Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Magnus Ressel

Protestantische Händlernetze im langen 18. Jahrhundert. Die deutschen Kaufmannsgruppierungen und ihre Korporationen in Venedig und Livorno von 1648 bis 1806

(Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 107), Göttingen 2021, Vandenhoeck & Ruprecht, 698 Seiten, 11 Abbildungen, 12 Diagramme und 47 Tabellen


Rezensiert von Sebastian Rebay
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 27.10.2023

In der Historiographie gilt die Zollbehörde der deutschen Nation in Venedig, der Fondaco dei Tedeschi, als Bestandteil einer rückständigen Entwicklung in der Wirtschaftsgeschichte Venedigs des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts.

Magnus Ressel widmet sich in seiner Habilitationsschrift ebendiesem Teilaspekt der Handelsgeschichte Venedigs. Er fügt damit einen neuen differenzierenden Baustein in die Geschichtsschreibung über die Lagunenstadt ein, der das überkommene, lineare Niedergangsnarrativ an einer weiteren Stelle aufbricht. Zu Beginn seiner gut 500-seitigen Abhandlung konstatiert er, dass am Ende des Niedergangs um 1800 in der Nation (hiermit sei fortan die Nazione Alemana in Venedig gemeint) noch zahlreiche und einige der reichsten Kaufleute Europas tätig waren. Eine mit Privilegien ausgestattete Händlerkorporation dieser Art wirkt zu diesem Zeitpunkt, auch nach Ressels Einschätzung, zunächst anachronistisch. Schließlich unterlagen die Märkte der meisten anderen Handelszentren Europas vielfältigen Liberalisierungsprozessen. Dennoch passt die Bilanz der venezianischen Zollbehörde nicht mehr in das drastische Bild der älteren Forschung, dass das Handelssystem „rostig und untragbar geworden“ sei (Paola Lanaro, I mercanti nella Repubblica veneta. Economie cittadine e stato territoriale [secoli XV–XVII], Venedig 1999, S. 112; zitiert nach: Ressel, S. 218). Deshalb ordnet Ressel die Händlerkorporation der deutschen Nation in Venedig aufs Neue in die mitteleuropäische Handelslandschaft des langen achtzehnten Jahrhunderts (1648 bis 1806) ein, wobei er vielerlei überregionale Bezugs-und Vergleichspunkte wie etwa internationale Kaufleute in Livorno als Maßstab heranzieht und auch die innere Beschaffenheit der Korporation etwa auf Händlernetze prüft. Inwieweit eine Niedergangserzählung zutrifft und ob das kalkulierte Festhalten an einer privilegierten Händlerkorporation seitens der venezianischen Politik zu einem Bedeutungsverlust beitrug, sind Kernfragen, die Magnus Ressel beantworten kann.

Der Autor begegnet dem Thema in drei Großkapiteln von einer Makro- zu einer Mikroanalyse hin. Die drei Kapitel sind in sich je chronologisch und lassen sich unabhängig voneinander lesen. Jedem Kapitel sind je eigenständig Historiographie und Forschungsstand vorangestellt, da auch zugrundeliegende Quellenbestände sehr unterschiedlich ausfallen. Regelmäßige Zusammenfassungen innerhalb und am Schluss der einzelnen Kapitel halten die zentralen Aspekte kompakt zusammen und den allgemeinen Faden des Werkes aufrecht.

Das erste Kapitel zeichnet sich durch seine weitreichende Relevanz für die wirtschaftshistorische Forschung zu Europa aus. Selbst Leser, die den räumlichen Fokus ihrer Recherche nicht auf die Republik Venedig legen, werden hier zentrale Aspekte zum Transalpenhandel des langen achtzehnten Jahrhunderts kennenlernen, die über bisherige Forschungen hinausgehen. Neu ist bei Magnus Ressel vor allem die gelungene Kontextualisierung der alpinen Passsysteme. Wo die historische Forschung „die Alpenpässe nur selten als ein System teilweise kommunizierender Röhren“ (S. 61) mit Interdependenzen sieht, stellt Ressel die Konkurrenz der Alpenpässe als ein wesentliches Strukturmerkmal der Wirtschaftslandschaft im achtzehnten Jahrhundert fest. Während Habsburg in der ersten Jahrhunderthälfte in diesem Bereich noch die Hegemonie innehatte, jedoch Innovationen und Straßenbauprojekte versäumt habe, führte das Element des Wettbewerbes nach der Ausdehnung Sardinien-Piemonts auf das Alto Novarese 1743 zu einer Dynamisierung im Transalpenhandel. Neue Konkurrenzen äußerten sich auch im Bedeutungszuwachs von europaweit vernetzten, wohlhabenden Kaufleuten. Privilegierungen und staatliche Unterstützung für diese Händlergruppen wurden laut Ressel die „wahrscheinlich wichtigste Weichenstellung für den internationalen Alpentransit seit dem Westfälischen Frieden“ (S. 215).

