Aktuelle Rezensionen
Christoph Engelhard
Memmingen. Kleine Stadtgeschichte
Regensburg 2021, Friedrich Pustet, 167 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Rezensiert von Benedikt Widmann
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 04.09.2023
Sommer 1525. Hatte die Memminger Stadtgesellschaft, vertreten durch 24 Repräsentanten der Zünfte, die Geistlichkeit der Stadt und einige auswärtige Gelehrte, wenige Monate zuvor noch einen zwar ergebnislosen, aber dennoch friedlichen und offenen Diskurs über sieben kritische Artikel des örtlichen Predigers und Reformators Christoph Schappeler geführt, so waren Stadtrat und Bürgermeister nunmehr jegliche Kontrolle über das aufgebrachte Bauernvolk entglitten. Die Stadt erbat den militärischen Beistand des Schwäbischen Bundes, dessen Truppen die Aufständischen zur Flucht zwangen – fünf von ihnen, die in Memmingen verblieben, ereilte nur Tage später die Hinrichtung auf dem Marktplatz. Diesen Bürgern widmet Christoph Engelhard seine „Kleine Stadtgeschichte“ Memmingens – in warnender Manier und im Wissen, dass sie der Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit von herrschenden Mächten das Leben gekostet hatte.
Zweifelsohne zeigt sich der Verfasser, seines Zeichens Stadtarchivar und Vorsitzender des Historischen Vereins Memmingen, nicht nur im historischen Kontext des Deutschen Bauernkrieges, über den er 2021 eine umfassende Bibliografie zusammenstellte, sondern auch in der Geschichte der Stadt Memmingen als gewissermaßen universalgelehrt. Er versteht es, den historisch kundigen wie auch den laienhaft interessierten Leser auf 167 Seiten über sämtliche Themenfelder der Ortsgeschichte und, darüber hinaus, die (welt-)politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge umfassend und verständlich zu informieren: Beginnend im Tertiär, zeichnet der Autor die Entwicklung eines Ortes nach, der über die Jahrhunderte von menschlicher Hand geformt und geprägt wurde, Wachstum und Depression, Zerstörung und Wiederaufbau in allen Phasen der deutschen Geschichte durchlebte. Als Gebiet, das die naturräumlichen Voraussetzungen zur Landwirtschaft vollauf erfüllte, wurde das heutige Memmingen von den frühen sesshaften Menschen besiedelt – Engelhard bezeichnet diesen epochalen Zeitpunkt trefflich als Beginn der „Umgestaltung eines Naturraumes zu Kulturlandschaft und Siedlungsraum“ (S. 11).
Die unaufdringliche Einstreuung einer feinsinnigen Auswahl an hochinformativen „Hintergrund“-Modulen hebt die populärwissenschaftliche Attraktivität des Werkes heraus und bietet dem Leser sowohl einen umfassenden Blick auf gesamt- und ortsgeschichtliche Kontexte als auch einen Zugang zu anschaulichen Beispielen, die im Haupttext keine nähere Erläuterung finden. Daneben dienen „Porträt“-Module der eingehenden Beschäftigung mit den wichtigsten Memminger Persönlichkeiten. Die reiche Farbbebilderung mit präzisen Bildbeschreibungen sorgt für ein kurzweiliges Lektüreerlebnis: Oft findet man sich, zum Greifen nahe, im Alltagsleben der Menschen jedweder Epoche wieder.
Dualismen menschlichen Wirkens und Schaffens hebt Engelhard besonders in religiösen Kontexten hervor. So zeigt er, wie protestantische und katholische Kräfte im steten Interessens- und Glaubenskonflikt seit der Reformation sowohl zur trotzigen Abwendung voneinander als auch zu Kooperation und prosperierender, hoffnungsschöpfender Zusammenarbeit fähig sind. Kirchenräume als „Keimzelle[n] passiven Widerstands“ (S. 122), die dem allgegenwärtigen nationalsozialistischen Regime entschieden entgegenwirkten, wecken ein ermutigendes und kraftvolles Bild.
