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Guillaume Robin

Berghain. Techno und die Körperfabrik. Ethnographie eines Stammpublikums

Marburg 2021, Büchner, 178 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-96317-274-8


Rezensiert von Anja Schwanhäußer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.09.2023

Nächtliche Vergnügungslokale und Clubs zählen zu den mythologischen Orten der Großstadt, wie Rolf Lindner 2022 in seiner „Anthropologie der Stadt“ schreibt. Einem solchen Ort hat Guillaume Robin, bis vor kurzem Gastforscher am Centre Marc Bloch an der Humboldt-Universität, in seiner Studie zum weltweit berühmtesten Club Berlins, dem Berghain, nachgespürt. Er zitiert gleich in der Einleitung die zwei wohl bekanntesten, selten aber konsequent ausbuchstabierten kulturwissenschaftlichen Konzepte in Bezug auf die Clubkultur: die „Heterotopie“ (Michel Foucault) und den „Nicht-Ort“ (Marc Augé). Obwohl Augé mit den Nicht-Orten keine Industriebrachen meinte, sondern Flughäfen, Bahnhöfe und Raststätten, so bezeugt der Begriff dennoch den transitorischen Charakter nächtlicher, zu „Locations“ umfunktionierter Ruinen der postindustriellen Gesellschaft. Für Robin ist das Berghain ein transgressiver, geselliger, sinnlicher und reflexiver Ort, an dem „sich die Erforschung des Selbst und der Gemeinschaft treffen, wo die Utopien des Körpers Gestalt annehmen“ (10).

Robin hat das genuin ethnologische Ziel, die Clubkultur nicht aus der Sicht seiner musikalischen Akteure (DJs, Clubbetreiber, Partyveranstalter) zu beschreiben, sondern aus der Perspektive des Publikums. Hierfür hat er eine Studie unter Stammgästen durchgeführt und hier speziell den globalen, urbanen Nomaden der „Generation Easy Jet“, wie der Journalist Tobias Rapp sie genannt hat. Methodologisch stützt er sich dabei auf zwölf Interviews sowie etwa 30 Online-Fragebögen, ergänzt durch die überschaubare Zahl von zwölf „Beobachtungssitzungen“ (15) im Club. Er steht dabei vor der Herausforderung, einen quasi-sakralen Ort zu beschreiben, ohne selbst der Mythologisierung aufzusitzen: Die Analyse zielt darauf ab, „über blinde Verehrung des Eingeweihten hinauszugehen und diese Klischees unter die Lupe zu nehmen“ (15).

Eine Gratwanderung zwischen Empathie und Distanz, die nicht immer gelingt, so, wenn er die Berghain-Party zu einem antiken Ritual stilisiert und fragt: „Inwieweit können wir das Berghain als ein Wiederaufleben der Bacchanalien betrachten?“ (12) Diese blumige Formulierung irritiert erst einmal. Es gibt jüngere und Berlin-spezifische Traditionen, die sich für einen Vergleich eher anbieten, zum Beispiel die Tradition der Berliner Geheimbünde oder die queere Szene um Magnus Hirschfeld. Andererseits hat die „Sensual Anthropology“ in der Schule von David Howes (Empire of the Senses, 2005) ebenfalls keine Scheu vor einem gewissen Pathos. So ist denn der Bezug auf die „Bacchanalien“ nicht analytisch zu verstehen, sondern sie sind eine Metapher, um genuine Berghain-Atmosphäre einzufangen, wie sie von einer kosmopolitischen, queeren Szene erfahren wird.

Im ersten Kapitel, „Körper im Raum“, geht es um die besondere Bedeutung des Clubs für sein Stammpublikum und die Formen des Übergangs von der „profanen“ (40) Welt jenseits des Clubs in die „heiligen“ (ebd.) Hallen des Berghains. Mit den Begriffen „Übergangsritual“ (Arnold van Gennep) und „Communitas“ (Victor Turner) beschreibt Robin die räumliche Beschaffenheit, die veränderten körperlichen Wahrnehmungen, das temporäre Gemeinschaftsgefühl sowie die internen Kontrollmechanismen, die eine harmonische Feiernacht gewähren. Die Besonderheit des Berghains sieht er neben seiner symbolträchtigen Lage in der Party-Metropole Berlin in der Aura der Geheimhaltung durch eine strenge Türpolitik und ein Fotografieverbot, eine sakral anmutende Architektur, einen komplexen Apparat an Verhaltensregeln und das sogenannte „Hainweh“ (47), ein Portemanteau-Wort, mit dem Anhänger ihre leidenschaftliche Verbundenheit ausdrücken.

