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Anne Dippel/Martin Warnke
Tiefen der Täuschung. Computersimulationen und Wirklichkeitserzeugung
Berlin 2022, Matthes & Seitz, 174 Seiten, ISBN 978-3-7518-0334-2
Rezensiert von Libuše Hannah Vepřek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.08.2023
Spätestens mit dem Erscheinen des künstliche Intelligenz-basierten Chatbots ChatGPT ist die Debatte über künstliche Intelligenz im Alltag der breiten Bevölkerung angekommen. Gleichzeitig hat damit das Gefühl der Verunsicherung über Wahrheit und Realität, welches in den letzten Jahren bereits durch Fake News verstärkt wurde, eine neue Dimension angenommen. Nichts scheint mehr sicher zu sein, seien es Schulaufgaben, Universitätsarbeiten oder Journalismus. Unermüdlich und ähnlich einer Computersimulation liefert ChatGPT stets Ergebnisse, die realistisch erscheinen. Indem künstliche Intelligenz-basierte Chatbots wie ChatGPT Texte auf grammatikalisch korrekte, semantisch sinnvolle Weise vervollständigen, liefern sie plausible oder zumindest plausibel klingende Antworten auf sogenannte Prompts. Was sie suggerieren ist jedoch, wie die Kulturanthropologin und Historikerin Anne Dippel und der Physiker, Informatiker und Professor für Digitale Medien Martin Warnke für Simulationen argumentieren, lediglich der Anschein von Evidenz.
Nicht nur, aber insbesondere vor diesem Hintergrund und trotz der Unterschiede zwischen diesen künstliche Intelligenz-Technologien und Computersimulationen liefern Dippel und Warnke mit ihrer Publikation „Tiefen der Täuschung“ eine erkenntnisbringende Auseinandersetzung mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Verunsicherungen. Sie beschäftigen sich mit diesen, indem sie das Feld der Quantenphysik und der ereignisbasierten Computersimulationen anhand des Beispiels des Doppelspaltexperiments in den Blick nehmen und analysieren. Auf anschauliche Weise argumentieren sie in vier Kapiteln, dass sich mit dem Zeitalter des Computers das Verhältnis des Menschen zur Welt verändert hat. Sie diagnostizieren eine Erschütterung des physikalischen Weltbildes, das auf „Ersten Prinzipien“ gründet. An die Stelle kausaler Naturgesetze treten nun Massen an digitalen Daten und softwarebasierten Regeln, aus denen Wahrscheinlichkeiten berechnet und Modelle entwickelt werden. Computersimulationen als neue Medien nähern sich der Welt operativ an und produzieren dabei, in Anlehnung an Claus Pias („On the Epistemology of Computer Simulation“, 2010), ein Konzept relativer Wahrheit. Dippel und Warnke argumentieren, dass hiermit die Mehrdeutigkeiten der Welt auf binäre Werte reduziert werden und dies „gerade zu einem Vertrauensverlust in jede verlässliche Perspektive auf Welterkenntnis“ (9) führt. Wie Medien den Zugang zur Welt und somit zum Weltverständnis prägen und wie Menschen in Zeiten von Computersimulationen und digitalen Kulturen insgesamt Sicherheit und Sinn oder eine „simulative Alltagsliteralität“ (137) erlangen können, sind die übergreifenden Fragen, die Dippel und Warnke beschäftigen. Darüber hinaus gehen sie anhand einer Gegenüberstellung von Computersimulationen und der etablierten theoretischen Physik der Frage nach, welche Folgen die Simulierung von Welt für die Produktion und Ordnung von Wissen hat und wie diese eine neue Form physikalischer Theorie hervorbringt.
Methodisch basiert das Buch auf der mehrjährigen ethnografischen Zusammenarbeit von Dippel und Warnke, in der sie mithilfe qualitativer Interviews und teilnehmender Beobachtung die Arbeit der Computational Physicists Kristel Michielsen und Hans de Raedt zu quantenphysikalischen Experimenten in Form von Simulationen am Forschungszentrum Jülich erforschten. Sie greifen theoretische Konzepte aus den feministischen Science and Technology Studies, dem Neuen Materialismus und der Medientheorie auf und stellen einen produktiven Dialog zwischen ihnen her, um die Position des operativen Realismus zu entwickeln.
