arbeitsethik zieht Hersche das große Buch von Jörg Schmidt „Zwischen Notwendigkeit und Selbstverwirklichung. Arbeit und Umwelt in der Geschichte des Menschen“ (2019) heran.

Das Katholizismusbuch geht, wie gesagt, von Max Webers Thesen zum Katholizismus und zur Ökologie aus, gefolgt vom „Fortschrittsbegriff“ des Protestantismus, dem Hersche die „agrarische Mentalität“ (43) gegenüberstellt. Er zitiert dazu das gegenwärtige Problem des CO2-Ausstoßes und die Frage: „Ging es auch ohne Kohle?“ (67) im gewerblichen Zeitalter, das „Holzbedarf und Holznot“ durch die Transportmöglichkeiten der Steinkohle überwand. Der Autor endet mit allgemein gewordenen „mentalen Veränderung“ durch die „protestantischen Tugenden“ (89) zur „Massenfabrikation“ (96) und dem Verlust einer alten „Hochblüte des Handwerks“ (102). Seine eigenen Relativierungen ganz zum Schluss gelten dem „Forschungsdefizit“ auf deutschsprachiger Seite der Gelehrten. Auch sie verfallen trivialem Wissen der Stereotypisierungen über Nord- und Südländer.

Das Klischee-Bewusstsein der meisten Europäer vermitteln vor allem die schönen Künste in der Literatur der Meinungseliten. „Fortschritt“ könne man allerdings nicht mit Protestantismus gleichsetzen. Hersche verweist auf den rationalistischen Naturdeterminismus französischer Modeautoren oder die einseitige Konzentration der Marktforschung auf England, Frankreich und Preußen, kaum aber auf die katholischen Mittelmeerländer. Er mahnt dazu die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno an, um zu vernünftigen Relativierungen in der Geschichtsschreibung zu gelangen. Hier vermag der Rezensent als Schüler jener Frankfurter Größen nur zuzustimmen. Einer der Schlusssätze des abschließenden Kapitels lautet, gegen den heutigen Wohlstandswahn der meisten Politiker gewendet, warum deren gute Vorsätze an der Wirklichkeit scheitern: „Kluge Ökologen haben dies erkannt und weisen eher auf das Glück hin, das man erleben kann, wenn man den Glauben an die Heilige Trias Wachstum, Wohlstand und Fortschritt ablegt und als Konsequenz dem gesamten Zivilisationsmüll so weit als möglich den Rücken kehrt. Wer der hektischen Betriebsamkeit des Handys entrinnen kann, sich den ständigen Veränderungsforderungen des ‚Fortschritts‘ so weit als möglich widersetzt, alle die sich häufenden ‚events‘ links liegen lässt, wer auf Auto, Fernreisen, teuren Sport, luxuriösen Wohnkomfort usw. verzichten kann [...] und dafür wandert, seinen Garten bebaut, Lektüre oder Musik pflegt oder ganz einfach im Sitzen Muße genießt, kann dies nachvollziehen.“ (118) – Ich in meinem sehr hohen Alter noch nicht.

Peter Hersches Buch „Max Weber, die Ökologie und der Katholizismus“ ist im Cover geschmückt mit einem Gemälde des provenzalischen Reviera-Bades Le Lavandou von Piere-August Renoir in altmeisterlicher Einfachheit. Es war Max Webers liebster Urlaubsort. Hersche geht von der biografischen Krankheits-Situation aus. Zur Sache kommt er mit dem 1. Kapitel „Heilung und Neubeginn in Rom“. Dazu referiert er die reiche Fachliteratur und die inzwischen vollständig vorliegende Edition des Gesamtwerkes. Nachzutragen ist das Kapitel „Weltmacht durch Askese – Rom und die Geburt der Protestantismusthese“ in Jürgen Kaubes „Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen“ (2014, 134–144).

Weber erlitt 1898 einen Nervenzusammenbruch, damals „Neurasthenie“ geheißen, heute „Burnout“. Im Jahre 1900 mietete er sich mit Ehefrau Marianne und zusammen mit dem kranken Sohn eines Vetters den Winter über in Korsika ein, wo sonst vor allem Engländer die Hotels füllten. Im Jahre 1901 siedelten sie über Pisa nach Rom um, wo sie ein ganzes Jahr über in einer Pension lebten. Im Frühjahr unternahm das Ehepaar eine Reise nach Neapel und Sorrent. Weber ging dann allein in die Schweiz nach Grindelwald und Zermatt. Im Frühjahr 1902 hielt er sich mehrere Wochen in Florenz auf und kehrte dann wieder nach Heidelberg zurück. Im Winter ging es nach Genua mit dessen Vorort Nervi und 1903 wieder nach Rom.

Hersche fasst zusammen: „Weber benutzte wie alle deutschen Kulturtouristen die ihm schon aus dem Elternhaus bekannten Reiseführer von Karl Baedeker und klapperte ebenfalls die dort beschriebenen Sehenswürdigkeiten ab, wusste sich aber auch darüber hinwegzusetzen und befasste sich mit vielen Facetten des italienischen Alltagslebens“. (25–26) Mehr als für andere Wissenschaftler war Rom nach Hersche „für ihn auch ein allgemeines historisch-soziologisches Studienobjekt“ (26). Der Autor betitelt sein zweites Kapitel mit „Zivilisationskritik, Landschaftsschutz und Ökologie“ während der historischen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals entstand die „Modekrankheit Nervenschwäche“ und brachte das sogenannte „nervöse Zeitalter“ hervor. Es resultierte nach Hersche aus dem „Fortschrittswahn“ und daher rührt die eigentümliche Faszination Roms auf Weber: Er nutzte den technischen Fortschritt z.B. der Eisenbahn gern und exzessiv, liebte aber ansonsten im Urlaub Kutschfahrten und Spaziergänge (vgl. 32–34). Abneigung gegen Großstädte wie Paris und Berlin sind bekannt. In München hingegen überwog die Gegenwart der so intensiv geliebten Else Jaffé, geborene v. Richthofen. Wien war ihm die schönste Stadt deutscher Zunge. In München genoss er deren Speisekarte und die Musikkultur, weniger Wagners als Mozarts.

Darum lautet das 3. Kapitel „Lebensreform und erotische Bewegung“. Damit ist voran die Zeit um 1900 gemeint mit Literatur wie heutigentags „Gesünder leben“, allerdings völkisch aufgeladen. Heute erscheinen uns Kommune und Sanatorium auf dem Monte Verità bei Ascona intellektuell-sektiererisch und bloß exhibitionistisch, wenn wir dort kulturelle Diskussionsrunden besuchen dürfen. Die Jugendbewegung des Wandervogels mit dem Verzicht auf Alkohol und Tabak, die aufkommende Sportindustrie und Gartenstadtbewegung kennt meine Generation von unseren Eltern her. Der wehrpflichtige Student Max Weber aber gebärdete sich als Student und Rekrut gesellschaftskonform als bramarbasierender Burschenschaftler. Erst während des Ersten Weltkrieges entdeckte er wie alle anderen im Lande den Vegetarismus.

Die sogenannte „erotische Bewegung“ existierte in der Realität vor dem Ersten Weltkrieg eher in der bekannten Libertinage an der Heidelberger Universität und die gepredigte Promiskuität seit 1906 im Münchner Guru-Umkreis des Sigmund Freud Schülers Otto Gross. Selbst oder gerade Max Webers spätere Geliebte Else Jaffé war Gross verfallen gewesen (69–75).

Hersche nennt Kapitel 4 „Vom Kulturprotestantismus über Italien zum Kulturkatholizismus“. Letzterer Begriff scheint mir eine ungebräuchliche Benennung zu sein, aber der Autor spitzt alles darauf zu. In der fachwissenschaftlichen Literatur hat es vor einigen Jahren eine Münchner Dissertation dazu gegeben (Otto Weiss: Kulturkatholizismus, 2014; Rezension im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde [2016], 245–246). Die Kritik läßt als nützlichen Begriff allein die schimpflich gemeinte Bezeichnung „Münchner Kulturkatholiken“ zu. Der Rest ist literarischer Überbau des einstigen katholischen Milieus des 19. Jahrhunderts. Hersche hingegen betrachtet jegliche persönliche Begegnungen Webers mit der konfessionell gefärbten Lebensweise in Italien natürlich mit der Brille des publizistisch aktiven deutschen Kulturprotestantismus. Davon zu unterscheiden sind Webers kirchengeschichtliche und religionsdogmatische Studien zum Katholizismus.

Kapitel 5 handelt über „Die ‚Protestantische Ethik‘ vor ihrem historisch-biografischen Hintergrund und im Rahmen ökologischen Denkens“. Schon frühere Reisende aus England im 17. Jahrhundert beobachteten das unterschiedliche Investitionsverhalten. Katholiken trügen ihr Geld in die Klöster, Protestanten in Gewerbe und Handel (103). Diese Ansicht entwickelte sich bis zur Aufklärungsepoche zu einem Stereotyp, zum Beispiel 1772: „Warum ist der Wohlstand der protestantischen Länder sogar viel grösser als der Katholischen?“ (105). In der deutschen Kulturkampfperiode erreichte die Rede von der „Rückständigkeit“ einen Höhepunkt, und der päpstlich inszenierte „Modernistenstreit“ bestätigte den Zustand bis ins 20. Jahrhundert. Die Ökologie tauchte im Wahrnehmen von Umweltschäden in den USA und deren Resonanz in Europa auf. Gegenbewegungen wurden mit der Erfindung von Nationalparks registriert. Kulturkritik und Lebensreform-Bewegung spielten bei den Berliner Intellektuellen eine große Rolle.

Kapitel 6 lautet „Katholische Mentalität versus ‚Protestantische Ethik‘: Hemmnisse auf dem Weg zum kapitalistischen System“. Es stellt das längste Kapitel und damit das zentrale Thema des Autors dar. Dem folgt dann nur noch Kapitel 7 „Schluss und Ausblick“ auf die ökologischen Gegenwartsprobleme, betrachtet aus der Sicht von Webers Protestantischer Ethik. Hersche handelt vom biblischen Motto „Macht Euch die Erde untertan“, und er kritisiert die Forschungssituation unter prononciert protestantischen wie katholischen Wissenschaftlern bis ins 20. Jahrhundert. Er konstatiert: „Zwei Welten lagen da ganz weit auseinander.“ (137) Weber selbst hatte nur Zisterzienser und andere Klöster ins Auge gefaßt, nicht aber reformkatholische Theologen. Die heutigen Differenzierungen der Fachhistoriker sprechen für die Vergangenheit nicht mehr von „Gegenreformation“, sondern von zeitgleicher innerer „katholischer Reform“. Hersche eröffnet damit ein noch unbeackertes weites Forschungsfeld. Er versteht sich als Anstoßgeber.