Aktuelle Rezensionen
Shigeto Kikuchi
Herrschaft, Delegation und Kommunikation in der Karolingerzeit. Untersuchungen zu den Missi dominici (751-888)
(Monumenta Germaniae Historica. Hilfsmittel 31), Wiesbaden 2021, Harrassowitz, 2 Teile, 1047 Seiten
Rezensiert von Gerhard Immler
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 09.11.2023
Die ältere Forschung hatte das Phänomen der „missi dominici“ als Teil der Verwaltung des Fränkischen Reichs der Karolinger vor allem aus den Kapitularien zu fassen versucht. Jüngere Forschungen, die unter einem regional bezogenen Forschungsansatz an die Rolle der „missi“ herangingen, sind dabei zu Ergebnissen gelangt, die die Auffassung, bei den Königsboten habe es sich um Instrumente einer auf verstärkte Zentralisierung der Macht ausgerichteten Königsgewalt gehandelt, relativieren. Häufig erschien aus diesem Blickwinkel der Missat als ein Mittel zur Legitimierung der Autorität in einer Region mächtiger Dynasten als Zwischengewalt zwischen Königtum und Grafen. In seiner schon 2012/13 von Rudolf Schieffer (†) als Dissertation angenommenen, aber aufgrund verschiedener Umstände erst acht Jahre später gedruckten Studie verfolgt der japanische Mediävist Shigeto Kikuchi einen prosopographischen Ansatz und versucht aus der Beobachtung konkret belegter Aufgabenwahrnehmungen durch „missi“ verallgemeinernde Schlüsse über die Funktion dieses Amtes zu gewinnen.
Im kleineren ersten Teilband stellt er zunächst diese Ergebnisse vor. Eine erste wichtige Feststellung ist, dass Missate stets persönliche Beauftragungen durch den Kaiser oder König waren, die anders als die Ernennungen von Grafen über einen Herrscherwechsel hinaus in der Regel keinen Bestand hatten. Zwar kam es vor, dass ein „missus“ mehreren Herren diente, doch waren dies Ausnahmen, sowohl im Falle einer Tätigkeit über eine Thronnachfolge hinweg wie bei Tätigkeit eines Bischofs als päpstlicher Legat und zugleich königlicher „missus“. Der wohl bemerkenswerteste dieser Sonderfälle ist Erzbischof Arn von Salzburg, der nacheinander Herzog Tassilo III. und Karl dem Großen diente. Was die Verortung des Missatswesens in der politischen Struktur des Karolingerreiches betrifft, so betont Kikuchi seine enge Verbindung zu den Reichsversammlungen. Missi wurden üblicherweise auf denselben instruiert und ausgesandt. Wenig relevant sei demgegenüber die Frage, ob der Kaiser/König die „missi“ frei ernennen konnte oder dabei an die Zustimmung der Versammlung gebunden war, denn es lag zumindest teilweise im Ermessen des Herrschers, wen er zu einer Reichsversammlung berief. Gemäß ihrer häufig in den Kapitularien selbst enthaltenen oder gar deren Hauptinhalt ausmachenden Instruktion sollten die „missi“ die Ausführung von Beschlüssen veranlassen und darüber dem König oder der nächsten Reichsversammlung berichten. Ihre Funktion als stellvertretende Vollstrecker des herrscherlichen Willens vor Ort kommt nach Kikuchi auch darin zum Ausdruck, dass Karl der Große die von ihm nach seiner Kaiserkrönung umgesetzte Reform und Ergänzung der Volksrechte in den älteren Reichsteilen durch „missi“ verkünden ließ, während er dies in den erst von ihm selbst neu erworbenen Gebieten Italien und Bayern persönlich vor Ort bzw. bei einer Versammlung mit sächsischen Magnaten in der Pfalz Salz (bei Neustadt a.d. Saale) vollzog. Andererseits findet sich die schon lange von der Forschung vertretene Auffassung bestätigt, dass in den unter Karl dem Großen neu erworbenen Reichsgebieten, darunter Bayern, das Missatswesen besonders früh und intensiv genutzt wurde. Der Schluss dürfte erlaubt sein, dass gerade die erst jüngst ins Reich integrierten Gebiete, je nach der Wichtigkeit der Angelegenheit abgestuft, entweder die persönliche oder eine symbolische Präsenz des karolingischen Herrschers erforderten, wobei letztere durch die Einsetzung eines „missus“ als Stellvertreter („alter ego“) geschah, der, wie wiederum das Beispiel Arns zeigt, durchaus aus der heimischen Elite stammen konnte.
