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Elisa Frank/Nikolaus Heinzer

Wölfe in der Schweiz. Eine Rückkehr mit Folgen

Zürich 2022, Hier und Jetzt, 208 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-03919-561-9


Rezensiert von Susanne Hose
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.09.2023

Der Zürcher Verlag Hier und Jetzt hat sich – laut Selbstporträt auf der Verlagshomepage – der Herausgabe von inhaltlich fundierten, gut verständlichen Sachbüchern zur Kultur und Geschichte der Schweiz verschrieben. Dafür liefert der vorliegende Band über die neuerliche Nachbarschaft zu Großraubtieren in von Menschen besiedelten Räumen ein empfehlenswertes Beispiel. Der Bedarf an faktenreichen, auf soliden Forschungen gründenden Sachbüchern zu diesem Thema ist groß, vor allem, wenn es um die Nachbarschaft zu Wölfen geht. Denn während geglückte Ansiedlungsversuche von Luchsen in aller Regel als Erfolgsgeschichte des Artenschutzes und das Auftauchen von Braunbären als „Besuch aus dem Süden“ gelten, wird der Einzug von Wölfen vordergründig als Bedrohung für Weide-, Wald- und Haustiere beziehungsweise für Wandernde und andere in der Natur Erholung Suchende verhandelt. Nicht nur in der Schweiz, auch in Deutschland, Österreich und anderen mitteleuropäischen Ländern hat die Rückkehr der Wölfe nach ihrer vom Menschen erzwungenen Absenz zu kontroversen Debatten in weiten Teilen der Gesellschaft geführt. Dabei geht es weniger um biologische Konstitutionen der Tiere als vielmehr um das menschliche Denken und Handeln im Umgang mit Wölfen, die besonders in Weidetierherden Schaden anrichten und deren Wirtschaftlichkeit in Frage stellen können.

Um diesen Komplex für die Schweiz zu untersuchen, hatte das Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturforschung (ISEK) der Universität Zürich das Forschungsprojekt „Wölfe. Wissen und Praxis. Ethnografien zur Wiederkehr der Wölfe in der Schweiz“ (Leitung: Bernhard Tschofen) entworfen, gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds von 2016 bis 2019. Mit den beiden in der institutseigenen Reihe „Zürcher Beiträge zur Alltagskultur“ (Bd. 28 und 29) erschienenen Dissertationen von Elisa Frank und Nikolaus Heinzer, zwei (mit-)kuratierten Ausstellungen, die zum einen in Bern, Brig, Luzern, Zernez, Chur und zum anderen in Hamburg gezeigt wurden, sowie zahlreichen weiteren Veranstaltungen und Einzelveröffentlichungen in unterschiedlichen Medien darf das Projekt als ausnehmend erfolgreich bezeichnet werden. Für den vorliegenden Band haben Elisa Frank und Nikolaus Heinzer die Erkenntnisse ihrer Dissertationen für ein breites Publikum zusammengefasst und eröffnen hier ihre spezifische ethnografische Perspektive auf die sich in der Schweiz angesichts der zunehmenden Wolfspopulation entwickelnden kulturellen Praxen. Diese Sichtweise ist wichtig, denn die „Rückkehr der Wölfe ist mehr als ein ökologischer Prozess. Im Schatten des Wolfs werden andere kontrovers diskutierte Fragen und große gesellschaftliche Themen der heutigen Schweiz verhandelt: Fortschrittlichkeit und Tradition, Machtverhältnisse und soziales Miteinander, Identität und der Umgang mit dem Fremden, Sicherheit und Kontrolle, Nachhaltigkeit und Artenschwund.“ (172)

