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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Claudia Ried

Zeit des Umbruchs? Die Auswirkungen des bayerischen Judenedikts auf die schwäbischen Landjudengemeinden (1813–1850)

Friedberg 2022, Likias, 408 Seiten, zahlreiche Abbildungen


Rezensiert von Riccardo Altieri
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 18.10.2023

„Servitus iudaeorum perpetua“ umschreibt seit dem Mittelalter die in allen Erscheinungsformen des Christentums verinnerlichte immerwährende Knechtschaft der Jüdinnen und Juden, die man ihnen für die angebliche Schuld am Tod Jesu Christi auferlegt hatte. Folge dieser gesellschaftlichen Deklassierung war das Schutzbriefsystem als unmittelbar von der jeweils zentralen Autorität vergebener und käuflich zu erwerbender Garant für die Sicherheit jüdischen Lebens. In der Frühen Neuzeit wird der Schutz vor Verfolgung, wie er seit 1120 in der Bulle „Sicut Iudaeis“ von Papst Calixt II. reichsweit gewährt und später mehrfach erneuert wurde, zunehmend aufgeweicht. Zwar war das Judentum seit der Christianisierung die einzige weitere religiöse Konfession, die rechtlich gestattet war, doch Gleichberechtigung gab es nicht. Große Erschütterung erfuhr die Koexistenz zudem ab dem Zeitpunkt der Reformation.

Durch die Vertreibung aus den städtischen Herrschaftsgebieten am Beginn der Frühen Neuzeit entstand auch in Bayern das sogenannte Landjudentum – ein Begriff, der seit Sabine Ullmann nicht nur als Forschungsgegenstand, sondern auch als systematische Kategorie etabliert ist. Taxatoren und Kollektoren konturierten das jüdische Leben durch Steuerhöhen und -eintreibung. Erst mit dem Ende des Ancien Régimes traten vereinzelt Verbesserungen in der Lebenssituation ein, die Freizügigkeit wurde schrittweise wieder gewährt. In ihrer historischen Dissertationsschrift (Augsburg 2018) widmet sich Claudia Ried einem Desiderat, nämlich eben dieser Übergangszeit jüdischer Geschichte im heutigen Regierungsbezirk Schwaben. Als konkrete Fallbeispiele ihres mikrohistorischen Zuschnitts wählt die Autorin die vier Orte Altenstadt, Buttenwiesen, Fellheim und Hürben.

Im Juni 1813 trat das sogenannte Bayerische Judenedikt in Schwaben in Kraft. Mit dieser Novelle wollte Maximilian Graf von Montgelas die rechtliche Situation der Juden Bayerns auf ein neues Fundament stellen, was den Anfang von Rieds Forschungszeitraum bildet. Er endet 1850 mit einer Übergangsphase zwischen Landtagspetitionen der 1840er Jahre, die die Aufhebung des Matrikelgesetzes forderten, und der eigentlichen Abschaffung im Jahr 1861. Geleitet wird ihre Arbeit von der zentralen Forschungsfrage, ob es sich um eine Zeit des Umbruches oder vielmehr um eine Fortsetzung der rechtlichen Situation vor dem Eintreten des Ediktes handelte. Dabei stellt sie in ihrer archivaliengestützten Untersuchung die innerjüdischen Quellen den bisherigen Bewertungen rechts- oder landeshistorischer Forschung gegenüber, die in dieser sogenannten Emanzipationszeit eine Phase kontinuierlicher rechtlicher Verbesserungen sieht. Jüdische Gemeindevertreter widersprachen diesem Gedankengang mitunter, was nicht zuletzt durch die erwähnten Petitionen zum Ausdruck kam, die oft von Mitgliedern der israelitischen Kultusgemeinden in den Landtag eingebracht wurden. So verwundert es nicht, dass die Autorin zu einem eindeutigen Fazit kommt: „Die Frage, ob die Phase zwischen 1813 und 1850 für die schwäbischen Landjuden eine Zeit des Umbruchs war, muss auf Basis der Ergebnisse der vorliegenden Studie im Wesentlichen mit ‚Nein‘ beantwortet werden“ (S. 377).

Wenn dieses Ergebnis der bisherigen Forschung teilweise entgegensteht, dann hauptsächlich deswegen, weil man nicht die Betroffenen zu Wort kommen ließ. Die mikrogeschichtliche Herangehensweise und das Hinzuziehen von Quellen aus zahlreichen bayerischen Archiven hat es Claudia Ried ermöglicht, der bisherigen Emanzipationsliteratur eine glaubwürdige und nachvollziehbare quellenbasierte Studie entgegenzustellen. Es ging eben nicht allein um die Verbesserung der rechtlichen Situation für Juden, sondern auch um die gesetzliche, wirtschaftliche und soziale Integration in eine Mehrheitsgesellschaft bestehend aus nützlichen Staatsbürgern.

