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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Christoph Schmitt-Maass/Gideon Stiening/Friedrich Vollhardt (Hg.)

„Katholische Aufklärung“? Möglichkeiten, Grenzen und Kritik eines Konzepts der Aufklärungsforschung

(Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 33), Hamburg 2021, Felix Meiner, 370 Seiten


Rezensiert von Markus Christopher Müller
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 29.11.2023

Kann man zur „katholischen Aufklärung“ denn immer noch Tagungen abhalten und Sammelbände publizieren? Dass man es durchaus noch kann und auch sollte, zeigt der vorliegende Band, der als Themenband des Interdisziplinären Jahrbuchs zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte von den drei renommierten Aufklärungsforschern Christoph Schmitt-Maaß, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt konzipiert und herausgegeben wurde. Neben dem Fokus auf der katholischen Aufklärung wirft der Band mit der „Dritten Aufklärung“ die Frage nach der Gegenwartsrelevanz der Aufklärung auf – zwei Themenschwerpunkte, die zusammengedacht ganz neue Perspektiven, auch für die bayerische Geschichte, aufzuzeigen vermögen.

Den ersten Schwerpunkt des Themenheftes bilden acht Beiträge, die sich mit ganz unterschiedlichen Seiten und Facetten der „katholischen Aufklärung“ befassen. Im einleitenden, äußerst instruktiven Beitrag widmen sich die Herausgeber gemeinsam der Frage nach Möglichkeiten, Grenzen und Kritik des Konzepts. Den vielen fast schon kanonisch zu nennenden Thesen Harm Kluetings, die besonders auf dessen DGEJ18-Tagung im Jahr 1988 in Trier formuliert und seitdem wenig modifiziert wurden, stellen die Autoren neue kritische Forschungsansätze gegenüber, besonders die Forschungen von Thomas Wallnig und Wolfgang Göderle, welche das Konzept durchaus auf religiöse Perspektiven angewendet wissen wollen, nicht allerdings notwendig auf politische oder gesellschaftliche. Jürgen Overhoff und besonders Ulrich Lehner dagegen betrachten ausgehend von Kluetings Thesen die „katholische Aufklärung“ gar als globales Phänomen. Treffend sprechen die Autoren der Einleitung von einem „Forschungsfeld, das sich mittlerweile durch Selbsthistorisierung kanonisiert hat“ (S. 14). Vor dem Hintergrund der problematischen Operationalisierbarkeit des Begriffs sowie des nur schwer vereinbaren Zueinanders der beiden Universalien „Aufklärung“ und „Katholizismus“ formulieren die Autoren fünf Fokussierungsmöglichkeiten zukünftiger Erforschung des Themas: 1. die Praktiken der Aufklärung, 2. die Akteure und Netzwerke, 3. die Perspektivierung als Histoire croisée/Entangled History, 4. die Konfessionalisierungsthese und 5. die Stellung des Begriffs und der Idee der Säkularisierung. (S. 15) Eine davon inspirierte Forschung könne dann unter vier Perspektiven, nämlich historisch, methodologisch, rezeptionsgeschichtlich und systematisch erfolgen. Unter diesen Prämissen wurden auch die darauffolgenden sieben Beiträge des Sammelbandes erarbeitet.

Philipp Schaller untersucht sehr differenziert die Rezeption des Königsberger Philosophen Immanuel Kant in Österreich, während sich Christoph Schmitt-Maaß mit der Verbreitung der Werke und Ideen Lessings in der dortigen Theaterpraxis befasst. Wilhelm Schmidt-Biggemann beschäftigt sich mit dem „bayerischen Kirchenvater“ Johann Michael Sailer und zeigt dabei gleich zu Beginn die Grenzen einer oftmals vorgenommenen Etikettierung als „katholischer Aufklärer“ auf. Weder Atheismus noch Infragestellung der christlichen Offenbarung noch ein grundlegender Zweifel an der katholischen Kirchlichkeit fänden sich in Sailers Denken und Wirken. Der Autor hätte hier wohl sogar weitergehend überhaupt die Verhaftung Sailers in den klassischen Denkmodellen etwa seines Lehrers Benedikt Stattler betonen können, wie sie unlängst der Augsburger Dogmatiker Thomas Marschler herausgearbeitet hat. Im Grunde bestätigt Schmidt-Biggemann die bereits von Max Spindler vertretene Position, der Sailer als Mittlerfigur zwischen dem barocken Erbe, der modernen Aufklärung und der Romantik sah, in der dieser als Beichtvater König Ludwigs I. von Bayern und Bischof von Regensburg seine kirchlich-kulturelle Wirkmacht entfalten konnte – eben nicht nur ein katholischer Aufklärer!