Im ersten, einleitenden Kapitel wird der Anspruch des Buches, Erkenntnisse über die Physik und den konkreten Fall des Doppelspaltexperimentes hinaus für die „Analyse der Ordnungen von Wissen und Nicht-Wissen und Versprechungen von Wahrheit und Authentizität in digitalen Zeiten“ (10) zu entwickeln, dargelegt und die These der Wirkungsweisen von Computersimulationen als Medien aufgestellt. Anschließend führt eine dichte Beschreibung im zweiten Kapitel in das informatische und simulativ-modellierende Vorgehen der Forscherinnen und Forscher in Jülich ein. Die Computational Physicists verfolgen das Ziel, in der Physik etablierte Theorien und Annahmen auf eine simulative Weise zu prüfen. Während sie den Computer als Werkzeug verstehen, zeigen Dippel und Warnke aber, dass Computer und Simulationen, wie alle Medien, wirkmächtig sind und somit Denken und die Wissensgenerierung mit formen. Dies ist auch als Appell zu verstehen, denn wenn Medien als bloße Werkzeuge verstanden werden, „laufen Simulationen Gefahr, positivistischen und unterkomplexen Weltdeutungen zuzuspielen“ (61).
Im Zentrum der Publikation im zweiten und dritten Kapitel steht das Fallbeispiel des Doppelspaltexperiments, eines der bedeutendsten Experimente der Physik, das von den Forschenden in Jülich simuliert wird. Um die Unterschiede zwischen der Durchführung des Doppelspaltexperiments im Labor und dessen Beschreibung durch die Quantenmechanik einerseits und der Simulation des Experiments mit Computern andererseits nachvollziehbar zu machen, erfolgt eine knappe Beschreibung der Grundlagen der Quantenmechanik. Mit dem Doppelspaltexperiment können der quantenmechanische Welle-Teilchen-Formalismus und dessen Schwierigkeiten demonstriert werden. Quantenmechanisch wird die Wellenfunktion als Beschreibungsformalismus zum Doppelspaltexperiment genutzt. Allerdings muss dabei die Messung selbst ausgeschlossen werden und bildet daher, wie Dippel und Warnke es angelehnt an die Anatomie des Auges nennen, den „blinden Fleck“ der Quantenmechanik. Mit der ereignisbasierten Computersimulation betritt nun ein neues Medium die Bühne der Quantenphysik, das einen operationalen Zugang zur Welt eröffnet. Dippel und Warnke veranschaulichen, wie sich mit der Simulation des Doppelspaltexperiments auch die epistemischen Blickwinkel und mit diesen die wissenschaftlichen Konzepte und Wahrheitskriterien verändern (65).
In Jülich wird das physikalische Experiment in Computercode übersetzt und werden so die Messdaten simuliert, ohne dabei den quantenmechanischen Hypothesen zu folgen oder deren Differenzialgleichungen einzubeziehen. Statt der quantenmechanischen Wellenfunktion werden in der Computersimulation die Ereignisse selbst modelliert. Somit und Paul Feyerabend folgend („Wider den Methodenzwang“, 1965) argumentieren Dippel und Warnke, modelliert die Simulation nicht nur Natur, sondern liefert neue theoretische Ansätze. Mit dieser Beschreibung der Ereignisse gelangen die Forscherinnen und Forscher zum gleichen Ergebnis wie das Doppelspaltexperiment im Labor. Sie stellen mit dem Computer als Medium die führende Interpretation der Quantenmechanik infrage, zeigen sie doch, dass die Phänomene auch mit Beobachtenden lokal und deterministisch beschreibbar sind. Das Ziel der Simulation ist schließlich, die gleichen Messdaten des Experiments zu erhalten, auch wenn dafür andere Wege gegangen und somit mit Computern neue Beschreibungsformalismen für physikalische Prozesse entwickelt werden müssen. Allerdings hat auch die Computersimulation, wie jedes Medium, ihren „blinden Fleck“. Dieser liegt laut Dippel und Warnke in der „Undurchschaubarkeit“ (107) des Computercodes. In Computersimulationen kommt es durch ihre „operativ-mediale Natur“ (130) zu einer Verschmelzung von Theorie und Methoden.