An den vier Beispielgemeinden kann die Autorin nachzeichnen, dass es sich nach 1813 noch immer um eine Fortführung des Schutzherrensystems der Frühen Neuzeit handelte, nur „mit neuen obrigkeitlichen Akteuren“ (S. 372). Selbst Montgelas gab in eigenen und von der Autorin zitierten Aussagen die Enttäuschung der Juden ob ihrer nicht erfolgten Gleichstellung mit der christlichen Mehrheitsbevölkerung wieder. Begleitet waren die politischen Debatten im Landtag seinerzeit auch von beinahe schon erwartbaren judenfeindlichen Stereotypen, die insbesondere bei der Kritik an jüdischen Hausierern oder Geldverleihern oftmals in frühantisemitische Vorurteile übergingen, was eine Fortsetzung auch der abschätzigen gesellschaftlichen Meinung von Juden als Kontinuum über das Jahr 1813 hinaus darstellt. Die Autorin zeigt auf, wie sich diese Entwicklung noch verstärkte, wenn die früheren Schutzherren dafür die entsprechenden Anlagen gebildet hatten: So konnten die Juden aus Buttenwiesen und Hürben schon während der Zeit des Alten Reiches rechtliche Verbesserungen erlangen und diese beibehalten, während in Altenstadt und Fellheim auch nach 1813 Rechte vorenthalten wurden, die das neue Edikt eigentlich gewähren sollte, beispielsweise in Form von fortlaufenden Schutzgeldzahlungen.

Während Ried derartige Konfliktlinien vor allem für die herrschaftliche Quellenüberlieferung feststellen kann, zeigt sich in der Betrachtung von privaten Korrespondenzen, Vertragspapieren oder anderen Alltagsquellen, dass die ländliche Lebensrealität viel häufiger eine friedliche Koexistenz vorsah, bei der selbst Konflikte auf sachlicher Ebene ausgetragen wurden, ohne unweigerlich in judenfeindliche Stereotype zu münden. Trotz einiger weniger Stimmen, die sich gegen die obrigkeitliche Einschränkung wehrten, ist das Bild der jüdischen Bevölkerung Schwabens in dieser Zeit von einer geradezu typischen Loyalität gegenüber dem Staatsoberhaupt gekennzeichnet. Das galt selbst dann, wenn die judenfeindliche Haltung in Einzelfällen auf die Person des Königs zurückzuführen war, wie etwa zu Zeiten erhöhter Emigration in Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika, um das eigene Heil in der Flucht vor materiellem Elend und in das Land der nur vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten zu suchen.

Die Geschichte des Landjudentums, wie sie seit 1976 durch Monika Richarz erstmals auch für Bayern einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, ist noch immer eine marginalisierte. Zentrale Werke deutsch-jüdischer Geschichte erwähnen diese Phase allenfalls am Rande, wenn sie überhaupt benannt wird. „Die tendenziell als rückständig und ungebildet geltenden Landjuden des 19. Jahrhunderts erschienen vielen Verfassern deshalb als nicht besonders beachtens- und erwähnenswert“, konstatiert Ried (S. 12). Dabei waren alle gesellschaftlichen Schichten innerhalb der jüdischen Bevölkerung von der vormaligen Vertreibung aus den Städten betroffen, also auch die Gebildeten. Noch ausständige biographische Untersuchungen über die Kriegshaber Rabbiner Aharon ben Josef Guggenheimer, dessen Schwiegervater Pinchas Skutsch und dessen Vater David könnten ähnliche Erkenntnisse hervorbringen, wie die Forschung zu den unterfränkischen Würzburger Landes- beziehungsweise Distriktsrabbinern Abraham Bing und Seligmann Bär Bamberger, die aufgrund einer eigenen Jeschiwa und einer Israelitischen Lehrerbildungsanstalt (ILBA) weit über die Grenzen Bayerns hinaus Bekanntheit erlangten.

Claudia Ried hat mit ihrer Dissertation einen wesentlichen Beitrag zur bayerischen Geschichtsschreibung des Landjudentums – auch über die Grenzen Schwabens hinaus – vorgelegt. Ihrem Wunsch, diese Arbeit möge als Vorbild für andere Regierungsbezirke gelten, kann sich nur angeschlossen werden.