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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Rita Kiss

Ungarnflüchtlinge im Freistaat Bayern 1956–1973

(Studia Hungarica 56), Regensburg 2022, Friedrich Pustet, 312 Seiten, Abbildungen und zahlreiche Tabellen


Rezensiert von Gisela Kaben
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 29.11.2023

Mit diesem Buch hat sich die Autorin zum Ziel gesetzt, die Wege der Ungarnflüchtlinge nach 1956 in und durch den Freistaat Bayern nachzuzeichnen, ohne die Flüchtlingsbewegung außerhalb Bayerns sowie die Belange der sog. „Altflüchtlinge“ von 1945/47 ganz aus den Augen zu verlieren. Das ist, selbst wenn man die grundsätzliche Beschränkung auf ein Bundesland berücksichtigt, eine anspruchsvolle Aufgabe. Das Buch kam 2022 heraus, das Vorwort datiert vom April dieses Jahres, also zu einem Zeitpunkt, als die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine anstieg und der erste große Andrang aus meist außereuropäischen Ländern gerade sieben Jahre zurücklag und seitdem auch nicht versiegt ist. Es kann nicht Aufgabe dieser Rezension sein, das Buch unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen; sicher werden aber die Leser die aktuellen Geschehnisse immer im Gedächtnis haben und Vergleiche ziehen.

In der Arbeit von Rita Kiss wird deutlich, dass die Ungarnflüchtlinge in eine Region kamen, die selbst vor gut zehn Jahren schon Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen hatte. Vergleiche aus dem Blickwinkel dieser Betroffenen mit der Aufnahme der Ungarnflüchtlinge ab 1956 konnten nicht ausbleiben, auch nicht seitens der „Alt-Ungarnflüchtlinge“. Plastisch beschreibt die Autorin, dass nach dem Ungarnaufstand den Ankömmlingen anfangs eine Welle von Sympathie und Aufnahmebereitschaft entgegenschlug, wie sie die Vorgenannten sicher teilweise vermisst hatten. Neben der Bewunderung für die Aufständischen und einem deutlichen Antikommunismus lag der Grund zudem in einer stark anziehenden Konjunktur. Das sogenannte „Wirtschaftswunder“ hatte eingesetzt, das Land näherte sich der Vollbeschäftigung, und man brauchte Arbeitskräfte, nicht zuletzt in industriellen Tätigkeiten. Deshalb wurde positiv vermerkt, dass die Ankömmlinge zum größten Teil junge Männer waren, die sich aufgrund ihrer Ausbildung häufig relativ schnell vor allem in den industriellen Arbeitsprozess eingliedern ließen, sobald die sprachliche Kommunikation sichergestellt war. 95 Prozent dieser Ungarn beherrschten die deutsche Sprache nicht. Rita Kiss legt folglich einen Schwerpunkt auf die Unterbringungsmöglichkeiten und Bildungsangebote, mit denen erst einmal die grundlegenden Bedürfnisse befriedigt werden sollten.

Die Frage war: Wollte man die Menschen auf Dauer im Land behalten, nachdem man bereits in südeuropäischen Ländern sogenannte „Gastarbeiter“ angeworben hatte unter der stillschweigenden Prämisse, dass diese nach dem Arbeitsleben eigentlich wieder zurückkehren sollten. Hier ist eine Rede des bayerischen Ministers für Arbeit und Soziale Fürsorge, Walter Stain, aufschlussreich, der den jungen Menschen ein Ausbildungsversprechen abgab, nicht zuletzt, um sie damit zum Aufbau eines „neuen Ungarns in einem neuen Europa“ (S. 182) zu befähigen, wann immer dieser Fall eintreten sollte. Insofern ist verständlich, dass die geringen Aufnahmekontingente des Bundes erst erhöht und dann ganz fallen gelassen wurden. Bayern wiederum war faktisch nicht nur Aufnahme- sondern auch Durchgangsland. Darauf hatte man immer Wert gelegt, was verständlich war, da das Land insgesamt 90 000 Flüchtlinge durchleitete, von denen schließlich 1541 in Bayern blieben. Die Ziele waren nicht nur weitere Bundesländer, sondern andere Staaten in Europa und vor allem auch in Übersee. Hier darf man nicht übersehen, dass die Bundesrepublik mit Ungarn ja keine gemeinsame Grenze besaß. Die Menschen flohen zuerst nach Österreich, in geringem Maße auch nach Jugoslawien. Zusätzlich kamen etwas verspätet ebenfalls Menschen aus den vor 1919 zu Ungarn gehörenden Teilen Rumäniens.

Wenn auch die meisten Flüchtlinge weiterzogen, manche sogar in die Heimat zurückkehrten, was manchmal gar nicht so einfach war, musste das Gros der Ankommenden erst einmal versorgt und untergebracht werden. Teilweise konnte man noch auf Einrichtungen zurückgreifen, die man für die Vertriebenen benutzt hatte, wobei man sich bemühte, den Standard etwas zu heben. Was den Nachkriegsflüchtlingen nicht gefallen konnte, war andererseits für viele Neuankömmlinge eine Enttäuschung. Hier trafen unterschiedliche Erwartungen aufeinander. In Kapitel V geht die Autorin auch darauf ein, welche Vorstellungen auf den jeweiligen Seiten herrschten.

