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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Alois Döring, mit einer historischen Einführung von Rudolf Suntrup

Verhüllungen im sakralen Raum. Fastentücher im Rheinland und Westfalen im 20. und 21. Jahrhundert

Münster 2022, Waxmann, 176 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4505-5


Rezensiert von Konrad Vanja
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.08.2023

Wieder einmal ist eine Publikation anzuzeigen, die aus einem vielfach vergessenen Feld der Frömmigkeit vergangener Jahrhunderte berichtet: nämlich von den Fasten- oder Hungertüchern, dabei aber dieser einstmals weitverbreiteten Tradition bis in der Gegenwart folgt. Angeregt wurde diese Studie sicherlich nicht zuletzt durch die aufsehenerregende Wiederentdeckung der beiden in Tempera bemalten Fastentücher aus Zittau von 1472 und von 1573 in den 1990er Jahren, die in der renommierte Abegg-Stiftung in Riggisberg in der Schweiz wieder so restauriert werden konnten, dass man sie heute in der Franziskanerkirche und in der Kirche zum Heiligen Kreuz von Zittau als Teil der musealen Sammlungen bewundern und – genauso wichtig – auch in ihrer Bildprogrammatik verstehen kann. Ebenso bedeutend ist das großformatige in aufwändiger Filetstickerei gefertigte Telgter Hungertuch von 1623, das, über einen Umweg nach Berlin, glücklicherweise den Zweiten Weltkrieg in Telgte überstanden hat und nun dort – seit 2011/2012 restauriert – ein bedeutender Teil des Museums „RELíGIO – Westfälisches Museum für religiöse Kultur“ geworden ist. Nicht zufällig haben daher die Städtischen Museen Zittau anläßlich des 550. beziehungsweise des 449. Geburtstags und das Museum Relígio des 400. Geburtstags dieser bedeutenden Zeugnisse der Frömmigkeit 2022 und 2023 Tagungen gewidmet mit jeweils einem umfangreichen Vortragsprogramm. Insgesamt, so betont die Einführung des zu besprechenden Bandes, haben diese Ereignisse dem Thema neue Anstöße und – nicht zu unterschätzen – neue Ergebnisse gebracht, die die Kenntnisse über die heute noch vorhandenen Tücher, ihre Bedeutung wie ihre Aufgaben für das Glaubensleben erheblich erweitert haben und Vorbilder für neu geschaffene Fastentücher geworden sind. Nicht nur die bedeutenden historischen Wiederentdeckungen, sondern auch eine heute wieder lebendige Tradition gegenwärtiger Frömmigkeit sind daher der Forschung eine umfängliche Recherche wert. Der hat sich Alois Döring mit seinem umfangreichen Bericht über Verhüllungspraktiken und zugleich Botschaften verkündenden Fastentüchern im kirchlichen Raum verdienstvoll angenommen. Die Verhüllung des gekreuzigten Christus’ in der Passionszeit dürfte vielen Besuchern katholischer Kirchen auffallen, sicherlich übrigens weniger als die violetten Paramente protestantischer Gotteshäuser. Der Brauch, das Altarbild zu verhüllen, dürfte heute weniger bekannt sein, noch weniger seine Bedeutung. In der Volkskunde hingegen sind Fastentücher ein Begriff, meist als so genannte Hungertücher bezeichnet. Hier lohnt, den vorbereitenden historischen Beitrag von Rudolf Suntrup (16-46) in die Studie miteinbezogen zu haben, ist er doch für diese Publikation eine hervorzuhebende Bereicherung. Die Bezeichnung Hungertücher, wie Fastentücher vielfach genannt werden, beruht auf einer „Volksetymologie“, die das genähte – naegen = nähen – Tuch mit dem Fasten = Hungern in Verbindung gebracht hat, und ist eine eingängige Formulierung, die in die sprichwörtliche Zuordnung „am Hungertuch nagen“ übergegangen ist. Im historischen wie liturgischen Kontext ist das Velum wohl in den cluniazensischen Reformen aufgekommen und verhüllte den gesamten Altarraum, um gleichsam den Tod Christi symbolhaft wie dramatisch mit dem Herabfallen des meist großformatigen Fastentuchs (das Freiburger Fastentuch hat eine Größe von 10 x 12 m) mit dem neutestamentlichen Zerreißen des Vorhangs im Tempel zu Jerusalem als Zeichen des Schmerzes in Zusammenhang zu bringen. Die liturgischen Bedeutungen des Fastentuches von einer Verhüllung als Verbergen bis zu einer bilderreichen Präsentation als „‚Vorlagen zur Erinnerung, zur Betrachtung und zur Auslegung der biblischen Geheimnisse‘, ‚Erzählbilder‘, keine Kultbilder“ (nach Friedhelm Mennekes: Zittauer Fastentuch, 1998, 12) beschreiben (22) den langen Weg der unterschiedlichen Gestaltungstypen der Fastentücher bis zum Bildprogramm der heute bekannten Tücher. Den intensiven Hinweisen Suntrups zur unterschiedlichen Materialität des Leinens und seiner Gestaltung in unterschiedlichen Farben wie im Dekor (Färben, Bemalen, Besticken) nach liturgischen Quellen seit dem frühen Mittelalter zu folgen, lohnt ebenso, wie den verschiedenen Bildgestaltungen und Größen der Tücher Aufmerksamkeit zu schenken, wie sie uns seit dem späten Mittelalter bis heute überliefert sind. Bildprogramme, die durch umlaufende Bildfelder um eine zentrale Passionsszene gestaltet sind, laufende Bildfelder, teilweise in reziprok aufeinander bezogenen alt- und neutestamentlichen Szenen zur „Präfiguration“ und zur Erklärung des heilsgeschichtlichen Passionsgeschehens (hierzu wurden auch Szenen aus den apokryphen Legenden herangezogen, 35) gehören zu den bis heute geläufigen Bildformen. Neben den Zittauer Tüchern, die bis in die 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein auch die protestantische Passionsliturgie begleitet haben, steht das Telgter Hungertuch mit seiner Hervorhebung der Marienklage im Vordergrund der Studie. Es war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Gebrauch, bis es „ausrangiert“ nach Berlin in das damalige „Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes“ abgegeben wurde und später seinen Weg wieder zurück nach Westfalen fand (38–46). Hier setzt Alois Döring den historischen Überblick bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fort und diskutiert die weitere, jedoch auslaufende Nutzung der Fastentücher auch im protestantischen Bereich, eventuell zugunsten der späteren Emporenmalerei als „Ersatz“ für die Bilderbibel der Fastentücher (wobei er hier der bahnbrechenden Studie von Reiner Sörries: Die alpenländischen Fastentücher. Vergessene Zeugnisse volkstümlicher Frömmigkeit,1988, folgt).

