Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Jan Waßman

(Selbst-)Bilder eines Bremer Kaufmanns. Repräsentationen zwischen europäischem Lebensstil, Deutschtum und kolonialer Metropole. Die Sammlung Johann Lauts im Übersee-Museum Bremen

(Studien zur Materiellen Kultur 49), Oldenburg 2022, Institut für Materielle Kultur, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 157 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-943652-52-9


Rezensiert von Andrea Schilz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.09.2023

Über die Schriftenreihe „Studien zur Materiellen Kultur“ des Instituts für Materielle Kultur der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sind seit 2011 bis dato 56 Arbeiten via Open Access veröffentlicht worden, die „transdisziplinäre Ansätze der Sachkulturforschung und Modetheorie mit denen der Cultural Studies und der Kulturanalyse“ (Präambel) verbinden; publiziert werden dafür qualifizierte Abschlussarbeiten sowie „Ergebnisse aus (Lehr-)Forschungsprojekten“ (vergleiche https://uol.de/materiellekultur/forschung/schriftenreihe).

Der Band 49, geführt in der Unterreihe „Museum und Ausstellung“, stammt von Jan Waßmann, zum Zeitpunkt der Niederlegung dieser Rezension tätig am Übersee-Museum Bremen (Abteilung Ozeanien). Vordem Hilfskraft im Museum, war er auf eine fotografische Sammlung aus China gestoßen: 862 Fotos, entstanden zwischen ca. 1895 und 1906 (23), die er später dem Bremer Kaufmann Johann Theodor Lauts (1855–1944) zuordnen konnte (8). Bei dem Material handelt es sich um „schwarz-weiß Negative auf Glasträgern in den Formaten 12 x 9 cm und 12 x 16 cm […] in sechs Holzkisten“ (21); Waßmann identifiziert die Kamera auf Fotos mit Lauts als einen Goerz Anschütz „Klapp-Apparat“ (ebd.). Als Waßmann 2019 die Kabinettausstellung Hongkong Connection am Übersee-Museum kuratierte, kamen „Objekte aus der ethnologischen und der naturkundlichen Abteilung hinzu, die von Lauts oder Personen aus seinem Umfeld stammten“ (8, Fußnote 2), Bremer Kaufleuten in China.

Der heutige Sammlungsbestand des Übersee-Museums ist nach Waßmann insgesamt markant geprägt durch einstige Eingänge in das Museum für Natur-, Völker- und Handelskunde durch „[d]eutsche Kaufleute und Reedereien, die während der Kolonialzeit in außereuropäischen Ländern tätig waren“ (8). Dieser für einschlägige Sammlungen typische Umstand hat im postkolonialen Diskurs einige Prominenz erlangt. In Reaktion darauf ist die nötige – und notwendigerweise transparente – Objektkritik Bedingung zeitgemäßen Kuratierens: Hier setzt Waßmanns Arbeit den Hebel an.

„[D]rei Materialarten“ – Lauts’ vorgefundene fotografische Sammlung, in Verbindung mit Lauts stehende Sammlungsobjekte sowie Lauts im Bremer Staatsarchiv verwahrte „Lebenserinnerungen, vornehmlich Aufenthalte in Hongkong, Swatau, Formosa“ – „werden in der Perspektive dieser Arbeit daher als eine Form von Ego-Dokument betrachtet“ (9). Der so generierte Blick auf die konkrete Bedingtheit kolonialen Sammelns „affirmiert freilich die ‚europäische‘ Sichtweise, die kulturelle Repräsentanz der Dinge im Lichte einer globalen Ordnungsvorstellung von verschiedenen Kulturen erst ‚wissenschaftlich‘ erfasst zu haben. […] Im Fokus der Arbeit steht aber die praktische Produktion eben dieses ‚europäischen‘ Blicks.“ (9, Fußnote 4). Diese intentionalen „Produktionsbedingungen“ sind es – die „Materialisierung der (Alltags-)Praxis der mit dem Sammeln befassten Kaufleute“ (9) –, die unter vielfachen Querbezügen analysiert werden, um so „[d]ie Historisierung musealer Bestandsbildung aus der Mikro-Perspektive eines Sammlers“ (Überschrift Kapitel 2, 11) herauszuarbeiten.