Von diesen Beobachtungen ausgehend diskutieren Dippel und Warnke Computersimulationen als eine neue Form von Theorie. Die Verifikation der Simulation verläuft dabei, so die beiden, durch den Vergleich mit dem Experiment und nicht mit den etablierten Prinzipien der mathematischen Physik. Es ist letztendlich eine Frage der Täuschung: Sind die Simulationsergebnisse ununterscheidbar von jenen im Labor, werden sie als wahr angenommen. Mit der Einführung von Computersimulation als Theorie findet eine epistemische Verschiebung statt, bei der die „Theorieanlage […] selbst ‚kybernetisch‘, selbstreflexiv und vor allem: operational“ (110) wird. Neben die reproduktiven und deduktiven Formen der Selbstvergewisserung der klassischen Quantenmechanik tritt, so Dippel und Warnke, eine neue Form, die auf Ähnlichkeit basiert. Dies führt sie zur Einführung der Position des „operationalen Realismus“.
Mit dem operationalen Realismus möchten sie Karen Barads Konzept des „agentiellen Realismus“, der aus Barads philosophischem, feministisch wissenschaftstheoretischem und physikalischem Denken hervorgeht, weiterentwickeln. Barad beschreibt basierend auf Niels Bohrs Betrachtungen der Quantenmechanik, wie Phänomene erst in den Intra-Aktionen von Experimentaufbau, Messung und Beobachtung entstehen. Jedoch habe Barad, so Dippel und Warnke in einem Interview,[1] dabei die Wirksamkeit der Medien übersehen. Der operationale Realismus als medienreflektierte wissenschaftliche Haltung erweitert den agentiellen Realismus nun genau um den Einbezug der unterschiedlichen Wirkungsformen von Medien und den operationalisierten Bezug des Computers zur Welt, der das Weltverständnis heute entscheidend mit formt.
Im vierten Kapitel abstrahieren Dippel und Warnke schließlich von den Beobachtungen des simulierten Experiments und seinen Auswirkungen auf die Wissenskulturen „in der Digitale“[2] und vergleichen dies mit den anfangs diagnostizierten aktuellen gesellschaftlichen Verunsicherungen. Mit der Analyse des Doppelspaltexperiments zeigen sie, „inwieweit traditionelle mathematisch-analytische und simulative Verfahren unterschiedliche theoretische Perspektiven liefern“ (112). Sie argumentieren, dass Computersimulationen mit ihrer probabilistischen Argumentationsweise zu der Vervielfältigung von Wirklichkeitsinterpretationen beitragen (114). Während ein Pluralismus und das Hinterfragen der eigenen Annahmen, Theorien und Medien für die Wissenschaft zum Erkenntnisgewinn notwendig sei, könne ein solcher Konflikt in der Öffentlichkeit Verunsicherungen verstärken. Die beobachtete Gewissheitskrise vor dem Hintergrund probabilistischer Theorien verlangt nach neuen Formen der Selbstvergewisserung und der Prüfung bestehender Methoden zur Rückgewinnung von „Rückhalt“ (120). Dippel und Warnke diskutieren verschiedene Methoden und Wege zu einer solchen neuen Selbstvergewisserung. Dabei können gerade die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, besonders posthumanistische Ansätze sowie ethnografische, verstehende Zugänge, die mit den Widersprüchlichkeiten und Unsicherheiten des Alltags umgehen und mit ihnen Beschreibungen erzeugen, dazu beitragen und die Bedingungen erzeugter Wirklichkeiten sichtbar machen. Dippel und Warnke fordern sowohl zur Multiplizität verschiedener Ansätze und Theorien, der Vervielfachungen von Simulationen auf, als auch zur Schaffung von disziplinübergreifenden Verbindungen, denn nur so könnten die Täuschungen einzelner Modelle oder Simulationen umgangen werden. Gleichzeitig sei die Übung eines gesellschaftlichen Verständnisses der Funktionsweise von Wissenschaft und der Wirkungszusammenhänge digitaler Medien zentral, um Selbstvergewisserung in Zeiten digitaler Kulturen und „illusorischem Spektakel“ (112) zu ermöglichen.
Diese Aufforderung erinnert mich an Sherry Turkles Aufruf zur Entwicklung von „habits of readership appropriate to a culture of simulation“,[3] den sie vor dem Hintergrund des Wandels von transparenten zu intransparenten Computerkulturen Ende des 20. Jahrhunderts formulierte. Dippel und Warnkes Appell ist heute in Zeiten, in denen Simulationen über Computerspiele und Stadtplanung hinaus auch den Verlauf von Pandemien und davon ableitend das geforderte Verhalten beschreiben, umso drängender. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verunsicherungen zeigen, welche große Wichtigkeit der Entwicklung einer solchen „Alltagsliteralität“ in Zeiten von Fake News, Computersimulationen und ChatGPT zukommt.