Der Rückgriff auf einen Online-Fragebogen, aus dem oft zitiert wird, mag zunächst die empirisch-kulturwissenschaftliche Leserschaft überraschen. An die Stelle der persönlichen Erfahrung des Forschers treten die kurzen und prägnanten Berichte der Teilnehmenden, die an den Blogger-Stil erinnern. Leider erläutert Robin diese Methode und deren Umsetzung nicht ausführlicher. Aber er setzt sie äußerst kreativ ein. Die subjektiven Schilderungen der Gäste über ihr Selbstverständnis und ihre persönliche Meinung zur Club-Politik sind erstaunlich engagiert und teils sogar poetisch formuliert.

Eine äußerst interessante Frage wird leider nicht ausgeführt: „Offenbart sich am Beispiel des Berghains vielleicht ein Wandel der Technokultur generell, weg von einer Subkultur, die allen offenstand und welche die sozialen Unterschiede ihrer Mitglieder verwischen sollte durch billige Drogen, hin zu einer homogenen, exklusiven Subkultur, deren Mitglieder sich größtenteils aus privilegierten Bevölkerungsschichten rekrutieren wird?“ (89) Ein Gerichtsentscheid aus den vergangenen Jahren, der Clubs steuerrechtlich mit Hochkultur-Veranstaltungen gleichsetzt, deutet in diese Richtung.

Im zweiten Kapitel, „Utopische Körper“, geht es um Stilisierungen als eine Form, sich von der Alltagsidentität und auch voneinander abzuheben und zugleich Gemeinschaft herzustellen. In Anlehnung an Foucaults Begriff der „Utopischen Körper“ sowie an ein Wandbild im Berghain mit dem Titel „Rituale des Verschwindens“ definiert er die stilistischen Transformationen als Sehnsucht des Individuums, sich aufzulösen. Diese Auflösung findet in verschiedenen Formen und Medien statt, durch das gleich machende Prozedere beim Einlass ins Berghain, die Anpassung an dominante Bekleidungs- und Tanzcodes, Anonymisierung (das Tragen von Fetisch-Masken) sowie durch Drogenkonsum. Eine zentrale Erkenntnis ist, dass subjektive Gefühle von Freiheit und Befreiung eng mit einem gemeinschaftlichen und institutionellen Regelwerk verbunden sind, mit Autodisziplin und Selbstzwang: „Es geht also nicht so sehr um eine totale Befreiung von Affekten als vielmehr um eine stark kontrollierte Enthemmung, die mit der Ethik der Einwilligung und dem Respekt vor dem Körper der anderen einhergeht.“ (94) In Robins Schilderungen erscheint eine Partynacht als ein nahezu perfekter Mechanismus, bei dem kaum etwas schiefläuft – Robin schreibt, er habe Sequenzen, die den Voyeurismus bedienen, ausgespart. Dies ist verständlich, dennoch entsteht eine argumentative Lücke. Was geschieht, wenn Schamgrenzen überschritten werden, nicht, weil man es möchte, sondern weil einen die Obsession dazu treibt? Dennoch bietet sich ein äußerst interessanter Einblick in diese „Körperfabrik“ und ihre Kultur. Die „Krähen“, wie das Publikum auch genannt wird, eignen sich die institutionellen Zwänge, Regulierungen und Codifizierungen eigenwillig an und geben damit dem Club sein individuelles Gepräge.

Im dritten Kapitel, „Die Tanzfläche entgendern“, geht es um geschlechtsspezifische Stilisierungen und das Spiel mit Gender-Identitäten. Unter Bezugnahme auf Judith Butler definiert Robin das Geschlecht als Performance. Insbesondere für Gäste aus weniger liberalen Ländern bietet Berlin und das Berghain einen „Safe Space“ (105). Hier kommen auch neue subkulturelle Trends auf die Bühne wie zum Beispiel die „Sexpositive“-Bewegung, die eine Offenheit gegenüber diversen geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Praktiken und gegenüber Nacktheit kultiviert. Zu Recht merkt Robin an, dass das nächtliche Regelwerk zu einer „Homonormativität“ führen kann, bei der bestimmte homosexuelle Codes dominieren und damit andere Ausdrucksformen ausschließen.