Der bereits genannte Harm Klueting kommt über die Vereinbarkeit von Aufklärung und Katholizismus zu Wort, indem er einen Überblick über die Genese seiner eigenen Thesen bietet, der getrost als Selbsthistorisierung bezeichnet werden könnte. Die Bezugnahme auf Joseph Ratzinger, den späteren Papst Benedikt XVI., den er mit dessen Arbeiten zu Glaube und Vernunft sozusagen zum Kulminationspunkt der innerkirchlichen Aufklärung stilisiert, krönt Kluetings Genealogie der katholischen Aufklärung und wirkt ob des gewollten Gegenwartsbezugs gleichzeitig befremdlich.

Werner Michler schreibt über den 1729 geborenen bayerisch-österreichischen Lyriker, Bibliothekar und Ex-Jesuiten Michael Denis, den er habituell durch die in seinen Werken fassbare Panegyrik auf das österreichische Herrscherhaus hin orientiert sieht, weshalb die Kategorie einer „katholischen“ Aufklärung kaum einen analytischen Mehrwert zeigt. Gerade der Hinweis auf die dem Wandel unterworfenen Habitusformen der Gelehrten und Gebildeten des 18. Jahrhunderts führt hier weiter. Denn bereits der jüngeren Generation von österreichischen Lyrikern wie Aloys Blumauer oder Franz Xaver Hubert, mit denen sich Michael Schwingenschlögl beschäftigt, fiel es offenkundig sichtlich leichter, sich habituell von tradierten vormodernen Formen zu lösen. Zuletzt untersucht Gideon Stiening den Roman „Faustin“ des bekannten Wiener Aufklärers Johann Pezzl, in dem sich eine klare Infragestellung tradierter katholischer Glaubens- und Offenbarungsinhalte erkennen lässt, was erneut die Frage nach den Grenzen der Kategorisierung als „katholische Aufklärung“ aufwirft. Stiening schließt mit der klaren These, „dass Aufklärung gar nicht katholisch sein kann, sondern Katholizismus ausschließlich als Widersacher oder Gegner behandeln muss“ (S. 248).

Eine Kurzbiographie des aufgeklärten Benediktiners Franz Xaver Bronner (1758–1850) von Elisabeth Mayrhofer schließt den Themenschwerpunkt zur katholischen Aufklärung. Der Mönch Bronner floh aus seinem Kloster Heilig Kreuz im schwäbischen Donauwörth zunächst in die Schweiz, dann an die zaristische Universität in Kasan, um anschließend als Lehrer wieder in die Schweiz zurückzukehren. Bronners überlieferte Autobiographie als „erzähltes Psychogramm“ sieht Mayrhofer als ein „wichtiges Dokument der Katholischen Aufklärung“ (S. 252).

Der erste stark historisch orientierte Teil zur katholischen Aufklärung beinhaltet viele neue und vor allem kritische Diskussionen zu einem scheinbar etablierten Forschungsterminus. Um das Bild weiter zu differenzieren, hätte es allerdings wohl noch einiger weiterer, besonders außer-österreichischer Beispiele bedurft. Der methodisch reflektierte Perspektivenwechsel ist jedoch eingeläutet: das zeigt der vorliegende Band eindrücklich.

Dessen zweiten inhaltlichen Schwerpunkt stellt die Auseinandersetzung mit der Dritten Aufklärung dar. Sie erfolgt als Sammelrezension des im Jahr 2018 erschienenen Büchleins „Die Dritte Aufklärung“ des in Zürich lehrenden Philosophen Michael Hampe.

