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Nikolaus Heinzer

Wolfsmanagement in der Schweiz. Eine Ethnografie bewegter Mensch-Umwelt-Relationen

(Zürcher Beiträge zur Alltagskultur 28), Zürich 2022, Chronos, 422 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-03401642-1


Rezensiert von Aline von Atzigen
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.09.2023

In seiner ethnografisch sehr dichten, vielschichtigen und umfassenden Studie – seine publizierte Dissertation – untersucht der Kulturanthropologe Nikolaus Heinzer das Wolfsmanagement in der Schweiz und wie Mensch-Umwelt-Beziehungen durch die Rückkehr des Wolfes bewegt und geprägt werden. Er tut dies, indem er zwei Ansätze – die Mensch-Tier-Forschung (Human-Animal Studies) und die Multispezies-Forschung verbindet. In dieser Rezension fokussiere ich bewusst auf die Multispezies-Perspektive dieser Publikation.

Heinzers Analyse trägt zu einem detaillierten und kontextualisierten Verständnis der lokalen Begebenheiten und Besonderheiten von Wölfen und damit verbundenen Praxen sowie der Produktion von Wolfswissen bei. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass die Relevanz dieser Studie keineswegs auf den Schweizer Kontext und auf Mensch-Wolf-Beziehungen beschränkt ist. Heinzer argumentiert, dass Wölfe Natur – oder noch genauer Wildnis – verkörpern und sie deshalb als Katalysator für divergierende gesellschaftliche Haltungen gegenüber Natur und Kultur wirken. Im Hauptteil führt er dieses Argument in Form von „ethnographischen Erkundungen“ aus unterschiedlichen Perspektiven detailreich aus. In drei Kapiteln widmet er sich dem Monitoring von Wölfen und Wolfskörpern, dem Wolfsmanagement und der akribischen Verwaltung von Wölfen (insbesondere von „Problemwölfen“) sowie der Produktion von Wissen über Wölfe durch Laboruntersuchungen. In drei weiteren Kapiteln wechselt er seine Perspektive weg vom Wolf und fokussiert auf die Kontexte: Schafe und Schafhaltung auf alpinen Weiden, alpine Umwelten zwischen Wildnis und Kulturlandschaft sowie Hunde (vor allem Herdenschutzhunde) an der Schnittstelle von domestizierter und wilder Natur.

In seiner Schlusssynthese führt er diese rhizomartig angelegten Kapitel zu einem Modell zusammen, das es ermöglicht, die unterschiedlichen Positionen zum Wolf auf einer theoretischen Ebene zu konzeptualisieren. Heinzer unterscheidet dabei zwei Ansätze von Naturkontrolle: die Kontrolle von wilder Natur und die Kontrolle von domestizierter Natur. Diese beiden gegensätzlichen Ansätze setzt er den ebenso gegensätzlichen Haltungen wölfisch verkörperter Natur gegenüber. Er argumentiert, dass die Kontrolle von wilder Natur mit einer generellen Ablehnung von Wölfen einhergeht, während die Kontrolle domestizierter Natur mit dem Ansatz einer kontrollierten Integration von Wölfen übereinstimmt. Während also der erste Ansatz auf eine Strategie des Abschusses von Wölfen als einziger Möglichkeit zur Wiederherstellung und Gewährleistung von Kontrolle von wilder Natur abzielt, ist der zweite Ansatz eher auf Co-Existenz aus. Das Zusammenleben von Menschen und Wölfen soll zum Beispiel mittels Schutzmechanismen (Herdenschutzhunde, Zäune) räumlich eingegrenzt ermöglicht und gleichzeitig geregelt werden. Bei Wölfen die sich ins Siedlungsgebiet und damit zu stark in den Lebensraum des Menschen hineinbegeben und ihre Lebensweise zu stark an den Menschen anpassen kann in Ausnahmesituationen auf Abschießen als klare Maßnahme der Erziehung (zum Beispiel für die anderen Wölfe des Rudels) zurückgegriffen werden.

Heinzer geht aber noch einen Schritt weiter, indem er zusätzlich zu diesem Modell zwei Relationierungsmodi als Umweltwissenspraktiken entwickelt, nämlich den körperlich-radialen und den global-retikularen Modus von Mensch-Wolf-Beziehungen. Der körperlich-radiale Relationierungsmodus basiert auf lokal verortetem, verkörpertem und sensorischem Praxiswissen. Der global-retikulare Relationierungsmodus basiert auf theoretischem Wissen und ist immer vor dem Hintergrund und eingebettet in ein globales ökosystemisches Naturverständnis zu verstehen. Zentral bei diesen zwei Relationierungsmodi ist, dass sie nicht an spezifische Akteursgruppen geknüpft sind. Vielmehr stellen diese zwei Modi extreme Pole oder Idealtypen dar.

Mit diesem Fokus auf die Modi der Mensch-Wolf-Beziehungen entkoppelt Heinzer die Analyse von einer vereinfachenden und oftmals auch moralisch wertenden Erklärung der Ablehnung von Wölfen als in Ängsten und Emotionalität begründet. Ein solcher Ansatz hat nicht nur das Potenzial, zu einem nuancierten gesellschaftlichen Dialog über Wölfe, Wolfswissen und wölfisch verkörperte Natur beizutragen, sondern ist auch relevant für die Multispezies-Forschung.