Nach der Exposition, in der die Beschaffenheit der drei genutzten Primärquellen detailliert vorgestellt wird und der eine kritische Beschreibung von Lauts Vita folgt, beginnt ab Seite 45 die Analyse des historischen Fotomaterials. Viele der Aufnahmen entstanden bei Freizeitpraktiken wie Spaziergängen und Picknicks. Motive sind so oft gemischte Gruppen von Personen aus Europa, Landschaften, städtische und dörfliche Szenerien. Bildbeschreibungen der Fotografien greifen mit Passagen aus den Memoiren Lauts’ und kontextuellen Fakten so ineinander, dass im Bild-Text-Lesefluss eine differenzierte Annäherung an Alltag und Selbstbild der kolonialen Gesellschaft in Hongkong entsteht. Dem Blick auf die Introspektive der kolonialen Gemeinschaft komplementär ist dabei die Analyse des Blicks auf das Fremde. Als Proof of Concept seien hier „drei rekonstruierte Spaziergänge“ (58–75) angeführt, die die Familie Lauts jeweils mit „dem Bremer Kaufmann Eduard Michaelsen auf Lamma Island“ und „mit einem Ehepaar Fuchs und den Kaufleuten Brodersen und Wilhelm Melchers“ unternommen hatte. „Die Gruppe steuerte vermutlich eine Erhöhung an, die sich in der Nähe des Landeplatzes befand. Der Name der Bucht lautet heute Sok Kwu Wan, aber auch treffend Picnic-Bay. Von der Erhöhung, die Lauts auf den Namen ‚Bismarck Gap‘ taufte, machte er einige Fotos von Landebucht und Landschaft. Eine chinesische Ansiedelung in der Nähe gehörte auch hier wieder zur Reiseroute.“ (59)

Die Analyse des titelgebenden (Selbst-)Bilds schließt die Materialbearbeitung ab; Gegenstand ist eine Selbstinszenierung Lauts in einem für die Verkleidung pragmatisch etwas abgewandelten chinesischen Beamtengewand (119–122), vor einer eigens eingerichteten „Altar“-Kulisse – das Cover der Publikation zeigt eine Fotografie aus dieser Kleinserie. Auch hier zeigt sich, wie genaue Quellenanalyse und weitere Kontextualisierungen zu buchstäblicher Tiefenschärfe führen. So wird sowohl die zeitgenössische ethnografische Literatur eingegrenzt, die sich Lauts zur Kenntnis Chinas angeeignet hatte (123), als auch die mutmaßliche Kontaktsphäre zu Einheimischen (124, 130). Die Analyse schließt mit einer Reflexion der Rückbindung an „Elemente einer vermeintlichen rassischen Überlegenheit des weißen Europas“, die „den Diskurs [bestimmten], was sich auch in einem evolutionären Geschichtsverständnis ausdrückte“ (140).

Das Fazit des Autors endet mit der Feststellung, dass „eine Beschäftigung mit der Historizität [musealer] Sammlungen notwendig [ist], um Grundlagen für Reflexionsprozesse zu schaffen, indem die scheinbare Selbstverständlichkeit der Sammlungs- und Ausstellungspraxis und die Idee eines auf Dauer gestellten Bewahrens und Repräsentierens in den Kontext ihrer gesellschaftlichen und historischen Ursachen gebracht werden“ und mit der „museumswissenschaftliche[n] Frage: Warum ist dieser Modus in der heutigen Gesellschaft nach wie vor von Bedeutung?“ (147). Die vorliegende Arbeit zeigt, wohin Antworten darauf deuten können.