Die beiden Literaturwissenschaftler Udo Roth und Gideon Stiening diskutieren dessen Thesen auf hohem philosophischen Niveau. Hampe stellt sich ausgehend von der griechischen Aufklärung und aufbauend auf die Aufklärung der Neuzeit gegen aktuelle Aufklärungskritik und die Rede von der Krise der Moderne. Mit Rudolf Meer oder Josef Hlade sieht Hampe die Aufklärung dabei nicht als historische Epoche, sondern als einen Prozess, was er mit dem Plädoyer für weitere Rationalisierung und Säkularisierung im Zeitalter einer wankenden Globalisierung verbindet. Roth und Stiening kritisieren dabei allerdings das Fehlen des „Wie“ in Hampes Beitrag, besonders bei der Frage nach einer Legitimitätskonstruktion einer Aufklärung der Aufklärung. Darin stimmen Roth und Stiening dem Autor zu, der metaphysikkritisch letztlich auf jegliche Rechtfertigung verzichtet und die Frage durch den Verweis auf das konstruierte Arbeitswissen in die Logik der Pragmatik verlagert. Die Konsequenz daraus allerdings bemängeln die beiden Rezensenten, nämlich das Ausbleiben der Antwort auf die Frage nach aufgeklärten Idealen und methodischen Prinzipien einer Bildungslandschaft, welche die Dritte Aufklärung notwendig benötige. Bei aller Zustimmung kritisieren Roth und Stiening schließlich Hampes fehlenden Mut, „konkret Kriterien zu formulieren, an denen wir Aufklärung ermessen, erproben, erlernen, diskutieren, kritisieren und verteidigen können“ (S. 267).

Der Philosoph Gerhard Hartung erkennt in Hampes Buch „eine schonungslose Diagnose unserer modernen Gesellschaft(en)“ (S. 269), sieht guten Willen beim Autor und teilt dessen Analyse, stellt allerdings trotzdem die Frage, „ob dieses Buch sein Ziel erreicht“ habe (S. 271). In Zukunft brauche es weniger Appelle und Manifeste, sondern weitere Impulse für die Frage nach „Bildung als Einübung in eine Haltung, die Ambivalenzen austrägt und erträgt“ (S. 273). Wie viel das allerdings noch mit der historischen Aufklärung zu tun hat, bleibt unklar.

Isabell Karremann verteidigt in ihrem Selbstverständnis des Aufklärungsfeminismus die postkoloniale und feministische Kritik an der Aufklärung, die Hampe um des größeren Ganzen willen nicht gelten lassen will. Sie plädiert deshalb dafür, die Ambivalenz der Aufklärung auch wirklich ernst zu nehmen, für sie exemplifiziert an der Frage der Gleichheit der Frau, welche die Aufklärung historisch betrachtet mit ja und nein beantwortet habe. Teilweise gegen Hampe fordert Karremann deshalb eine „Rekonfiguration der Aufklärung“ (S. 279) im Zusammen von feministischen, aufgeklärten, postkolonialen und postmodernen Perspektiven.

Martin Mulsow fragt nach dem Verhältnis von historischer Praxeologie und Pragmatismus in der heutigen Philosophie, besonders deren normativer Dimension. Die historische Analyse rein deskriptiver Praktiken und die heutige Betrachtung normativer Wahrheitspraktiken müssten entsprechend besser in Einklang gebracht werden.

Christine Weckwerth sieht die sozialen Medien als große Gefahr an, die das selbstständige Denken entbehrlich machten. Entsprechend beurteilt sie Hampes Bildungsbegriff als stark idealisiert und zu unabhängig von ökonomischen und machtpolitischen Dimensionen. Dafür müsse er die Aufklärungsziele selbst einschränken. Die von Hampe geforderte beteiligte Sicht der Geschichte sieht Weckwerth in einem philosophischen Ernstnehmen der individuellen und kollektiven Erfahrungen der in die geschichtlichen Vermittlungsprozesse involvierten Menschen. Aufgabe der Philosophie sei es dann, „die diesen Erfahrungsebenen innewohnenden reflexiven Momente freizulegen“ (S. 302), um so an einer Dritten Aufklärung mitzuwirken.