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um ein mutiges Buch, schließlich spricht es verschiedene Disziplinen mit unterschiedlichsten Epistemologien gleichzeitig an. Dippel und Warnke geben einen eindrucksvollen Blick in das Erkenntnispotenzial einer ethnografischen Untersuchung von Quantenphysik und Computersimulationen und deren Wirkmächtigkeiten. Dabei stellt das Buch selbst ein Zeugnis der Bedeutung solcher Zusammenarbeit für die Erschließung und das Verständnis (neuer) soziotechnischer Felder dar. Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive legen Dippel und Warnke zudem eine wichtige Grundlage für die Erforschung von Feldern, die bis dato noch nicht im Themenspektrum der Empirischen Kulturwissenschaft etabliert sind. Die Publikation zeigt, wie ethnografische Analyse dazu beitragen kann, die Logiken und Verständnisse hinter der Produktion neuen Wissens zugänglich zu machen, die notwendig sind, um einen Umgang mit neuen Wissensformen und Medien zu finden. Das Buch deckt auch die Selektivität und Auslassungen, die mit jeder Methodik und jedem Medium – über das beschriebene Feld hinaus – einhergehen, auf und zeigt die Bedeutung der Reflexion dieser im Prozess der Wissensgenerierung.
Die ethnografische Nachzeichnung des Vorgehens der Computational Physicists kann dabei auch als eine Erzählung über Boundary-Making in der wissenschaftlichen Disziplin Physik verstanden werden, denn die Arbeiten der Forscherinnen und Forscher werden bis dato nicht von der breiten theoretischen Physik anerkannt. Es wäre interessant, noch mehr über die grenzziehenden Argumente zu erfahren, mit denen ihre Arbeiten in Jülich von der etablierten theoretischen Physik abgelehnt werden. Schließlich handelt es sich bei der beschriebenen Simulation des Doppelspaltexperiments doch auch um eine spezifische Simulation. Auch die Rolle der Programmierung, der Praktiken der Simulation selbst wäre spannend weiter zu denken. Diese gerät, dem Fokus auf das Medium der Simulation selbst geschuldet, etwas aus dem Blick, was jedoch nicht den Beitrag der Publikation verringert, sondern vielmehr weitere Denkprozesse anstößt, die in anderen Forschungen auszuführen sein werden. Zusammengefasst gelingt es Dippel und Warnke mit „Tiefen der Täuschung“, die Bedeutung der Diskussion und Reflexion der Medien, die gegenwärtig Wissen schaffen, welches Gesellschaft strukturiert und Alltagswelten formt, nachvollziehbar zu beschreiben und den von ihnen geforderten Dialog loszutreten. Somit ist das Buch nicht nur allen empfohlen, die Interesse für die Felder der Quantenphysik und Computersimulationen haben, sondern auch allen, die die gesellschaftlichen Verunsicherungen, die mit Computersimulationen und generativer künstlicher Intelligenz Einzug erhalten haben, verstehen und vielleicht sogar angehen möchten.
Anmerkungen
[1] Dominikus Herzberg: Im Gespräch: Anne Dippel und Martin Warnke – Tiefen der Täuschung: Computersimulation und Wirklichkeitserzeugung. In: Herzbergs Hörsaal: Informatik studieren mit den Ohren, 31. Aug 2022, podcasters.spotify.com/pod/show/dominikusherzberg/episodes/Im-Gesprch-Anne-Dippel-und-Martin-Warnke--Tiefen-der-Tuschung-Computersimulationen-und-Wirklichkeitserzeugung-e1n7gc9/a-a8f89dk [20.6.2023].
[2] Anne Dippel: Schwindel in Der Digitale. Re/Visionen Einer Kulturanalyse Des Alltags. In: Kuckuck – Notizen Zur Alltagskultur, „Code“ (2021), H. 1, S. 6–10.
[3] Sherry Turkle: The Second Self. Computers and the Human Spirit. Cambridge, MA 2005 (orig. 1984), S. 14.