Auch die Anrainer zwischen den Pässen und einzelnen Handelszentren spielten eine entscheidende Rolle im neu aufkommenden Speditionshandel auf dem Binnenmarkt. Die Hinterlandanbindung blieb deshalb ein entscheidendes Ziel politischer Entscheidungen der Markusrepublik. Um den Verkehrsstrom aufrecht zu erhalten, wählten politische Entscheidungsträger ab 1675 eine Privilegierung der deutschen Kaufleute in der Nation, so einer der zentralen Ansätze Ressels. Begleitet wurde diese politische Entscheidung von Bestechungen und Lobbyarbeit der deutschen Korporation. Als Konsequenz entfaltete sich entlang der günstiger gelegenen Tiroler Passrouten, wo besonders kapitalkräftige süddeutsche Kaufmannsdynastien handelten, ein dichtes Händlernetz, das die Wirkmacht der Privilegien im achtzehnten Jahrhundert entfaltete.

Bereits unter Zeitgenossen war dieses politische Kalkül umstritten und die Kontroverse findet seither ihren Niederschlag in der Historiographie mit kritischem Blick auf die Förderung des Fondaco. Andernorts in Europa wurden derartige Händlergruppierungen entprivilegiert und Abgabensysteme liberalisiert. Auch Venedig wagte in zwei Zeitfenstern den Schritt, einen Freihafen zu erklären (1662–1684 und 1736–1751) – für Ressel ein Indiz dafür, dass der Erhalt der Privilegien keine selbsterhaltende, pfadabhängige Dynamik beschrieb, sondern dass die fortbestehenden Zollprivilegien ein handelsstrategisches Manöver des Staates Venedig darstellten.

Um sich ein Urteil über die Funktionalität dieser Politik zu machen, zieht Ressel den Vergleich zu weiteren Handelszentren Europas. Am prominentesten hebt er Livorno hervor. Livorno sei die einzige andere italienische Stadt im untersuchten Zeitraum, die ähnlich vernetzt und reich gewesen sei. Außerdem ließ sie Privilegierungen für nur eine bestimmte Händlergruppierung aus. Der Vergleich führt für Ressel zu eindeutigen Ergebnissen, bei denen er auch über die Debatte zwischen Sheilagh Ogilvie und Guillaume Garner bezüglich der Effektivität von Privilegierungen in der frühneuzeitlichen Wirtschaftpolitik urteilt. Während Ogilvie als Konsequenz von Privilegierungen die Bildung von Monopolen vermutet, die die dynamische Entfaltung von Märkten verhindere, deutet Garner derartige Privilegien nicht als Gegensatz moderner Marktwirtschaft, sondern als deren Voraussetzung. Unter Berücksichtigung des Modells Oscar Gelderbloms zur Entstehung moderner, offener Märkte in Abhängigkeit von ihrer Konkurrenzsituation untersucht Ressel die Wettbewerbssituation der privilegierten deutschen Kaufleute Venedigs und des geöffneten Marktes in Livorno und kommt zu folgendem Ergebnis: Die Privilegierung der deutschen Zollbehörde in der Lagunenstadt war keineswegs ein Zeichen dysfunktionaler oder sogar verrosteter Hemmnis, sondern für die einzigartige Lage der Lagunenstadt, ihr Marktgeschehen und ihre Handelsrouten eine maßgeschneiderte, wohlüberlegte Politik. Livorno hingegen entwickelte im Rahmen liberalisierter Märkte eine stärkere Verbundenheit zu britischen und Schweizer Kaufleuten im Seehandel. Eine Hinterlandanbindung driftete in die Abhängigkeit des Wachstums deutscher Kaufleute, die in Venedig zum Fokus wirtschaftspolitischer Maßnahmen wurden und den transalpinen Warenstrom am Leben hielten. Demnach sei Garners These mindestens im untersuchten Raum überzeugender.