Frank Grunert lobt Hampe für dessen Thesen, betrachtet die Entkoppelung von Demokratie und Aufklärung als problematisch, sieht aber den sich daraus ergebenden Vorteil, Aufklärung als kulturelles Phänomen betrachten zu können. Die geschichtsphilosophischen und epistemischen Probleme, die sich aus der Erosion der gegenwärtigen Aufklärungskultur für Hampe ergäben, ließen sich nur durch eine Dritte Aufklärung lösen. Dieser chronologische Überbietungsterminus allerdings bringe notwendig das Problem mit sich, dass eine Aktualisierung der Aufklärung leisten müsse, was die „erste“ und die „zweite“ Aufklärung nicht leisten konnten: „die historische Perspektive ist freilich stark unterbelichtet“, so Grunert (S. 309). Die Dritte Aufklärung solle helfen, den Mythos, der Mensch sei in der Geschichte kein handlungsfähiges Subjekt mehr, zu lüften, stelle aber gleichzeitig die Relevanz des Mythos in Frage. Ihr müsse es also vielmehr um „die theoretische Durchdringung und praktische Bewertung einer begreifbar und gestaltbar zu machenden gesellschaftlichen Wirklichkeit“ (S. 313) gehen. Unabhängig von den geschichtsphilosophischen Kritikpunkten sieht Grunert Hampes Plädoyer für Bildung als zentral und unterstützenswert an, deren Unverzichtbarkeit er allerdings genauso stark macht wie deren Ambivalenz. In der Inkommensurabilität der einzelnen subjektiven Bildungserfahrungen sieht Grunert möglicherweise die Grenzen eines objektiven Aufklärungsbegriffs erreicht. Diagnostisch liege Hampe also richtig; ob das Buch Wirkung entfalten könne, sei fraglich.

Zuletzt nimmt Michael Hampe als Autor des kumulativ rezensierten Werkes selbst noch einmal Stellung. Als Philosophieprofessor sehe er sich in der Tradition der Philosophen aller Jahrhunderte, die ihren Teil zum gesellschaftlichen Diskurs beitrugen, womit er noch einmal die Gegenwartsrelevanz auch der Philosophiegeschichte unterstreicht. So sieht Hampe seinen Essay dezidiert nicht als einen philosophiehistorischen Beitrag – so entgegnet er den Einwänden – sondern als „Aufforderung, sich zu erinnern“ (S. 330) [Hervorhebung im Original]. Damit verbindet Hampe die Hoffnung, „dass Schlimmeres als die Gegenwart vielleicht noch verhindert werden kann“ (S. 336). Auch feministischen und postkolonialen Theorien erteilt Hampe eine Absage durch seine Radikalforderung, dass die europäisch und nordamerikanischen Lebensformen nicht einmal fortgesetzt werden dürften, egal in welcher Form, sondern zusammenbrechen oder sich zumindest radikal wandeln müssten. Stattdessen plädiert er für eine „Entlarvung“ (S. 331) des Fortschrittsgedankens mit dem Sich-Erinnern, dass Menschen auch ohne Kapitalismus leben konnten und können. Dabei will Hampe das professionelle historische Erinnern – das Ziel seines Buches also – unterschieden wissen von einem strategischen „ungenauen“ und gleichzeitig trotzdem „nicht unwahren“ Erinnern zum Gedenken, das sich allenthalben im gesellschaftlichen Diskurs wiederfände. Er schließt im Unwissen um die Wirksamkeit schriftlicher Manifeste: „Mir bleibt eben nur die kritische Geste.“ (S. 338)

Diese kritische Geste und die Dokumentation ihrer hochkarätigen Rezensionen in der überaus gelungenen Konzeption des vorliegenden Bandes mag auch ein Weckruf für die bayerische Geschichte sein, die Aufklärung und ihre Geschichte wieder mehr in den Wechselwirkungen in Politik, Gesellschaft und Bildung im Gestern und im Heute in den Blick zu nehmen. Die von Andreas Kraus konsequent vertretene Historisierung des Phänomens auf eine abgeschlossene Epoche mag aus historiographischer Sicht viele Vorteile bieten, an dem, was die Geschichtswissenschaft für die heutige Gesellschaft leisten kann, zielt sie jedoch am Ende vorbei. Denn gerade der vorliegende Band zeigt, welche Gegenwartsrelevanz die Beschäftigung mit einem bis heute in legitimatorischen und identitätspolitischen Debatten immer wieder neu verwendeten Begriff der Aufklärung besitzt. Gleichzeitig sensibilisiert diese Erkenntnis auch für die Debatten rund um die katholische Aufklärung, deren Verklärung genauso wie ihre Ablehnung immer auch mit der Frage nach ihrer Historisierung oder ihrem Weiterleben in den bis heute andauernden Diskussionen um Reformen und Veränderungen innerhalb der katholischen Kirche zusammenhängen. Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft muss es hier sein, ahistorische Schlüsse zu vermeiden, ohne die Gegenwartsrelevanz der Thematik zu leugnen. Dieser Spagat ist dem vorliegenden Band meisterhaft gelungen.