Inhaltlich orientiert sich der Band am Anspruch an eine informative, möglichst facettenreiche populärwissenschaftliche Edition, die nicht nur die Kulturforschenden (Tschofen, Frank, Heinzer), sondern auch den Geschäftsführer des Schweizer Forstvereins, Lukas Denzler, und die Zürcher Schriftstellerin Gianna Molinari zu Wort kommen lässt. Gut verständlich und einleuchtend erklärt Bernhard Tschofen, der das Projekt initiiert und begleitet hat, die Berechtigung kulturwissenschaftlich betriebener „Wölfeforschungen“, die weder im Gegensatz zu entsprechenden wildtierkundlichen Erhebungen noch als bloße Ergänzung zu jenen zu verstehen sind. Beide folgen der Fährte eines Tieres und beobachten dessen Habitate, wobei Kulturforschungen zwingend die auf den Wolf reagierenden gesellschaftlichen Diskurse in den Blick nehmen (7). Das Untersuchungsdesign der 2016 am ISEK aufgenommenen Arbeiten richtete sich demnach folgerichtig auf die Dynamiken in den Mensch-Tier-Beziehungen während der knapp drei Jahrzehnte umfassenden „Rückkehr der Wölfe“ in die Schweiz. Dabei standen verständlicherweise die Wölfe und die Herdenschutz- beziehungsweise Weidetiere im Vordergrund, was jedoch nicht bedeutet, dass das Leben der anderen Beutegreifer im alpinen Raum vollständig ausgeblendet wurde. Lukas Denzler liefert die entsprechenden Hintergrundinformationen über den Umgang mit Luchs und Bär und geht auch – in Gegenüberstellung zum Wolf – auf die Unterschiede in den gesellschaftlichen Wahrnehmungen und Wertungen ein. Das Image des Wolfes oszilliert zwischen Verteuflung und Vergötterung, wofür Denzler unter dem Titel „Von der Ausrottung zum Schutz des Wolfes“ einen kurzen historischen Überblick gibt. Warum die beiden kurzen Beiträge zur Wiederansiedlung des Luchses (55–61) und Rückkehr des Bären (113–117) vom Wolfsartikel getrennt und zwischen die Ausführungen von Frank und Heinzer eingefügt wurden, erschließt sich der Rezensentin allerdings nicht. Vermutlich folgt die Anordnung einer formalen Idee zum Buchaufbau, was jedoch den Lesefluss irritiert und den wohlüberlegten, inhaltlich konsistenten Aufbau der zentralen Abhandlung stört. Denn diese durchzieht eine erzählerische Leitlinie, die sich chronologisch und räumlich bewegt: vom ersten Auftauchen von Wölfen Mitte der 1990er Jahre im Wallis über die erste Rudelbildung 2012 im Grenzraum zwischen den Kantonen Graubünden und St. Gallen bis hin zur heute nun ständigen Besiedlung bestimmter Gebiete in der Schweiz. Methodisch unterstreicht dieser Erzählstil den kulturwissenschaftlichen Blick auf die Alltagskultur, die – wie die wandernden, rudelbildenden oder sich wieder zurückziehenden Wölfe – in Bewegung zu denken ist. Im Wesentlichen geht es um die auf die Präsenz der Tiere reagierenden kultürlichen Aushandlungsprozesse, Krisenbewältigungs- und Anpassungsstrategien, die Elisa Frank und Nikolaus Heinzer mittels umfangreicher Feldstudien beobachtet haben und hier in drei thematischen Kapiteln vorstellen.

Das erste – „Die ersten Rückkehrer im Wallis. Eine Region neu denken“ – steht exemplarisch für die Verwerfungen innerhalb der Herdentierhaltung. Die Berglandwirtschaft hat besonders im Oberwallis seit den industriellen und touristischen Entwicklungen im 19./20. Jahrhundert mit strukturellen Problemen zu kämpfen, in deren Folge sich die einst zur Existenzsicherung betriebene Landwirtschaft zunächst zum Nebenerwerb und dann zur Freizeitbeschäftigung entwickelte. Bei der Haltung und Zucht von Schwarznasenschafen geht es heute nicht mehr um die Produktion von Fleisch, Milch oder Wolle, sondern um die Pflege des ererbten Bodens und die Freude an der Tierhaltung. Frank und Heinzer sprechen von einer „Verschiebung […] weg von einer Subsistenzlandwirtschaft hin zu einer auf Ästhetik und kulturelle Werte fokussierten Schafzucht“ (22). Mit Widdermarkt samt öffentlichem Widderwaschen sowie der Prämierung weiblicher Zuchttiere haben sich Feste im Jahreslauf etabliert, die Züchter und Züchterinnen, Schäfer und Schäferinnen, Familien und Dorfgemeinschaften miteinander verbinden und individuelle wie kollektive Identitäten formen. Die Präsenz von Wölfen zwingt die familiär betriebene Weidetierhaltung nicht allein zu erhöhten finanziellen wie zeitlichen und personellen Aufwendungen, um die Herden zu schützen, sondern sie verändert zum Beispiel durch das Einhegen von Weideflächen auch die Begehbarkeit der Landschaft mit Auswirkungen auf den Wandertourismus. Resümierend ist festzustellen, dass die ersten Wölfe eine „neue Auseinandersetzung mit der historisch gewachsenen Walliser Berglandwirtschaft auslösten und damit einen Prozess initiierten, bei dem, im Wechsel von Selbst- und Fremdidentifikation, eine Region neu verhandelt und neu gedacht wird“ (54).