Um die innere Beschaffenheit der Korporation zu untersuchen, traf Ressel die Grundsatzentscheidung, quantitative Auswertungen und klassische Netzwerkanalysen „nur in einem begrenzten Umfang“ (S. 52) durchzuführen. Bei der Untersuchung pietistischer Einflüsse innerhalb des Händlernetzes steht der Autor vor einer schlechteren Quellenlage als in den beiden Großkapiteln zuvor und Aussagen formuliert er konzessiver als in den vorangestellten Kapiteln.

Dennoch gehen seine Forschungen und Befunde über bisherige Arbeiten zum deutschen Protestantismus in Venedig hinaus, da er Material aus unterschiedlichen Kirchenarchiven sammelt und konkret die Handelsverbindungen einzelner Kaufleute der Nation nachvollzieht. Somit gelingt Ressel eine Kontextualisierung der pietistischen Gemeinde im Fondaco bezüglich des süddeutschen und alpinen Protestantismus.

Zentrale pietistische Programmpunkte wie Nächstenliebe, individuelle Frömmigkeit, Aktivismus und die Hoffnung auf bessere Zeiten boten einen Konsens für einige Kaufleute, die sich in der deutschen Nation niederließen. Häufig handelte es sich bei Befürwortern des Pietismus um standesbewusste, ehemals einflussreiche Akteure, die im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts an politischer Macht verloren hatten und sich überregionalem Handel zuwandten. Dementsprechend bildete sich in pietistischen Gruppierungen ein stabiles Kommunikationsnetzwerk aus – darin stimmt Ressel den Arbeiten Alexander Pyrges zu –, das durch regen Briefverkehr überliefert ist. Enthaltene Querreferenzen dokumentieren dieses Händlernetz. Durch die Entfaltung von Beziehungen in süddeutsche Reichsstädte unterlag die Verbreitung des pietistischen Glaubens Rückkopplungseffekten entlang der transalpinen Achse.

Ressel unternimmt Netzuntersuchungen über Parameter wie Hochzeiten, Patenschaften und Handelsbeziehungen im Allgemeinen und zieht anschließend Rückschlüsse über die Rolle des Pietismus als konstituierendes Merkmal in den Handelsnetzen. Dabei resümiert er, dass Pietisten, mit der Ausnahme zwischen 1719 und 1732, höchstens eine Minderheit ausmachten. Für die Handelsbeziehungen waren andere Parameter wie etwa Verwandtschaftsbeziehungen und besonders die Verbindung zu süddeutschen Reichsstädten von höherem Stellenwert. Deshalb spricht er nicht etwa von einem definitiven pietistischen Händlernetz, sondern zurückhaltender von einem „religiös-konfessionell grundiertem Vertrauen“ (S. 511) innerhalb des Netzes: Die Kaufleute pflegten „eine konfessionelle Strömung mit deutlich süddeutsch-reichsstädtischem Charakter, die ihren Spiritus Rector in Samuel Urlsperger in Augsburg fand“ (S. 525).

In diesem letzten Großkapitel der Habilitationsschrift zeigt Magnus Ressel eine besondere Stärke in der schriftlichen Darbietung der Forschungsergebnisse. Selbst die Ergebnisse aus Aktenbeständen relativ spröder Natur, wie etwa den Vergleich von Insolvenzen, komplementiert er mit personalisierten Inhalten aus dem Briefverkehr oder Tagebüchern bedeutender Kaufleute, wodurch die Protagonisten lebendig rekonstruierter Teil der Darstellung werden.

Insgesamt liefert Magnus Ressel einen sehr wertvollen Beitrag einerseits in der Beurteilung der privilegierten Händlergruppierung im Fondaco, andererseits zur Forschung des alpinen Transithandels allgemein. Durch dieses Pendeln zwischen makro- und mikroanalytischen Zugängen gewinnt die Arbeit an besonderer Relevanz. Die Stärke liegt in der vielfältigen Methodik, je auf das Forschungsinteresse der einzelnen Kapitel maßgeschneidert: der Einbezug des Marktes Livornos, um Antworten auf Forschungskontroversen bezüglich der Privilegierungen einzelner Händlergruppen zu liefern, der induktive Rückgriff auf vorhandene Modelle, je mit neuem, zum Forschungsraum passenden Quellenmaterial ergänzt und punktuell verwendete, quantitative Erhebungen in der Netzwerkanalyse eines pietistisch geprägten Händlernetzes. Hier hilft auch der Ausblick, dass die Netzwerkuntersuchung keinen Vollständigkeitsanspruch erhebt und ergänzt werden könnte. Durch die Repräsentativität und die Kontextualisierung der verwendeten Beispiele können die Aussagen dennoch überzeugen und zu Beginn entworfene Forschungsfragen beantworten.