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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Markus Wesche

Zwei Bayern in Brasilien. Johann Baptist Spix und Carl Friedrich Philipp Martius auf Forschungsreise 1817 bis 1820. Eine andere Geschichte

Mit einer Edition der Reiseberichte an König Max I. Joseph von Bayern und weiteren Dokumenten zur Reise, München 2020, Allitera, 448 Seiten, zahlreiche Abbildungen


Rezensiert von Maximiliane Rieder
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 14.05.2024

Als 1817 in Triest zwei österreichische Fregatten in See stachen, waren auch Plätze für zwei Naturforscher von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften reserviert. Gelegenheit zur Teilnahme des Botanikers Carl Friedrich Philipp Martius (1794-1868) und des zwölf Jahre älteren Zoologen Johann Baptist Spix (1781-1826) an der Brasilienexpedition bot die Hochzeit von Erzherzogin Leopoldine von Österreich mit dem portugiesischen Thronfolger Dom Pedro. Seit sich die größte Kolonie der Welt nach der Flucht des portugiesischen Hofs vor Napoleons Invasionsarmee nach Rio de Janeiro im Jahre 1808 Handel und Erforschung öffnete, lieferten sich Gelehrte aus Europa in parallelen Expeditionen einen Wettbewerb zur Erkundung des noch weitgehend unentdeckten Landes. Die Forscher aus Franken bereisten Brasilien, das seinen Reichtum Gold- und Edelsteinminen, Zuckerplantagen und dem Sklavenhandel verdankte, in einer politischen und gesellschaftlichen Umbruchzeit kurz vor der Emanzipation vom portugiesischen Imperium. Ihre legendäre Expedition führte von Rio de Janeiro nach São Paulo als südlichste Region in das Landesinnere nach Salvador da Bahia und in den Nordosten. Vom heutigen Belém aus ruderten Spix und Martius auf dem Amazonas bis an die Grenze zu Spanisch-Amerika und kamen damit weiter als die Konkurrenz aus Österreich, Preußen, England und Frankreich. Aus reinem Erkenntnisgewinn riskierten sie unter gesundheitlichen Opfern ihr Leben im Amazonasdschungel. Es war der gefährlichste und schwierigste Teil der Forschungsfahrt, mit seiner singulären Artenvielfalt aber auch der ergiebigste.

Zum 200-jährigen Jubiläum ihrer Rückkehr legte der Historiker und Philologe Markus Wesche eine beeindruckende Forschungs- und Editionsarbeit über die erste wissenschaftliche Forschungsreise des modernen Bayern vor. Der beste Kenner der archivalischen Überlieferungen zur bayerischen Brasilienexpedition erschloss das trotz aller Kriegsverluste noch erhaltene vielfältige Archivmaterial in München und Wien. Dazu zählen Briefe und Berichte der Naturwissenschaftler an König Max I. Joseph sowie Tagebücher aus Martiusʼ Nachlass in der Bayerischen Staatsbibliothek und im Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Die Protagonisten waren verpflichtet, regelmäßig ihren naturwissenschaftlich interessierten Mäzen über Reiseverlauf und Ausgaben zu unterrichten sowie für die Akademie Belege ihrer wissenschaftlichen Beobachtungen zu sammeln. In Auszügen veröffentlichte die Münchener Zeitschrift „Eos“ ab 1818 die aus Brasilien spärlich eintreffenden Briefe und Berichte. Sie waren zensiert, da die Forschungsgefährten auch die bizarren Umstände mangels eines professionellen Illustrators und ihre ständigen Geldsorgen schilderten. Wesche hat nun erstmals vollständig alle Berichte an den Monarchen sowie einen Bericht an die Akademie und den nach der Rückkehr vorgelegten Abschlussbericht im Original herausgegeben (S. 271-367) und in einem umfangreichen Anmerkungsapparat erschlossen. Neben der ursprünglich geplanten kommentierten Edition entstand eine breite Rekonstruktion der Expedition mit biographischen Exkursen zu naturwissenschaftlichen Zeitgenossen (etwa Bonpland, de Saint-Hilaire, Natterer, Pohl, Sellow, Prinz zu Wied-Neuwied) und sämtlichen in den Quellen genannten Personen. In stetem Rekurs auf Informationen aus den Archiven stellt der ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter der Akademie die persönlichen Berichte an den Souverän dem in den Jahren 1823, 1828 und 1831 in München publizierten Reisewerk („Reise in Brasilien auf Befehl Sr. Majestät Maximilian Joseph I., Königs von Baiern, in den Jahren 1817 bis 1820 gemacht und beschrieben“) gegenüber. Mit dem beigegebenen Atlas aus Lithografien und Kupferstichen (Karten, Szenen aus dem Leben der Ureinwohner, ihre Gerätschaften und Porträts, Darstellung von Landschaften und Pflanzentypen) umfasst die dreibändige Landeskunde fast 1500 Seiten. Zu ihren „Quellen“ zählen die Korrespondenz mit Eltern, Martiusʼ Bruder, Freunden und der Akademie ebenso wie die Berichte und Tagebücher, in denen die Brasilienforscher ihre Eindrücke und existenziellen Erfahrungen unmittelbarer und detaillierter beschrieben. Im Reisewerk gingen sie sehr gezielt, tendenziös und glättend mit Erlebnissen und Absichten um. Wesche holt in gewisser Weise eine kritische Edition der monumentalen „Reise in Brasilien“ nach: Die „andere Geschichte“ rückt den Blick auf die Vorgeschichte der Unternehmung und Ereignisse während der Expedition in ein neues, präziseres Licht.