Es ist besonders hervorzuheben, dass Heinzer es schafft, dass der Wolf in diesem Buch der Hauptakteur – und zwar kein Objekt – ist und dennoch, wie in seinem Habitat, teilweise unfassbar bleibt. Der Wolf kommt zwar in den unterschiedlichsten Formen vor – als ausgestopfter Körper, als leuchtende Augen auf Fotos aus Fotofallen, als Spuren und Hinterlassenschaften unterschiedlichster Art sowie als verflüssigte Gensubstanz – und dennoch gibt es diese mitschwingende Ebene des schwer greifbaren Wolfes. Dies verleiht der Analyse der Wolfsrückkehr eine zusätzliche Tiefe, indem sie bei den Lesenden selbst die Relationierungsmodi evoziert.

Eine weitere Tiefe erhält die Analyse dadurch, dass Heinzer zwei analytische Ebenen, welche die Multispezies-Forschung ausmachen, sehr gekonnt miteinander verwebt: einerseits die kulturellen und gesellschaftlichen Zuschreibungen in Hinblick auf Wölfe als Thema, Phantom und Projektionsfläche und andererseits in Hinblick auf Wölfe als Tiere. Er zeigt dabei zum Beispiel, wie in gesellschaftlichen Debatten Wölfe mittels Codes („M64“) und Namen („Calandarudel“) individualisiert werden. Besonders heraus sticht aber seine Analyse der wissenschaftlichen Laboruntersuchungen und der dort angewandten Methoden mittels des Konzepts des „Dividuums“, mit Bezug auf Gilles Deleuze (1992). Heinzer argumentiert, dass durch die Laboruntersuchungen die Wolfskörper und ihre Hinterlassenschaften auseinandergenommen und dadurch in „Dividuen“ transformiert werden. Damit schließt Heinzer, ohne es explizit hervorzuheben, an die aktuelle Multispezies-Forschung an. Besonders relevant erscheint mir hier der Bezug zu Alex Blanchettes Studie über die Produktion von Schweinekörpern in der Massentierhaltung in den USA (Porkopolis, 2020). Denn auch dort wird die Mensch-Schweine-Beziehung auf verschiedenen Ebenen – Tier, Körper, Viszera – betrachtet. Gerade im Gegensatz zu Wolfsrudeln und Schafherden und in Hinsicht auf die unterschiedlichen Relationierungsmodi hätte der Aspekt des „Dividuums“ sogar noch expliziter herausgearbeitet werden können.

Heinzers Studie zeigt auf, wie der Wolf kantonale, nationale und administrativ-geografische Grenzen sprengt. Und so ist auch seine Studie zu sehen. Anknüpfungspunkte zur aktuellen Multispezies-Forschung ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch – Vulnerabilität und Hybridität zum Beispiel, um nur zwei Stichworte zu nennen. Leider werden sie aber nicht vertieft und in Beziehung zur aktuellen Multispezies-Forschung gesetzt. Dies liegt vor allem daran, dass Heinzer sich theoretisch und konzeptionell ausschließlich an die Begründerinnen und Begründer und großen Theorien der Multispezies-Forschung – Latour, Haraway, Tsing, Deleuze und Guattari – anlehnt. Der Einbezug des Eisbären als Ikone des Umweltschutzes zeigt jedoch beispielhaft, dass gerade aus der Berufung auf andere Tiere und aktuelle Forschungen über sie ein fruchtbarer Austausch entstehen kann, um den größeren Kontext von Mensch-Umwelt-Beziehungen im Blick zu behalten.

Mit Bezug auf andere Tiere ließe sich Heinzers Argument etwas kritischer betrachten und fragen, ob Wölfe wirklich als Katalysator für gesellschaftlich divergierende Haltungen gegenüber Natur und Kultur fungieren oder ob diese divergierenden Haltungen nicht sowieso bestehen und durch den Wolf einfach nur sichtbar(er) gemacht werden. Damit wäre der Wolf also vielmehr ein Brennglas denn ein Katalysator. Ein intensiverer Dialog mit dem Forschungsbereich NaturenKulturen oder sensorischen Ansätzen hätte Heinzers Argumentation aus meiner Sicht gestärkt. Noch konkreter denke ich da unter anderem an konzeptionelle Debatten etwa zu Domestizierung (Swanson, Lien u. Ween: Domestication Gone Wild, 2018) oder Mensch-Hund-Beziehungen – insbesondere die Forschung von Deborah Bird Rose (Dingo Makes us Human, 1992, 2009) über Dingos in Australien. Mit diesen kritischen Anmerkungen möchte ich aber vor allem betonen, dass Heinzers Buch relevante Anknüpfungspunkte über Mensch-Wolf-Beziehungen hinaus bietet, um Mensch-Tier- und Mensch-Umwelt-Beziehungen zu verstehen und zu analysieren.