Es lassen sich zahlreiche rekurrierende Themenfelder wie dieses beobachten, die gleichsam als rote Fäden durch die gesamte Lektüre hindurchleiten. Für die Geschichte eines Ortes, der sich im Laufe der Zeit als „Stadt“ behaupten durfte, war freilich der Status der Reichsstadt und der späteren kreisfreien Stadt mehr als nur symbolträchtig. Die Autonomie ging immer mit dem Gewinn verschiedener Freiheiten einher, die erheblichen Einfluss auf wirtschaftliche, politische und soziale Zusammenhänge übten. Nach ihrer ersten urkundlichen Erwähnung als „oppidum mammingin“ (S. 14) 1128, einem „Ort von Rechtsgeschäften und ein[em] Zentrum welfischer Herrschaft“ (ebd.), dem Wandel zur strategisch-planerischen Stauferstadt „civitas“ (S. 16) und schließlich der Stadtrechtsprivilegierung und der damit einhergehenden Emanzipation „von den Fesseln der Feudalherrschaft von Adel und Kirche“ (S. 18) durch Habsburgerkönig Rudolf I. im Jahre 1286 durfte Memmingen fortan die Vorzüge der Reichsunmittelbarkeit genießen. Kaum verwundert es daher, dass die Stadt wenig später im Jahre 1347 „am Beginn einer 200-jährigen Blütezeit“ (S. 22) stand: Das Wachstum der Handwerkerzünfte, weitreichende Handelsbeziehungen (zwischen den Niederlanden und Venedig) und die politische Partizipation des Bürgertums sicherten den Wohlstand der Stadt für kommende Generationen. Erst der Reichsdeputationshauptschluss, mit dem Memmingen im Jahre 1803 an Kurpfalz-Bayern fiel, bereitete diesem Status ein jähes Ende und ließ die „kommunale Selbstverwaltung […] ihren Tiefpunkt“ (S. 73) in der Munizipalverfassung von 1813 erreichen. Immerhin gestand das fünf Jahre später erlassene Gemeindeedikt, mit dem die Stadt zur Munizipalgemeinde II. Klasse erklärt wurde, den Bürgern wieder „Anteil an kommunalen Angelegenheiten“ (S. 79) zu. Innerlich wirke es jedoch, so Engelhard, „als hätte man sich mit dem Ende der Reichsstadtzeit und der Zugehörigkeit zu einem Königreich abgefunden“ (ebd.) – ganz der biedermeierlichen Mentalität entsprechend.
Die noch junge Technologie der Eisenbahn fand bald auch Anklang im kreisunmittelbaren Memmingen und wurde mittels einer städtischen Anleihe über 3,3 Millionen Gulden bis 1862 als „Bahnhof mit Post- und Telegraphie-Station“ (S. 86) realisiert. Somit war der Startschuss zur rasanten Weiterentwicklung des lokalen Handels- und Warenumschlagplatzes gegeben. Umso dringender erscheint ein Memorandum, das 1929 durch einen Bürgerausschuss an Landtag und Ministerien verabschiedet wurde und einer Auflösung des Landgerichtes Memmingen entgegenwirken sollte: „Die Stadt Memmingen dürfe wegen ihrer Grenzlage nicht erneut benachteiligt werden […]. Ein weiterer Verlust an Behörden gefährde die wirtschaftliche Basis einer ‚lebenskräftigen und vorwärtsstrebenden Stadt‘“ (S. 111). Dennoch veranlasste elf Jahre später der mittlerweile in Gang gesetzte nationalsozialistische Staatsapparat die Aberkennung der Kreisfreiheit Memmingens, die sie erst drei Jahre nach Kriegsende wiedererlangte. Auch in den 1970er Jahren sollte dieser Status noch einmal auf dem Spiel stehen, als ein Entwurf der Reform der Gemeinde- und Landkreisgrenzen das Ende der Kreisfreiheit vorsah – letztlich konnte dieses Szenario durch den Einspruch Memmingens jedoch abgewendet werden.
Die immense Bedeutung von Reichsunmittelbarkeit und Kreisfreiheit ist im wirtschaftspolitischen Kontext nicht zu leugnen, wie Engelhard in der spezifischen Behandlung der Thematik – für geschulte wie für laienhafte Augen – eingängig festhält. Der Entschluss des Autors, Fußnoten konsequent nicht einzusetzen, ist, so darf man vermuten, ebenfalls dem populärwissenschaftlich zentrierten und überblicksartigen Charakter des Werkes geschuldet – dennoch sorgt das ausführliche Literaturverzeichnis für eine entsprechend angemessene Quellennähe. Die sinnvolle Gliederung der Kapitel in verdauliche Sinnabschnitte ist ein Instrument, das der Verfasser im rechten Maß einzusetzen weiß. Auch die inhaltliche Verknüpfung zwischen den Abschnitten ist makellos umgesetzt, sodass die Lektüre keineswegs bruchstückhaft erscheint.
In ihrem kompakten und doch umfassenden Aufbau wird die „Kleine Stadtgeschichte“ ihrem Anspruch als überblicksstiftendes Werk mehr als gerecht: Den einen Leser kann sie durchweg befriedigen, im anderen entfacht sie eine unstillbare Neugier nach vertiefenden Elementen – vor allem aber lädt sie zum Besuch einer lebendigen Stadt ein, deren jahrtausendealte Geschichte noch heute überall zum Vorschein kommt. Gleichwohl lenkt Engelhard mit seinem abschließenden Ausblick die Perspektive auf die Herausforderungen, die Memmingen gegenwärtig bevorstehen: Sein eindrucksvolles Plädoyer für Freiheit und bürgerliche Teilhabe, in dessen Charakter sich das gesamte Wesen der Stadtgeschichte widerspiegelt, rundet dieses Büchlein gelungen ab.