So machten sich vor allem die ankommenden Jugendlichen übertriebene Vorstellungen vom „goldenen Westen“, nicht zuletzt durch die Propaganda entsprechender Sender. Umgekehrt sah man in Bayern flächendeckend in jedem Flüchtling einen Kämpfer für die Freiheit der Heimat, ohne zu realisieren, dass nur ein Teil der Menschen sich wirklich aktiv gegen das Regime und die Invasoren gewandt hatte. Prägend waren außerdem die romantisierenden Ungarn-Darstellungen in verschiedenen Filmen der Nachkriegszeit. Es kamen vergleichsweise wenige Familien – diese blieben häufig in Österreich oder reisten von dort gleich weiter. Aber die Jugendlichen und jungen Männer wurden ausnahmslos willkommen geheißen. Das hatte die positive Folge, dass die Spendenbereitschaft in der Bundesrepublik sehr hoch war. Neben Bereitstellung von Nahrung und Dingen des täglichen Bedarfs meldeten sich zunehmend Firmen, welche die jungen Leute sofort einstellen wollten, oft außerhalb jeder Kontrolle, so dass staatliche Stellen eingreifen mussten. Die Ankömmlinge wurden in Aufnahmezentren verteilt, von denen die meisten in Bayern lagen und dann nach einer Erfassung weitergeleitet.

Unter den Flüchtlingen waren nicht nur Handwerker und Arbeiter, sondern, je nach Alter, Schüler und Studenten. Deren Ausbildung sollte nach Möglichkeit weitergeführt werden, auch wenn ihre Vorbildung teilweise wenig kompatibel mit dem Standard des jeweiligen Bundeslandes war. Das war ein anspruchsvolles Unterfangen, allerdings bei ja relativ geringen Zahlen. Während die Studenten nach Sprachunterricht an die Universitäten kamen, stellte man fest, dass es bei Jüngeren sinnvoller wäre, sie an die Sprache heranzuführen und gleichzeitig an die schulischen Anforderungen. Dazu wurden Internate eingerichtet, am bekanntesten war das in Kastl, das viele Jugendliche durchliefen, die auch aus anderen Bundesländern kamen. In die Leitung wurden Ungarn eingebunden. Rita Kiss zeigt deutlich die Problematik auf, da unter diesen teilweise die Tendenz bestand, weniger die Eingliederung zu befördern, sondern ein Magyarentum, das nicht unbedingt nur auf sprachlicher Basis beruhte. Das hing auch zusammen mit dem Unterstützervereinen, welche oft von ungarischen Altflüchtlingen geführt wurden. Eine Reihe von ihnen wollte weniger die demokratische Eingliederung in die Bundesrepublik, sondern eine ideologisch verbrämte Kampftruppe. Personell waren diese Vereine aus der unmittelbaren Nachkriegszeit häufig durchsetzt von Menschen, die von einem Groß-Ungarn träumten, manchmal auch den berüchtigten Pfeilkreuzlern mit deutlich antisemitischen Tendenzen. Es dauerte seine Zeit, bis diese Einflüsse zurückgedrängt und die Gruppen kaltgestellt wurden. Zudem traf diese Einstellung bei den jungen Menschen teils auf Gegenliebe und prägte ihr Selbstverständnis. Auch mit umgekehrter Einflussnahme musste man rechnen, denn bei der Aufnahme standen die schnelle Versorgung und Unterbringung im Vordergrund. Erst später konnte man sich mit der realen Möglichkeit befassen, einige Agenten des jetzt in Budapest herrschenden Regimes mit aufgenommen zu haben. Eine sofortige Überprüfung bei Grenzüberschreitung fand auch deshalb nicht statt, weil den Ungarnflüchtlingen pauschal Asyl gewährt wurde.

Mit der Zeit normalisierte sich die Begeisterung für die Flüchtlinge etwas, es gab kritische Anmerkungen, ohne freilich die allgemeine Stimmungslage grundlegend zu ändern. Viele der Ankömmlinge lebten sich ein, wurden immer weniger als solche wahrgenommen. Die aus heutiger Sicht vergleichsweise geringe Zahl der Dagebliebenen erleichterte dies. Die Autorin hat diese Zahlen akribisch aufgelistet. Ihre Tabellen erfassen die Mobilität der Flüchtlinge, ebenso die Aufteilung in die einzelnen Bundesländer. Sie listet die speziellen Einrichtungen vor allem im Ausbildungssektor, die finanziellen Leistungen von Bund Ländern, Kommunen, Kirchen und privaten Trägergruppen sowie internationalen Organisationen auf. Trotzdem forderten die unmittelbar mit den Flüchtlingen befassten Stellen ein stärkeres finanzielles Engagement, gerade auch von den Ländern.

Rita Kiss zeichnet so ein umfassendes Bild der Situation im Bayern der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre als Durchgangs- und Aufnahmeland für Ungarnflüchtlinge, unterstützt durch teilweise privates Bildmaterial. Die Kapitel der gegenseitigen Erwartungen und Missverständnisse sind dagegen etwas kurz gehalten, vor allem, da ja noch Zugang zu privaten Quellen bestand. Auch fast ohne Unterstützung durch Fernsehbilder hatten sich die Vorstellungen vom westlichen Schlaraffenland und den ungarischen Helden, von denen aber viele einfach nur wegwollten, festgesetzt. Hier hätte man sich neben den statistischen Angaben und theoretischen Ausführungen etwas mehr erhofft. Was diese Dissertation aber nicht leisten sollte und konnte, das war ein Blick auf die Vorgeschichte dieser Flüchtlingsbewegungen und die begleitenden Umstände. Das war nicht Thema dieses Buches, es regt gleichwohl dazu an, sich darüber in den zahlreichen Augenzeugenberichten und Untersuchungen (wie zum Beispiel von Paul Lendvai oder Györgi Dalos) weiter zu informieren. Mit seiner großen Fülle an erfassten und schlüssig aufgegliederten und ausgewerteten Daten liefert es unverzichtbare Grundlagen und Anschauungsmaterial und zeigt Erfolge und Fehler auf im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten.