Aktuelle Rezensionen
Henrik Schwanitz
Von der Natur gerahmt. Die Idee der ‚natürlichen Grenzen’ als Identitätsressource um 1800
(Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 65), Leipzig 2021, Leipziger Universitätsverlag, 362 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen
Rezensiert von Thomas Horst
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 06.12.2023
In der deutschen Geschichtswissenschaft hat man sich seit 2004 im Rahmen des ‚spatial turn’ erfreulicherweise vermehrt mit räumlich-geographischen Fragen und Theorien auseinandergesetzt. Diese spielten freilich für die Landesgeschichte stets eine bedeutende Rolle. Die im Wintersemester 2019/2020 bei Professor Dr. Winfried Müller an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden eingereichte, für den Druck geringfügig überarbeitete Promotionsschrift von Henrik Schwanitz ist ein gutes Beispiel hierfür. Die Studie behandelt erstmals umfassend die Genese der Idee der ‚natürlichen Grenzen’ anhand des Beispiels der frühen deutschen Nationalbewegung um 1800. Anhand seiner präzisen, gut formulierten Analyse gelingt es dem Autor eindrucksvoll aufzuzeigen, wie geographisches Wissen „und eine spezifische, in der Aufklärung entstandene Idee der Natur ihre Übertragung auf politische Handlungs- und Ordnungsmuster fanden” (S. 15).
Die Neuerscheinung ergänzt optimal eine am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig publizierte geographische Dissertation zu recht ähnlicher Thematik (Björn Schrader. Geographisierung der Nation. Der Beitrag der Geographie zum nationalen Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1789–1914 [Beiträge zur Regionalen Geographie 67], Leipzig 2014) sowie die einschlägige Habilitationsschrift des Landeshistorikers Andreas Rutz zur räumlichen Organisation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit (Andreas Rutz, Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich [Norm und Struktur 74], Trier 2019). Henrik Schwanitz legt im Gegensatz zu diesen beiden Studien seinen zeitlichen Schwerpunkt jedoch auf die Zeit um 1800 und beleuchtet dabei insbesondere die rheinbündischen Reformbestrebungen in Sachsen, wo ein nationaler Raum konstruiert wurde. Sein Buch besteht aus insgesamt sechs Kapiteln.
In der Einleitung und dem ‚Problemaufriss’ (Kapitel 2) wird dem Leser ein kompakter Überblick über den Forschungsstand (u.a. zur Historischen Grenzforschung/border studies: die Grenze als das Ergebnis kultureller Handlungen und sinnlicher Wahrnehmungen), seinen methodischen Ansatz und den ausgewerteten Quellen geboten. Zugleich wird aufgezeigt, dass insbesondere die ältere Literatur die ‚natürlichen Grenzen’ „zu einem geradezu überzeitlichen Mythos französischer Geschichte” stilisiert habe (S. 16). Schwanitz betont, dass es sich dabei weniger um eine Ideologie handelte, sondern vielmehr um ein naturphilosophisches Problem; die zunächst von Gelehrten der Aufklärung ausgehende Idee der ‚natürlichen Grenzen’ hatte mit der realen Grenzziehungspraxis nichts zu tun. Erst durch die Französische Revolution wurde diese Anschauung im wissensgeschichtlichen Kontext zu einem politischen Handwerkszeug umgeformt. Sie bildete dann die theoretisch-empirische Basis für die politische Idee. Die weitere Entwicklung (Emanzipation der Geographie von der Geschichte, vor allem durch die Länderkunde von Johann Christoph Gatterer [1727–1799] sowie Popularisierung des geographischen Wissens) wird unter dem Hintergrund der Auflösung der einstigen politisch-territorialen Raumordnung bis zum Wiener Kongress umfassend dargestellt.
Der Hauptteil der Arbeit (Kapitel 3 und 4) fokussiert auf die Evokation nationaler Identitäten mittels des Konzeptes der ‚natürlichen Grenzen’ auf deutschem Gebiet. Dieser Ideenkosmos brachte – wie Schwanitz mittels seiner sorgfältig ausgewählten, akteursbezogenen Beispiele eindrucksvoll aufzeigen kann – bereits im 17. und 18. Jahrhundert für verschiedene Wissensbereiche (Rechtslehre, Staatstheorie, Politik, Geographie, Geschichte und Philosophie) einschlägige Diskurse hervor. Sowohl Staatstheoretiker und Juristen als auch Minister und Monarchen setzten sich kritisch mit den herkömmlichen Grenzziehungspraktiken im Ancien Régime auseinander und formulierten erste, auf Natur und Geographie basierende Gegenentwürfe. Somit hatte sich – entgegen der bisherigen Forschungsmeinung – auch auf deutschem Gebiet eine umfassende Anschauung der ‚natürlichen Grenzen’ entwickelt, die nicht nur in politisch-wissenschaftlichen Kreisen, sondern auch im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert war. Dieses Theorem bot sich in der krisenhaften Zeit um 1800 „als neues Ordnungssystem par excellence” (S. 155) an. Durch die Verbindung mit dem Natur- und Vernunftgedanken der Spätaufklärung, die vollkommene Rationalität suggerierte, wurde dieser Gedanke sowohl von Mitgliedern rheinbündischer Reformbewegungen als auch von Vertretern der deutschen Nationalbewegung in ihren Diskussionen über Nation, Vaterland und nationale Identitätsbildung eingebunden.
