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Markus Rodenberg
Gelebte Räume. Behelfsheime für Ausgebombte in Franken
(Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums des Bezirks Mittelfranken 90), Bad Windsheim 2020, Fränkisches Freilandmuseum, 424 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-946457-13-8
Rezensiert von Michael Schimek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.09.2023
„Enge, Mangel, Frost und Hitze, stinkende Abortgruben, Konflikte“ – „Das Leben in den eigenen vier Wänden, mit Rückzugsraum, Privatsphäre, Gestaltungsfreiheit und Abstand“ (329): Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich das Wohnen in sogenannten Behelfsheimen. In seiner ebenso material- wie gedankenreichen Dissertation geht Markus Rodenberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fränkischen Freilandmuseum Bad Windsheim, dieser sowohl von der Architekturgeschichte als auch der volkskundlich-historischen Hausforschung bisher kaum wahrgenommenen Wohnform auf innovativ-inspirierende Weise am Beispiel Frankens nach. Auf die massenhafte Zerstörung von Wohnraum für rund 7,5 Millionen Menschen (116) durch deutschlandweite alliierte Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs reagierte das NS-Regime im September 1943 mit einem Programm zum Bau von Einfachst-Kleinsthäusern. Zuständig wurde das hierfür gegründete „Deutsche Wohnungshilfswerk (DWH)“ unter Leitung des „Reichswohnungskommissars“ Robert Ley, nach dem die entweder in massiver Bauweise oder als Holzkonstruktion errichteten „Behelfsheime“ vom Volksmund treffend „Leybuden“ genannt wurden (133). Auf etwas mehr als 20 m² Grundfläche je Einzelhaus, das sich in zwei Räume teilte, sollten im eigens entwickeltem „Reichseinheitstyp 001“ vier bis fünf Personen unterkommen; in den weniger häufig realisierten Doppelhäusern entsprechend mehr. Überzeugend schildert Rodenberg das bauliche Resultat des kriegsverursachten akuten Wohnraum- und Ressourcenmangels in seiner Abhängigkeit von bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzenden und während der Weimarer Republik forcierten wohnungsreformerischen Überlegungen zu wohnlichen Mindeststandards. Diese richteten sich sowohl auf die material- und aufwandsparende Normierung von Bautechniken als auch wohnideologisch auf das Einfamilienhaus-Ideal. Demgemäß verweist der euphemistische Terminus „Behelfsheim“ zum einen auf den vorläufigen Charakter der materialsparendst und ohne reguläres Baugenehmigungsverfahren möglichst in Eigenhilfe errichteten Bauten, die in der Tat nach dem „Endsieg“ zugunsten „anständiger“ Häuser wieder abgebrochen werden sollten (19, 137). Zum anderen spielt das Behelfsheim im Gegensatz zur barackenhaft konnotierten Gemeinschaftsnotunterkunft auf das seit dem Kaiserreich (bis heute) wohnpolitisch favorisierte Eigenheim in Form des Einfamilienhauses mit Garten und den eingangs genannten Positiv-Attributen an. Der den Behelfsheimen in der Regel beigegebene mindestens 200 m² große Nutzgarten sollte nicht nur der Eigenversorgung dienen, sondern die Bewohnerinnen und Bewohner zusätzlich „an die Scholle binden“ und so sozial befrieden (94–115, 155–156).
Markus Rodenberg zeichnet detailliert die von NS-typischem Kompetenzgerangel konkurrierender Personen, Stellen und Institutionen begleitete (Er-)Findung des Bautyps Behelfsheim auf Reichsebene nach (116–166), um dann ausführlich die tatsächliche verwaltungstechnische Umsetzung am Beispiel Frankens vorzustellen (167–238). Diese forschungspraktische Konzentration auf einen überschaubaren Raum ergibt sich aus dem diesbezüglichen Interesse des Fränkischen Freilandmuseums, das zwei Behelfsheime übernommen hat, was die große Bedeutung dieser Museumsgattung für die Erforschung historischer Baukultur unterstreicht. Auf regionaler Ebene oblag die Umsetzung des Programms den „Gauleitern“ – und damit der NS-Partei-Organisation – sowie örtlich in der konkreten Realisierung den Bürgermeistern und damit der kommunalen Administration. Gemessen an der propagandistisch ausgeschlachteten selbst gesetzten Anzahl von einer Million zu errichtender Behelfsheime bedeuteten die rund 100 000 tatsächlich entstandenen Kleinsthäuser, von denen eine Vielzahl erst nach Kriegsende fertiggestellt wurde, das Scheitern der „totalen Wohnungspolitik“ (123, 131, 154, 378–379) des NS-Regimes. Rodenberg weist jedoch bisherige Negativ-Urteile relativierend zurecht auf die besondere Bauleistung hin, unter den widrigen Umständen der von massivem Material- und Bauhandwerkermangel geprägten Kriegs- und direkten Nachkriegsjahre Wohnraum für rund 100 000 Familien bereit gestellt zu haben, die als Ausgebombte oder Flüchtlinge und Vertriebene mehrheitlich vor dem Nichts standen (168, 176–178).
