Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Kaspar Maase

Schönes alltäglich erleben. Über die Ästhetisierung der Kultur

(Edition Kulturwissenschaft 265), Bielefeld 2022, transcript, 192 Seiten, ISBN 978-3-8376-6117-0


Rezensiert von Harm-Peer Zimmermann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.09.2023

Ästhetische Potenziale der Massenkultur lassen sich – mit Georg Simmel gesagt – in zweierlei Hinsicht beobachten: einerseits an der „objektiven Kultur“, das ist an alltäglichen Gebrauchsgegenständen, am Design, an der Mode, der Kulinarik, der Gestaltung des öffentlichen Lebens etc. pp.; andererseits an der „subjektiven Kultur“, das ist am zunehmenden Schönheitssinn in der Bevölkerung, an massenhaft verbreiteten Praktiken, die darauf Wert legen, das persönliche und das gemeinschaftliche Leben schön zu gestalten, etwas Schönes zu erleben, sich Freude und Vergnügen zu bereiten. Vor allem diese subjektive Seite ist es, auf die dieses beeindruckende Buch von Kaspar Maase abzielt: Es bietet nicht weniger als eine umfassende Theorie des ästhetischen Sinns und Tuns breiter Bevölkerungsschichten im tagtäglichen Leben, womit der Autor zugleich die Summe seiner jahrzehntelangen Forschungen und Bemühungen um eine Rehabilitation der Massenkultur zieht.

Das ist ein riskantes Vorhaben, denn es positioniert sich ausdrücklich gegen den „Negativ-Diskurs“ (137), gegen das Verdikt über die Massenkultur, wie es etwa in der bürgerlichen Erziehung seit dem 19. Jahrhundert und wie es in der philosophischen Ästhetik vorherrscht: Massenkultur bedeutet demnach Entfremdung, Verblendung, Verwüstung des Geschmacks. Es ist eine Ästhetik von unten, mit der sich Kaspar Maase auch von Größen wie Kracauer, Adorno und Horkheimer abgrenzt. Um aber den „‚Schönheitssinn‘ der Massen“ (101) zu legitimieren, kann sich Kaspar Maase auf andere Größen berufen: auf Simmel, Benjamin (Bloch wird leider nicht erwähnt) und dann vor allem auf die Theorie der Lebenswelt, die Cultural Studies, die alte und die neue Phänomenologie und die reichen Quellen der aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Ästhetik. Kaspar Maase knüpft ein hochkomplexes Netz an Referenzen, womit er sich in souveräner Manier an keine Disziplingrenzen hält, sondern an Ideen und Literatur aufgreift und aufbereitet, was für die Massenkultur und für den Massengeschmack spricht. Das sind so zahlreiche und vielfältige Bezüge, dass sie hier nur in einer kleinen Auswahl gewürdigt werden können.

Das Buch ist zwischen Einleitung und Ausblick übersichtlich in fünf Kapitel gegliedert, die jeweils empirische (auch historische) und systematische Erkenntnisse miteinander verweben. Dabei werden die Leserinnen und Leser mit einer argumentativen Kraft für die ästhetischen Potenziale der Massenkultur sensibilisiert, die nicht nur vollauf überzeugend ist, sondern die sie geradezu als Fans derselben entlässt. Es beginnt (Kapitel 1 und 2) mit der Entfaltung des empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungsansatzes, der durchweg (und was wäre sympathischer?) in der Perspektive „gewöhnlicher Nutzerinnen und Gebraucher“ (10) besteht, nämlich auf das ästhetische Erleben und die ästhetischen Praktiken von Alltagsakteurinnen und Akteuren sieht. Das heißt auch, Kunst, Ästhetik, Schönheit neu aufzufassen, indem sie in den begrifflichen Kontext von Lebenswelt und Alltag gesetzt werden. Man kann sagen: Kaspar Maase kommt auf Kants Ästhetik („Kritik der Urteilskraft“) zurück, indem er Sinne, Gefühle, Wahrnehmungen, Geschmacksurteile über das Schöne in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt, zumal wenn er das alltägliche ästhetische Empfinden und Erleben als „Selbstzweck“ (49, 54, 56) bezeichnet. Damit wird eine deutliche Abgrenzung auch von Bourdieu vorgenommen, insofern dieser den Massengeschmack ganz an Klassenlagen, Habitus und Distinktionsverhalten bindet, während es Kaspar Maase auf das „Befreiungsgefühl“ (56), den Überschuss, das Surplus des Genusses ankommt (selbstverständlich ohne, dass damit Fragen nach Milieus, Kontexten und Situationen ausgeblendet würden).