Der Autor gliedert den Band in sechs Abschnitte. Der Einführung folgt ein Abschnitt über den Anlass der Reise und die Ausgangslage in München mit Informationen über die Instruktionen, die der König von der Akademie ausarbeiten ließ, die materielle Ausstattung, Finanzierung und das Reisegepäck. Im dritten und vierten Abschnitt wechselt der Schauplatz nach Brasilien. Zunächst geht es um das damalige Wissen über das Tropenland. Enzyklopädisch erklärt Wesche zeitgenössische Begriffe und Wissenschaftsdiskurse im historischen Kontext, etwa über die Pflanzengeografie als neue Disziplin der Botanik oder Schellings Zivilisationstheorie bis hin zu anthropologischen Debatten über Rassenunterschiede ausgehend von Linné, Kant oder den Anatomen Blumenbach und Soemmering. An die Ausführung über Maße, Gewichte und Währungen schließt die Darstellung der Lebenshaltung der Naturforscher auf der Grundlage des überlieferten Ausgabenbuchs sowie von Begegnungen mit Kollegen und deutschen Bergingenieuren an. Ein Kapitel handelt vom Versand des immensen exotischen Sammlungsguts, das ohne Verluste in der Heimat ankam – heute die Grundlage der zoologischen, botanischen und ethnologischen Staatssammlungen in München. Die kostbaren Zeugnisse der Indianerkultur im Museum Fünf Kontinente, darunter angekaufte Masken, Federschmuck, mumifizierte Trophäenköpfe und Waffen, sind in der öffentlichen Wahrnehmung der Expedition heute stärker präsent als mit ihrem wissenschaftlichen Ertrag. Ein weiteres Kapitel stellt Kolonisationsprojekte vor und fokussiert die in Brasilien angetroffene Bevölkerung verschiedener Hautfarbe. Der knappe fünfte Abschnitt untersucht den Einfluss der Veröffentlichung des Universalgelehrten von Humboldt über seine Expedition durch Spanisch-Amerika (1799-1804) auf Erkenntnisgegenstand und Methodik des Reisewerks von Spix und Martius.

Der Edition ist als sechster Abschnitt die Frage der Verfasserschaft der von beiden Forschern unterzeichneten Berichte und der „Reise in Brasilien“ vorgeschaltet. Wesche weist nach, dass Martius als Schreiber verantwortlich zeichnet und auch das Reisewerk als Ausarbeitung der unterwegs verfassten vier Tagebücher „weitgehend oder fast ausschließlich“ aus seiner Feder ist. Der formelle Expeditionsleiter Spix verstarb wenige Jahre nach der Rückkehr an den Folgen der Reise, während Martius in München als Universitätsprofessor und Direktor des Botanischen Gartens sowie der Botanischen Staatssammlung die Ausbeute der Expedition wissenschaftlich bearbeiten konnte. Darunter finden sich Beobachtungen zum Erdmagnetismus und Messungen klimatischer Phänomene. Bis heute sind die breit rezipierte Gesamtdarstellung von Brasiliens Flora in 40 Bänden und die dreibändige Naturgeschichte der Palmen seine große Leistung für die Wissenschaft. Parallel entstanden Fachpublikationen zur Ethnologie mit Beiträgen zu Sprache und Musik der Urbevölkerung sowie über die brasilianische Materia medica. Martiusʼ Forschungsauftrag hatte auch die Sammlung und Dokumentation pharmazeutisch nutzbarer Tropenpflanzen umfasst, daher wurden 200 in Europa damals unbekannte Medikamente verschifft (S. 365). Der aus einer traditionsreichen Erlanger Apothekerfamilie stammende Arzt praktizierte in Brasilien und begegnete voller Bewunderung der Heilkunde und dem Arzneischatz der Medizinmänner. Das Reisewerk beschreibt indigene Krankheits- und Therapiekonzepte sehr genau. In einem Anhang gibt Wesche 19 Briefe der Gefährten an die mit ihrer Geldversorgung und dem Postverkehr betrauten Diplomaten der bayerischen Gesandtschaften in Wien und London sowie an weitere Beamte in Regesten und Auszügen wieder, darüber hinaus einen Brief von Spix an Martius von 1818 mit dessen Replik und Martiusʼ Rückschau von 1860. Ein Namens-, Orts- und Sachregister erschließt dieses äußerst fundierte Grundlagenwerk über die ertragreichste Forschungsreise nach Brasilien im 19. Jahrhundert. Die Sammlungen der Österreicher, von denen sich die Bayern unabhängig gemacht hatten, und der Preußen blieben weitgehend unveröffentlicht. Aufgrund ihrer Verdienste um die bahnbrechende Erschließung von Wissen über das größte Land Südamerikas wurden Spix und Martius geadelt.

Der Autor bereichert das Buch mit ausführlich beschriebenen zeitgenössischen Bilddokumenten. Die Forscher wünschten die Begleitung eines naturwissenschaftlichen Illustrators, denn ohne umfassende Visualisierung wissenschaftlicher Erkenntnis konnte sich in Europa niemand die neue Welt der südamerikanischen Tropen vorstellen. Während Staatskanzler Metternich auch Experten für Handel und Zoll sowie Maler entsandte, verweigerte Bayerns Regierung aus Sparsamkeit einen Zeichner. Ohne ausreichende Ausbildung mussten Spix und Martius daher die zeichnerische Dokumentation von Flora, Fauna, Landschaft und Bevölkerung selbst vornehmen.

Wesches geschliffener Erzählkunst ist eine große Leserschaft zu wünschen. Er holt den hierzulande im Vergleich zu Brasilien heute fast vergessenen Martius – schon damals als Kritiker der Regenwaldabholzung ein Vordenker ökologischer Probleme – aus dem Schatten Humboldts und schenkt der weiteren Forschung eine wertvolle Handreichung.