Im vierten Kapitel gelingt es dem Autor ein komplexes, vielfältiges Bild dieser nationalen Akteure zu gewinnen. Visuell anschaulich wurde der räumlich-geographische Bezug des entstehenden deutschen Nationalismus auch auf der Landkarte Europas sichtbar. So löschte etwa Lorenz Oken (1779–1851, ein führender Vertreter der deutschen Nationalbewegung) auf seiner 1814 in Jena publizierten Deutschland-Karte (Abb. 7, erfreulicherweise ausklappbar!) „den französischen Staat in seiner Utopie kurzerhand aus” (S. 211).
Die geographische Dimension der rheinbündischen Reformen wird exemplarisch am Beispiel Sachsens, das 1806 zum Königreich erhoben wurde, dargestellt. Nach dem Ende des Alten Reiches kam es bekanntlich zu fundamentalen Veränderungen und einer territorialen ‚Flurbereinigung’. Dies begünstigte die Entfaltung einer räumlich-geographisch determinierten Identität, welche das sprachlich-kulturelle Identitätsmodell erweiterte und die Nation im geographischen Raum verortete. Spätestens mit dem Beginn der Reformbestrebungen setzte dazu in Sachsen ein umfangreicher Diskurs ein. Dieser schlug sich auch kartographisch nieder. Im Mai 1811 formulierte der aus den merseburgischen Nebenlanden stammende Stiftskanzler Christian Friedrich Georg von Gutschmied (1756–1813) seinen „Versuch einer neuen Kreis-Eintheilung” (Hauptstaatsarchiv Dresden, 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 1351/06). Diesem war eine bei Schreibers Erben in Leipzig gedruckte Karte des Königreichs Sachsen beigegeben, in der handschriftliche Vorschläge einer Neugliederung des Staatsterritoriums eingetragen wurden (Abb. 10, ebenso ausklappbar). Und sogar unmittelbar nach dem Wiener Kongress bestand noch Hoffnung, das sächsische Staatswesen grundlegend neuzuordnen: der kursächsische Hofrat und Geheime Archivar Karl Gottlob Günther (1752–1832) nutzte zur Darstellung seiner Ausführungen eine 1798 in Weimar publizierte, unkolorierte „Charte den südlichen Theil des Obersächsischen Kreises vorstellend” des preußischen Kartographen Franz Ludwig Güssefeld (1744–1808), in der er mit der Feder seine Vorschläge zu einer Neugliederung Sachsens farblich hervorhob (Abb. 11 und 12, Klapptafel). Mittels der Idee der ‚natürlichen Grenzen’ erhielt somit „die diskursive Konstruktion des Nationalen eine konkrete geografisch-räumliche Grundierung und visualisierbare Manifestierung” (S. 307).
Einige zeitgenössische Gegenpositionen zur Theorie der ‚natürlichen Grenzen’ werden im Epilog der Studie (Kapitel 5) zusammengestellt. Zu den Kritikern dieser Idee zählten etwa der Frühromantiker Friedrich Schlegel (1772–1829), der Leipziger Publizist Johann Adam Bergk (1769–1834) oder Friedrich Gentz (1764–1832), der als Mitarbeiter von Staatskanzler Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859) entscheidend an dessen innen- und außenpolitischen Konzeptionen beteiligt war.
Ein kurzes Resümee (die ‚natürlichen Grenzen’ als „Ergebnis diskursiver, symbolischer Konstruktionen, kultureller Zuschreibungen und sinnlicher Wahrnehmungen”, S. 308) , das obligatorische Quellen-, Literatur- und Abbildungsverzeichnis sowie ein hilfreiches Personen- und Ortsregister runden die Studie ab. Anzumerken bleibt lediglich, dass der Autor für seinen Abriss zur Genese auch die einschlägige Dissertation von Daniel Schlögl (Der planvolle Staat. Raumerfassung und Reformen in Bayern 1750–1800 [Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 138], München 2002) hätte heranziehen können. Darin hätte er vielleicht weitere Anregungen für einen frühen landeshistorischen Vergleich sowie für die zunehmende Bedeutung von Grenzen im Rahmen der Etablierung einer behördlichen Kartographie (als Grundlage der Politik zum inneren Landesaufbau) finden können. Dennoch liefert die hier rezensierte Studie einen wichtigen Beitrag, vor allem zur Ideen- und Wissenschaftsgeschichte des behandelten Zeitraums.