Aufgrund einer eingehenden Untersuchung der Stellung der „missi“ in den Kommunikationsstrukturen der Reichsverwaltung kommt der Autor zum Ergebnis, dass sie sowohl Vermittler des herrscherlichen Willens in die Regionen als auch deren Sprachrohr am Hof bzw. bei den Reichsversammlungen waren, wobei mündliche und schriftliche Übermittlung von Weisungen und Nachrichten sich ergänzten und der Wille des Herrschers in beiden gleichrangig zum Ausdruck kommen konnte. Wichtig war aber letztlich immer, dass Anordnungen der Zentrale vor den Betroffenen, die ganz überwiegend des Lesens und Schreibens unkundig waren, durch einen bevollmächtigten Sprecher zu Gehör gebracht werden mussten. In dieser Kommunikationskette spielten die „missi“ eine zentrale Rolle. Wenn also gemäß den Lorscher Annalen Karl der Große ab 802 statt der „pauperiores vassi“ hochrangige Geistliche (Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte großer Königsklöster) und Angehörige der Reichsaristokratie als „missi“ einsetzte, so spiegelt diese ohnehin nur teilweise wahre Aussage einer Quelle - es hatte auch schon vor 802 mächtige Große als „missi“ gegeben - nicht, wie die ältere Forschung meinte, einen Verfall eines Kontrollinstruments der Zentralgewalt wieder, sondern seine intensivere Nutzung. Um durchsetzungsstark zu sein, mussten die königlichen Stellvertreter in der Region aus eigener Kraft einflussreich sowie über den Verdacht der Korrumpierbarkeit erhaben sein. Beides war bei den „pauperiores vassi“ offenbar nicht der Fall gewesen. Unter Ludwig dem Frommen wurde der Einsatz von „missi“ unter Systematisierung der Verbindung mit dem Kapitularienwesen noch intensiviert, wovon aber wiederum Bayern, sobald es in dem Königssohn Ludwig (dem Deutschen) einen Unterkönig erhalten hatte, ausgenommen war. Söhne und andere nahe Verwandte des Kaisers oder Königs waren dessen „alter ego“, ohne dafür einer Ernennung zum „missus“ zu bedürfen, wie sich besonders auch bei der Führung des Heeres zeigt.
Unter den Söhnen des zweiten karolingischen Kaisers ging die Entwicklung dann auseinander: Während Karl der Kahle im Westfrankenreich nach Konsolidierung seiner Herrschaft die Politik seines Vaters und Großvaters wieder aufnahm, waren die „missi“ Ludwigs des Deutschen nur mehr als delegierte (Untersuchungs-)Richter in Rechtsfällen tätig, die an den Königshof herangetragen worden waren. Ludwigs Sohn Karl der Dicke machte nur in Italien vom traditionellen Missatswesen Gebrauch. Hintergrund dürfte sowohl eine Stärkung der Macht des regionalen Adels wie ein geringeres Bedürfnis der Zentralgewalt nach ausgefeilten Kommunikationsinstrumentarien angesichts des verkleinerten Herrschaftsgebietes gewesen sein. Als Fazit zieht Kikuchi die Bilanz, dass das Missat keine „Institution“ karolingischer Herrschaft gewesen sei, sondern eben ein „Instrument“, das ein Herrscher flexibel einsetzten konnte, je nach den eigenen Absichten und den Machtverhältnissen in Korrelation zu regionalen Eliten.
Der größere zweite Teilband enthält eine Prosopographie der quellenmäßig belegten „missi dominici“ mit ausführlichen Belegen für deren jeweils knapp beschriebenen Missate und, soweit über die jeweiligen Personen darüber hinaus weiteres bekannt ist, einer Kurzbiographie. Über Erzbischof Arn von Salzburg kommen so z.B. zehn Seiten zusammen. Als eine Art biographisches Lexikon eines erheblichen Teils der Führungsschicht des karolingischen Reiches hat dieser Teilband einen Mehrwert über die Belegsammlung hinaus.