Aktuelle Rezensionen
Sabine Jagodzinski/Aleksandra Kmak-Pamirska/Miloš Řezník (Hg.)
Regionalität als historische Kategorie. Ostmitteleuropäische Perspektiven
(Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 37), Göttingen 2019, fibre Verlag, 367 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Rezensiert von Markus Christopher Müller
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 18.10.2023
Der vorliegende Band stellt eines der Ergebnisse des 2014 am DHI in Warschau eingerichteten Sonderforschungsbereichs „Regionalität und Regionsbildung“ dar, der klassische Narrative von Staat und Nation durch eine Fokussierung auf Regionalismen korrigieren wollte. Ziel der Herausgeber Sabine Jagodzinski, Aleksandra Kmak-Pamirska und Miloš Řezník ist es deshalb, „die Kategorie ‚Regionalität‘ zu operationalisieren, das heißt für die weitere Forschung interdisziplinär handhabbar zu machen“ (S. 9). Die vorliegende Rezension blickt auf das zu besprechende Buch deshalb nicht aus der Perspektive der Ost- und Mitteleuropageschichte, sondern aus Sicht der Landes- und Regionalgeschichte. Der Frage nach Region gehen die Herausgeber vor dem Hintergrund eines sozialen Konstruktivismus nicht nur als territorialem, sondern auch als imaginiertem, etwa kulturellem, kommunikativem und religiösem Raum nach.
Miloš Řezník stellt in seiner Einleitung die Diskussionen und Thesen rund um den „spatial turn“ und seine gedanklichen Vorläuferbewegungen ab den 1970er Jahren dar. Er zeigt auf, wie dessen Ideen von der konstruktivistischen Geschichtsphilosophie abhingen, und warnt gleichzeitig vor einer Vernachlässigung notwendiger konstituierender Faktoren wie sozialer, politischer, wirtschaftlicher oder geographischer Gegebenheiten, die der Region und den in ihr konstruierten Identitäten vorgängig bzw. in ihre Entwicklung verflochten sind. Dies verdeutlicht er am Beispiel des Böhmerwaldes, der als scheinbar natürliche Grenze genauso von den topographischen Gegebenheiten abhänge wie davon, was die menschliche Praxis durch die Jahrhunderte aus diesen abgeleitet und konstruiert habe. Obwohl Řezník seit den 1990er Jahren einen Aufschwung des Konzepts der Regionalität, auch bedingt durch Globalisierung und europäische Einigung, beobachten will, setzt er sich kritisch mit der bisherigen Rolle der Landesgeschichte auseinander, die sich im Gegensatz zur Europäischen Regionalgeschichte bisher wenig innovativ an den Forschungsdiskussionen zu Regionalität beteiligt habe. Ob sich eine solche, vornehmlich an der Denomination orientierte Gegenüberstellung freilich als zielführend erweist, mag dahin gestellt bleiben; der Blick auf einzelne Forschungsprojekte und Kooperationen innerhalb der Landes- wie der Regionalgeschichte dürfte sich hierbei als sinnvoller erweisen.
Entsprechend seiner breiten Perspektivierung widmet sich der Band drei Themenfeldern, erstens den literarischen und musischen Aushandlungs- und Wahrnehmungsprozessen bei der Regionsbildung, zweitens dem Knüpfen und Wandel von Netzwerken infrastruktureller, touristischer und architektonisch-künstlerischer Faktoren mit Einflüssen auf Region und Regionalität und drittens dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie als Bezugsgrößen der Konstruktion von Region. Jeweils an einem ausgewählten Beitrag sollen weiterführende Perspektiven der unterschiedlichen Zugänge aufgezeigt werden.
Der in Bielefeld lehrende Historiker Andreas Rüther forciert mit Blick auf literarische Regionsbildung einen praxeologischen Zugang im Sinne des französischen Philosophen Michel de Certeau, den er an zwei unterschiedliche erzählende Quellen heranträgt, nämlich an das Werk „De origine et rebus gestis Polonorum libri triginta“ des Späthumanisten Martin Cromer (1512–1589), das nach dessen Tod ins Polnische, später auch ins Deutsche übersetzt wurde, sowie an das Merkbuch des Hans von Schweinichen (1552–1616), autobiographische Aufzeichnungen eines in Diensten des Herzogs von Liegnitz stehenden Junkers. An beide Quellen richtet Rüther sein Anliegen, Regionalität nicht mehr nur historiographisch zu ergründen, sondern zu zeigen, wie sie „empirisch erfahren und von den Beteiligten erst ausgehandelt oder sogar als hierarchisch gegliedertes Ganzes ausgebildet wird“ (S. 77). In der Tat zeigen sich so Gruppenzugehörigkeiten, regionale Positionierungen und Raumordnungen jeweils aus der Perspektive des Individuums, das sich selbst nicht in starren Raumkategorien, sondern vielmehr in je nach Situation unterschiedlichen Handlungsräumen wahrnimmt: eine anthropologisch nicht überraschende, aber in der Geschichtswissenschaft sicherlich viel zu selten reflektierte Erkenntnis.