Von diesen geschilderten Rahmenbedingungen ausgehend, nähert sich Rodenberg in zehn aufschlussreichen Fallstudien aus dem nördlichen und zentralen Mittelfranken dem konkreten Behelfsheim-Bau- und ‑Wohnalltag – und damit den titelgebenden „Gelebten Räumen“ (239–338). Dabei nimmt er quellenkombinatorisch geschickt sechs Behelfsheim-Siedlungen und vier Einzel-Bauten in den Blick, denn Behelfsheime wurden gerade im Umfeld bombenkriegszerstörter Städte, wie Nürnberg, in größerer Menge in Siedlungen zusammengefasst oder entstanden im dörflichen Rahmen meist in kleiner Zahl oder als Solitäre. Auf der Grundlage von archivalischen Bauunterlagen, historischen Fotos, noch bestehenden Bauten und vor allem Interviews gelingt es Rodenberg, die große Varianz des Lebens in und mit diesen eigentlich auf Einheitlichkeit angelegten Kleinsthäusern sowohl innerhalb einzelner Haushalte als auch innerhalb der Siedlungen beziehungsweise Dorfbevölkerungen aufzuzeigen. Quellenkritisch anzumerken ist, dass die 15 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen naturgemäß ausschließlich Kindheitserinnerungen einbringen konnten. Zwar beinhalteten diese die eingangs benannten dürftigen Wohnbedingungen, zugleich wurden aber die engebedingte große Nähe zu Eltern, Geschwistern und Nachbarskindern und vor allem die naturnahen und deshalb einer glücklich empfundenen Kindheit förderlichen Lebensverhältnisse positiv erinnert (288–289, 239). In dieser Hinsicht reüssierte das Kalkül der NS-Wohnungsbaupolitik, wollte diese doch Städter wieder aufs Land bringen, was zumindest für die dort aufgewachsenen Stadt-Kinder nicht selten zutrifft (295, 330, 343). Zumal entgegen den NS-Planungen eine Großzahl von Behelfsheimen nicht nur erst nach Kriegsende fertiggestellt, sondern auch über Jahrzehnte weiter bewohnt und nicht, wie ursprünglich angedacht, abgerissen wurde. Dieser Weiternutzung, die allerdings vor allem die massiv aufgemauerten Behelfsheime betraf, geht der Autor in einem eigenen Kapitel nach (339–374). Die hölzernen „Leybuden“ erwiesen sich als tatsächliche Provisorien, die baulich nicht mit Um-, An- und Überbauten an die gestiegenen Wohnbedürfnisse der Wirtschaftswunderzeit angepasst werden konnten. Manches massive Behelfsheim steckt hingegen noch heute, wenn auch unsichtbar, in einem schmucken Einfamilienhaus und wird somit weiter bewohnt (222, 383).
Nachdem viele der ursprünglich adressierten Ausgebombten die Provisorien bald wieder verlassen haben, bildeten sie als „Wohnhäuser mit Zukunftspotenzial“ (343) den häuslichen Rahmen für die Integration von Kriegs-Flüchtlingen und -Vertriebenen in die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Der vor dem Hintergrund kriegsbedingter Mangelwirtschaft erfolgte NS-Behelfsheimbau mit seinen minimalen Wohnstandards und der Verwendung sämtlicher geeignet erscheinender Materialien bis hin zur für die Dacheindeckung lokal erprobten Fichtenschälrinde (205) lässt sich als klassische Not-Innovation nach Günter Wiegelmann fassen. Die von Rodenberg beschriebenen wohnlichen Aneignungs- und Nutzungsmuster bieten zudem anregende historische Anknüpfungspunkte zur aktuell geführten Diskussion um ein angemessenes Wohnen, wie sie etwa in der Tiny-House-Szene geführt werden.