Alltag und Lebenswelt sind die Leitbegriffe (Kapitel 3). Kaspar Maase folgt damit grundlegend vor allem Husserl und der nachfolgenden soziologischen Phänomenologie von Schütz, Berger und Luckmann. Strukturelle Zwänge und Macht, wie sie Wiederholungen, Routinen und der Fraglosigkeit des alltäglichen Tuns innewohnen, werden zwar angedeutet, aber in der Hauptsache ausgeklammert zugunsten eines wissenschaftlichen Pragmatismus, der eben auf Praktiken, auf pragmatische Kompetenzen und effektives Handeln von Akteuren bedacht ist. Kaspar Maase geht es zuallererst um close reading und dichte Beschreibung, also um die Nähe zu den Akteurinnen und Akteuren, ihrem Erleben, ihren emotionalen und körperlichen Reaktionen. Ästhetik kreuzt sich hier mit Aesthesis: mit der Theorie vom Vermögen der Sinne, der sinnlichen Empfindung und Erfahrung, des affektiven Wahrnehmens und Bewertens (Kapitel 4). Auch in Beziehung auf die Sinne im Allgemeinen wendet sich Kaspar Maase gegen Negativierungen, die das „bloß Sinnliche“ (129) verächtlich machen. Dagegen bietet er mit Gernot Böhme die Ganzheitlichkeit des ästhetischen Erlebnisses auf, die Synästhetik, die auch Wissen, Vergleichen und Reflektieren mit umfasst (Kapitel 4 und 5). Denn der Genuss am Schönen verstärkt sich, wenn er Resonanz erfährt in Vorerfahrungen und in Kenntnissen; und er verstärkt sich, wenn er Resonanz hat in der Mitwelt, wenn andere Menschen mitgenießen, wenn Kommunikation und Interaktion stattfinden.

Dieses Buch lotet die Dimensionen alltagsästhetischen Erlebens umfassend aus: innere und äußere ebenso wie individuelle und intersubjektive. Es ist ein schönes, ein großes Buch geworden. Man mag kritisieren, dass es für ein Buch aus der „empirischen“ Kulturwissenschaft ziemlich theorielastig geraten ist. Aus Sicht der Erzählforschung ließe sich fragen, warum eine ganze Dimension des Schönen und des Genusses zu kurz kommt: Narrative Aspekte finden sich nur gelegentlich und dann sehr kurz eingestreut. Aus Sicht der philosophischen, soziologischen und semiotischen Ästhetik ließe sich monieren, dass vitalistische Ansätze pauschal negiert werden; dass der Vordenker der Massenkultur und ihrer Ästhetik, Umberto Eco („Apokalyptiker und Integrierte“), nicht nennenswert erwähnt wird und dass die schöne Theorie von Hans Ulrich Gumbrecht über die Freude der Massen am Sport fehlt usw. Und bei allem Verständnis für die Ausklammerung des „Negativ-Diskurses“ bleibt doch die Frage brennend offen, wie eine Ästhetik des Alltags auf gewaltbereite Szenen antwortet, auf den „Schönheitssinn“ etwa von Hooligans, Querdenkern, Verschwörungsideologen, Rechtsradikalen. Aber all diese möglichen Einwände können das große Verdienst dieses Buches keineswegs schmälern: Es handelt sich um ein Grundlagen- und Meisterwerk zur Ästhetik des Populären und ihrer Rechtfertigung.