Im Fokus des zweiten Kapitels – „Das erste Rudel am Calanda. Natur- und Kulturräume ordnen“ – steht das Wolfsmanagement. Die Sesshaftigkeit des Rudels in Nachbarschaft zum Großraum Chur erleichterte die systematische Wissensproduktion über die Verhaltensweisen der Tiere durch Wolfsmonitoring. Frank und Heinzer bewerten dies in Anlehnung an Michel Foucault im Sinne einer „positiven Machttechnologie“ des Staates, der Wissen sammeln lässt, um auf der Grundlage dieses Wissens zu regieren (73). Das Wolfsmanagement als organisierende und kontrollierende staatliche Instanz übernimmt die Vermittlerrolle zwischen Artenschutz (der Wolf gilt international als streng geschützt) und Schutz der menschlichen Bedürfnisse in den jeweiligen Kontaktzonen – eine Gratwanderung, nicht nur hinsichtlich der aufeinanderprallenden Interessenkonflikte, die Frank und Heinzer mit viel Sensibilität für die Nöte der einzelnen Gruppen beschreiben. Am Ende bleibt die philosophisch anmutende Frage, wieviel Natur wir mittels Wolfsmanagement mit all seinem regulierenden und disziplinierenden Eingreifen dem wilden Tier, das sich laut Monitoring in der Kulturlandschaft bestens zurechtfindet, zugestehen wollen. Die Formel, nach der Wölfe einer imaginären Wildnis und Menschen einem Kulturraum zuzuordnen wären, funktioniert jedenfalls nicht.

Folgerichtig dreht sich das dritte Kapitel – „Mit Wölfen leben? Koexistenzen verhandeln“ – um Fragen, wie ein Mit- oder zumindest Nebeneinander zu gestalten ist. Welche Kontrollmechanismen werden benötigt, welche Kompromisse müssen eingegangen werden? Beschrieben werden zwei, von unterschiedlichen politischen Lagern verfochtene Kontrollansätze zum besseren Schutz der alpinen Kulturlandschaften. Die einen favorisieren die Kontrolle der Wölfe, unter anderem mittels Revision des Jagdgesetzes im Sinne einer „vorausschauende[n] Bestandsregulierung bei Wolfspopulationen“ (146), die anderen die Anpassung der landwirtschaftlichen Strukturen und Abläufe und damit die „kontrollierte Integration wölfischer Lebensräume und -weisen in bestehende ökologische, landwirtschaftliche und kulturelle Systeme“ (151). Dem Ausblick von Frank und Heinzer zufolge wird es zukünftig um ein Sowohl-als-auch und um das Verhandeln weiterer, bisher noch nicht diskutierter Anpassungsstrategien gehen. So zeigt die Wolfsdebatte beispielhaft, dass der vielbenutzte Begriff der Nachhaltigkeit nicht nur eine ökologische, sondern auch eine soziale und ökonomische Dimension hat (177).

Der gesellschaftliche Diskurs über die Einwanderung und Ausbreitung der Wölfe macht soziale Diskrepanzen sichtbar – etwa zwischen städtischem und ländlichem Leben und entsprechend unterschiedlichen Naturvorstellungen. Er offenbart darüber hinaus die Wirkmächtigkeit von Verschwörungs- beziehungsweise Opfer- und Heldennarrativen. Nicht zuletzt aber zeigt er auch das Ringen um Strategien, die eine Koexistenz von Menschen und Wölfen ebenso wie ein Miteinander urbaner und ruraler Lebensvorstellungen ermöglichen. Kurzum: Die Rückkehr der Wölfe hat kulturelle Prozesse in Gang gesetzt, die von Elisa Frank und Nikolaus Heinzer auf treffliche Weise für die Schweiz analysiert und im vorliegenden Band nachvollziehbar beschrieben werden. Das literarische Essay von Gianna Molinari beschließt das Buch. Es versetzt die Leserschaft in die Rolle des Wolfsmonitorings, das den Wolf auf seinen mäandernden Wegen durch eine miteinander verwobene Natur-Kultur-Landschaft beobachtet. Er durchkreuzt die Wege und Pläne der Menschen, die in der Regel nur seine Spuren finden.