Mit seiner profunden Studie zu Behelfsheimen rückt Markus Rodenberg nicht nur ein bisher kaum erforschtes und sehr spezielles, aber dennoch überaus aussagekräftiges Haus- und Wohnsegment ins Blickfeld der historischen Haus-, Bau- und Architekturforschung. Darüber hinaus – und das macht den besonderen Wert seiner nicht allein des Umfangs wegen schwergewichtigen Arbeit aus – tut er dies in sehr reflektierter Weise theoretisch fundiert. Nach obligatorischer Schilderung der verfolgten Fragestellungen, verwendeten Grundbegriffe, zugrunde liegenden Quellenbasis, der angewendeten Forschungsmethoden sowie des schmalen Forschungsstandes (19–44) setzt sich der Autor vor dem Hintergrund bisheriger volkskundlich-historischer Hausforschung eingehend mit aktuellen raumtheoretischen Konzepten auseinander, wie sie seit einiger Zeit im Rahmen des spatial turns auch von der Kulturanthropologie rezipiert werden (53–93). Ebenso kenntnisreich wie pointiert prüft Rodenberg die diesbezüglichen Überlegungen Henri Lefebvres, Johanna Rolshovens, Pierre Bourdieus, Anthony Giddens’, Dieter Läpples und Michel Foucaults auf Tauglichkeit für seine Studie und damit für die kulturanthropologisch-volkskundliche Hausforschung. Diese arbeitet bislang hauptsächlich mit einem 1976 von Konrad Bedal in der Zeitschrift für Volkskunde vorgestellten vierstufigen Analyseschema zur Erforschung von Gebäuden, das sich in etwas modifizierter Form seit nunmehr einem halben Jahrhundert in zahlreichen Studien bewährt hat. Ausgehend von der am Gebäude selbst oder in Bauunterlagen abzulesenden Materialität und der ebenfalls im Gebäude und/oder in Gebäudedokumentationen zu erkennenden Anordnung von Räumen werden unter Einbeziehung weiteren Quellenmaterials Funktionsweise und Nutzung des Gebäudes, seiner Räume und seines Umfeldes erschlossen, um schließlich die ebenfalls quellenkombinatorisch zu ermittelnden sozialen Hintergründe des Gebäudes zu erhellen und so die gebäudenutzenden Menschen sichtbar werden zu lassen. Ganz bewusst wollte Bedal dieses Analyseschema nicht als Theorie verstanden wissen (51–53). Rodenberg stützt sich für die Analyse „seiner“ Behelfsheime vor allem auf das raumtheoretische Konzept Henri Lefebvres, der Raum nicht (nur) als physisch fassbaren Raum (Behälter) begreift, sondern als „soziales Produkt“. Dieses identifiziert der französische Soziologe auf den drei miteinander verschränkten Ebenen des „gedachten Raumes“, des „wahrgenommenen Raumes“ und des „gelebten Raumes“. Rodenberg nutzt diese Ebenen in erkenntnisleitender Weise, indem er sein unter Anwendung des Bedalschen Analyseschemas gewonnenes Material diesen Ebenen zuordnet und seine trotz des theoretischen Anspruchs gut lesbare Arbeit in überzeugender Weise entsprechend gliedert. Letztlich gelingt ihm damit eine nachträgliche theoretische Fundierung des bisher in der volkskundlich-kulturanthropologischen Hausforschung angewandten Analyseverfahrens, das so für andere fachliche und thematische raumbezogene Zusammenhänge anschlussfähig wird. Der Hausforschung eröffnet dieser raumrelationale Ansatz fruchtbare zusätzliche Perspektiven (389), etwa auf von Gebäuden ausgehende und auf diese wirkende Handlungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster oder auf Fragen der sich im alltäglichen Handeln manifestierenden Raumaneignung und ‑produktion durch die Akteurinnen und Akteure (321). Diese Aspekte lassen sich allerdings umso besser fassen, je näher der Untersuchungszeitraum an die Gegenwart heranrückt und entsprechendes Quellenmaterial, insbesondere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, zur Verfügung steht (81). Nicht zuletzt hierauf weist Markus Rodenberg in der konzisen Zusammenfassung (375–389) seiner vorbildlichen Studie hin, deren Lektüre innerhalb der Hausforschung, aber auch darüber hinaus sehr zu empfehlen ist.