Mit seinem nächsten Beitrag „Fastenzeitliche Verhüllungen im 20. und 21. Jahrhundert: Konfessionelle Gebrauchsfunktionen“ führt Döring ein in die Vorgeschichte seiner systematischen Bestandsaufnahme der fastenzeitlichen Verhüllungen in Kirchen des Rheinlands und Westfalens. Neben frühen Erneuerungsversuchen in den 1930er Jahren setzt vor allem die Fastenaktion Misereor (teilweise auch im Verbund mit der Aktion „Brot für die Welt“) seit 1976 einen neuen Akzent für die Einführung und Nutzung der Fastentücher, die im Sinne eines „Heilshandeln des Menschen für den Mitmenschen einladen“ (54–58) und zugleich einen ökumenischen Charakter auch in protestantischen Gemeinden erhalten. Künstlerische Entwürfe tragen zum Diskurs der Sichtbarmachung von Glaubensfragen bei, erinnert sei dabei etwa an das große Fastentuch „Anna Selbdritt“, das Georg Baselitz 2019 in Zittau ausgestellt hatte. Diesen einzelnen Belegen folgt eine Tour d’Horizon durch Rheinische und Westfälische Kirchenlandschaften mit vielfach faszinierenden Beiträgen der einzelnen Gemeinden im Engagement, durch künstlerisch gestaltete Fastenzeitverhüllungen zur Gegenwärtigkeit des Christseins beizutragen. Mit Thomas Ostendorf (62, Anmerkung 146) greift Döring den „neuen“ Aspekt auf, neben den impulsgebenden und bestellbar vorgefertigten Misereortüchern gerade auch die vielfach großformatigeren „gemeindeeigenen Schöpfungen“ und selbstgestalteten Fastentücher zu dokumentieren, die die mit der Liturgie-Reform des Zweiten Vatikanischen Konzils wieder freigestellten Hochaltäre für die Hängung nutzen konnten (62). Der katechetische Aspekt der Gestaltung nicht zuletzt durch Kinder- und Jugendgruppen ist dabei nicht zu unterschätzen. In monografisch gehaltenen Beiträgen werden einzelne Fastentücher im Katholischen wie auch vermehrt im Protestantischen vorgestellt. Möglich wurde dies auch durch eine Fragebogenerhebung, die der Verfasser als Vorsitzender der Landesgemeinschaft der Krippenfreunde in Rheinland und Westfalen mithilfe der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen und des Museums Relígio in Telgte 2019 bis 2021 durchführen konnte. Gleich einer ethnografischen Studie wertet er das Material aus, was normalerweise nur mühselig im Nachhinein zu recherchieren ist (151). Stützen kann sich Döring dabei auch auf Internetrecherchen, die zur Aktualität beitragen und lebendige Einblicke in das Gemeindeleben bieten und damit den „Sitz im Leben“ (eine immer noch sinnbringende Formel des Alttestamentlers Hermann Gunkel) herausarbeiten. Das Vademecum der Hunger- beziehungsweise Fastentücher im Westen Deutschlands folgt alphabetisch Orten und Kirchengemeinden und bildet beeindruckend die in unterschiedlichen Gemeindeinitiativen entstandenen Tücher (meistenteils in Farbe gedruckt) ab. Die Besonderheit dieser Publikation liegt daher nicht alleine in ihrer historischen Betrachtung, sondern wendet sie auf die Gegenwart: In dieser von Alois Döring vorbereiteten Publikation ergänzen sich die zusammenfassenden systematisch-liturgischen Artikel Suntrups mit dem ethnografisch dokumentierenden Beitrag Dörings zu einer guten Einführung in das weitverzweigte Thema der Fastentücher seit dem späten Mittelalter in Mitteleuropa bis zur Gegenwart. Von der liturgischen Einbettung des Brauches über die Diskontinuität durch Reformation und katholische Aufklärung bis hin zur Wiederentdeckung Ende des 19. Jahrhunderts und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der Bewegung Misereor für eine Welt der Solidarität liegt ein langer Weg unterschiedlicher Funktion und Bewertung. Die Publikation spiegelt zudem eine gelungene Zusammenarbeit eines Mittelalter- und Frühneuzeithistorikers mit einem historisch bewanderten Volkskundler im Sinne einer „gesättigten“ kultur- und frömmigkeitsgeschichtlichen Forschung wider. Zudem weist sie auch auf den weiten geistlichen Bereich der Frömmigkeit hin, der auch im 21. Jahrhundert Anlass gibt, über die dann doch zeitlosen Themen des immer wieder gefährdeten Lebens im eigenen Land wie in der Welt nachzudenken. Dem gelungen gestalteten Band ist eine Quellenverzeichnis und eine umfängliche Forschungs- und Bestandsliteratur (158–168) angefügt.