Im vierten Kapitel, „Underground resist-dance“, öffnet Robin die Perspektive auf die breitere Berliner Clublandschaft und insbesondere auf die Zeit der Pandemie. Durch die erzwungenen Schließungen ist ein erheblicher finanzieller und kultureller Schaden entstanden und die kulturelle Vielfalt der Metropole hat gelitten. Die Beharrlichkeit, mit der die Akteurinnen und Akteure der Technokultur ihr „Recht auf Tanz“ und „Recht auf Stadt“ (150) durch aktivistische Aktionen verteidigen, sieht Robin als Beleg dafür, dass Clubs mehr sind als kommerzielle Veranstaltungen. Wie schon die Birmingham Cultural Studies gezeigt haben, auf die sich Robin allerdings nicht bezieht, ist das Feiern mehr als hedonistischer Konsum. Der Vorwurf des Hedonismus wurde in der Pandemie bekanntlich von politischer Seite angeführt, um nächtliches Tanzen im Freien abzuwerten. Wie Robin zeigt, handelt es sich im Gegenteil um eine Lebensweise und Kultur, die in Krisenzeiten auch gegen die herrschende Meinung durchgesetzt wird. Der Autor erinnert dabei auch an frühere Proteste, mit denen sich die Clubs gegen Verdrängung und Gentrifizierung wehrten. Ohne die pandemiebedingten ordnungspolitischen Maßnahmen in Frage zu stellen, deutet er diese Aktivitäten als positiven Ausdruck eines politischen Bewusstseins im Nachtleben: „Die Vermehrung dieser wilden Raves, die oft von der Polizei unterbrochen wurden, […] betont damit die aktive Rolle des Techno-Publikums und seinen Wunsch, seine treibende Rolle in der Szene geltend zu machen.“ (148)

Den Titel des fünften Kapitels, „Closing“, lehnt er an den gleichnamigen letzten Akt einer Tanznacht im Berghain an. Robin kommt zunächst einmal wenig überraschend zu dem Ergebnis, dass eine Berghain-Party keine Bacchanalie ist. Äußerst interessant ist allerdings die Begründung, bei der er auf die zentrale These aus dem ersten Kapitel zurückkommt: „Das Berghain ist zweifellos ein Raum der Freiheit wie kaum ein anderer, aber er ist vor allem ein extrem kodifizierter Raum, in dem die Befreiung des Körpers an Selbstdisziplin und starke Kontrollmechanismen gekoppelt ist.“ (160) Die Grenzüberschreitungen und ekstatischen Formen der Auflösung in der Gemeinschaft sind also nur deshalb möglich, da es ein strenges Regelwerk gibt. Wie im Prozess der Zivilisation (Norbert Elias), auf den Robin sich bezieht, in dem die zunehmende Lockerung der Kontrolle über die Emotionen um den Preis einer Zunahme innerer Triebunterdrückung geschieht, ist auch das ekstatische Feiern nur durch ein ausgeklügeltes Kontrollsystem möglich. Dieses drückt sich auf mehreren Ebenen aus: Ablehnung sexistischer und objektivierender heteronormativer Praktiken sowie von „body shaming“, Aufrechterhaltung einer respektvollen Distanz und einer starken Verinnerlichung des Respekts vor dem Körper des anderen. Robin verweist hier auf einen womöglich verallgemeinerbaren Zusammenhang von Disziplin und Ekstase, den es sich lohnt, auch für andere subkulturelle Zusammenhänge zu untersuchen. Es ist eine Perspektive, die ganz unserer heutigen Zeit entspricht, die „woke“ und „aware“ ist. Es zeigt sich, dass in der Ordnung und ihrer Befolgung (auch) eine Sehnsucht nach „pleasure“ und Entgrenzung liegt.

Robins Studie liefert eine besonders gelungene und erschöpfend komplexe Beschreibung der Sinnlichkeit der Cluberfahrung. Die zentrale Erkenntnis, dass Befreiung nur durch Selbstdisziplinierung erlangt werden kann, ist äußerst erhellend. Das „Bacchanal“ wird somit zur Chiffre einer subkulturellen Praxis, die sich durch den inneren Widerspruch von Kontrolle und Entgrenzung auszeichnet. Ein äußerst gelungener Aufschlag für einen „Sensual Turn“ in der urbanen Szene-, Pop- und Subkulturforschung. In diesem Feld ist es in der vergangenen Dekade meist um ökonomische Aspekte des Feierns gegangen („creative industries“, „subkulturelles Kapital“). Bei Robin treten hingegen auf vorbildliche Weise (wieder) Fragen nach der kulturellen Ordnung und Kreativität und des gesellschaftlichen Wandels in den Vordergrund. Indem Robin die soziale Herkunft und das Phänomen der globalen Generation „Easy Jet“ konsequent in die Analyse einbezieht, liefert er zugleich einen Beitrag zu der Frage, inwiefern die Populärkultur und populäres Vergnügen heutzutage die Leitkultur der bürgerlichen Mittelschicht geworden ist. Die Studie zeigt, dass für die queere globale Elite der Besuch einer Kulturstätte wie Berghain mindestens ebenso bedeutsam ist wie ein Opernbesuch in New York oder Sidney. Last but not least liefert er in dieser sehr guten, teils poetisch formulierten und mit schönen Fotografien von Mike D’hondt versehenen Studie ein dichtes Portrait des „Loaners“, jener von Rolf Lindner beschriebenen typischen Figur der Großstadt. Dadurch ist die Studie auch anschließbar an die Analyse zu Figuren und Figurationen der „Urban Anthropology“.