Martin Knoll, der an der Universität Salzburg die Europäische Regionalgeschichte vertritt, plädiert mit Blick auf die Tourismusgeschichte im Zusammenhang von Regionalität im Wandel für das Potenzial eines „methodisch offenen, praxistheoretisch inspirierten und kontrolliert konstruktivistischen regionalhistorischen Ansatzes“ (S. 239), das er am Beispiel des Salzkammergutes aufzeigen kann. Er verweist dafür auf Parallelitäten von Regionalmarkern der ökonomischen Sondersituation in der Frühen Neuzeit und der heutigen Tourismusregion. Die zwischen den beiden Ausformungen von Regionalität liegenden dynamischen Transformationsprozesse kann er unter Einbeziehung moderner Ansätze aus Forschungen zu ökonomischen Clustern, Infrastruktur, Mobilität und Stadt-Hinterland-Beziehungen überzeugend erklären und pointiert festhalten: „Tourismus hat eigene Regionalitäten geschaffen.“ (S. 255)
Die Frage nach dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie beantwortet der Wiener Kunsthistoriker Werner Telesko mit der Region als „discursive tool“ am Beispiel des Kulturtransfers innerhalb der habsburgischen „composite monarchy“ und den sich daraus ergebenden regionalen Identitätsstiftungen. Spannend erweist sich in diesem Zusammenhang die vom Autor vorgenommene Bestimmung der Ausstattung von Schloss Schönbrunn als „Seismograf für das kulturelle Selbst- bzw. Wunschbild der Habsburgermonarchie“ (S. 274), das den Regionen anhand der Idee der Vielfalt in der Einheit ihre besondere Stellung untereinander, aber auch zum Herrschaftszentrum zumessen wollte. Deutlich wird so in der Langzeitperspektive vom 16. bis ins 19. Jahrhundert die Diskursivität und Relationalität des Begriffs der Region herausgestellt, der sich als Ergebnis von Aushandlungsprozessen verstehen lässt, „die sowohl Durchsetzungsstrategien der Zentralmacht als auch Formen regionaler Widerständigkeit implizieren“ (S. 276). Region bleibt so nicht auf den Raum, den sie benennt, beschränkt, sondern gibt Einblick in kulturelle Transfer- genauso wie in staatliche Konstitutionsprozesse.
Die Ergebnisse der weiteren zehn Beiträge der drei Themenfelder, die aus ganz unterschiedlicher Perspektive und mit weiteren Beispielregionen der Frage von Regionalität als historischer Kategorie nachgehen, hätten möglicherweise ebenso wie die der drei exemplarisch besprochenen für eine weitere Rezeption in einem abschließenden Ausblick zusammengeführt werden können. Denn insgesamt leistet der vorliegende Band, bei dem man allenfalls einige kleinere Fehler in Satz und Formatierung und die schwarzweiße Bebilderung (etwa S. 64 f.) monieren könnte, einen wichtigen Beitrag zur Entstehung und Konzeption der Begriffe „Region“ und „Regionalität“ in ihrer Dynamik und auch in der daraus resultierenden Ambivalenz. Denn wie andere räumliche Termini bleibt auch das Konzept „Region“ zuletzt abhängig von den divergierenden Zuschreibungen der gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Kontexte, in denen es und für die es gebraucht wird. Dementsprechend unterlassen die Herausgeber eine Definition des Begriffs und werfen mit dem vorliegenden Band stattdessen zahlreiche weiterführende Fragen nicht nur für die Geschichtswissenschaft, sondern auch für die benachbarten kulturwissenschaftlichen Disziplinen auf, welche zu künftigen Forschungen einladen und so möglicherweise unter sich wandelnden geopolitischen und gesellschaftlichen Bedingungen wieder ganz neue Diskussionen anzuregen vermögen.