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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Heinz-Dieter Heimann

Schinkels Brunnen und das Königsgrab an der Saar. Eine Gedächtnisgeschichte und politische Affäre Preußens

(Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 56), Berlin 2022, Duncker & Humblot, 187 Seiten, zahlreiche Abbildungen


Rezensiert von Christoph Goldt
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 14.05.2024

Eine Gedächtnisgeschichte besonderer Art hat der emeritierte Mediävist an der Universität Potsdam, Heinz-Dieter Heimann, vorgelegt, die zugleich das Geschichts- und damit auch letztlich ein Sendungsbewusstsein von Personen und Institutionen im Zentrum Europas miteinander verbindet. Mit dem vorgelegten Werk kommen wir zu einem wesentlichen, wenn nicht dem entscheidenden Punkt der Geschichtsschreibung einerseits und der Geschichtsforschung andererseits, nämlich der Fragestellung, wer oder was ein historisches (kollektives) Gedächtnis prägt und mit welchen Absichten ein solches Gedächtnis für die jeweilige Gegenwart und Zukunft Verwendung findet, um nicht zu sagen instrumentalisiert wird.

Heimann nimmt dabei die (ungewöhnliche) Geschichte des aus der Luxemburger Dynastie stammenden späteren Königs Johann von Böhmen (1296-1346) bzw. seiner Gebeine in den Blick, die nach seinem Tod in der Schlacht von Crécy eine wahre Odyssee erlebten, bis sie schließlich in Folge der Französischen Revolution im Jahre 1795 in den Besitz der Luxemburger Steingut-Fabrikantenfamilie Boch kamen und später eine (doch nur vorläufige) Ruhestätte in Kastel (Saar) fanden. Soweit die Odyssee Johanns von Böhmen. Doch warum und wann beginnt nun daraus eine politische Affäre Preußens zu werden?

Dazu gehört sicherlich die von Heimann mit Recht herausgestellte Bedeutungsvermehrung Preußens nach 1815 in Deutschland und die Vergrößerung des Territoriums im Westen. Als der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm 1833 nach Mettlach kam, wurde ihm durch Initiative des dortigen Landrats Salentin von Cohausen – der Unternehmerfamilie Boch-Buschmann bekannt – „die ruinöse Eremitage am Steilhang der Saar [in Kastel, CG] zum Ehrengeschenk gemacht“ (S. 67) und Jean-François Boch-Buschmann, den der Kronprinz besuchte, bot diesem die Gebeine Johanns zum Geschenk an. Friedrich Wilhelm beauftragte daraufhin den preußischen Baumeister Karl Friedrich Schinkel – der bereits seit den 1820er Jahren gemeinsam mit dem Unternehmer und preußischen Staatsbeamten Christian Beuth mit Boch-Buschmann bekannt war (S. 74 ff.) – mit dem Bau einer Kapelle in der ehemaligen Eremitage für die künftige Grablege Johanns. Aber nicht nur das: Schinkel schuf auch jenen Brunnen auf dem Gelände der dortigen ehemaligen Benediktinerabtei im nicht weit entfernten Mettlach (Saar), die nach der Säkularisation über einen weiteren Vorbesitzer schließlich 1809 (S. 62) in das Eigentum von Jean-François Boch-Buschmann überging und bis heute Sitz des Unternehmens Villeroy & Boch, 1836 hervorgegangen aus den Unternehmen der Familien Boch-Buschmann und Villeroy (S. 62), ist. Mit dieser Konstellation rückten sowohl die Gebeine König Johannes in seiner Grablege als auch der Mettlacher Brunnen ins Zentrum politischen Interesses bzw. waren damit Angelpunkte der öffentlichen Gedächtnisgeschichte sowohl Luxemburgs als auch Preußens bzw. des späteren Deutschen Reiches.

Johann wurde nicht nur zum Inbegriff eines vollkommenen christlichen Ritters des Mittelalters mit seinen Idealen stilisiert, sondern war als Graf von Luxemburg zugleich auch eine wichtige Figur für die nationale Identitätsfindung der Luxemburger, für ihre Geschichts- und Nationalschreibung – und damit für die Memoria des Landes. Als Sohn des römisch-deutschen Königs bzw. Kaisers Heinrich VII. wurde Johann zugleich eine Identifikations- und Integrationsfigur für das Haus Hohenzollern, Preußens und letztlich gar des Deutschen Reiches nach 1871. Gedächtnisgeschichte als nationale „Konkurrenzgeschichte“.

„Diese Vergegenwärtigungen des Vergangenen wurden dabei gezielt der politischen Kultur der Gesellschaften und Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts eingeschrieben. [...] Es ging ihnen um die Legitimation dynastischer Herrschaft, nicht weniger zugleich um konkurrierende und nicht nur nationale Identitätsansprüche und eine eigenwillige historisch ausgerichtete kollektive Gedächtnisgeschichte in der Erinnerung an einen toten König“ (S. 20), wie Heimann zu Recht feststellt. Er führt weiter aus: „Erinnerungsstrategien, wie sie in Grablegen sichtbar wurden, trugen zur Bildung oder Festigung sozialen und politischen Zusammenhalts bei.“ (S. 21)

Die ökonomische Erfolgsgeschichte des Unternehmers Boch-Buschmann führte einerseits nicht nur zu einem weitgehenden Netzwerk in Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch zu stetiger Innovation, verbunden mit der „Fähigkeit, soziale und kulturelle Werte als ‚Kapital‘ zu erkennen, sich an ihnen auszurichten und darüber weitere Verbindungen einzugehen. Boch-Buschmann verband Unternehmersinn mit kultureller Repräsentation und demonstriertem Geschichtssinn“ (S.64). Dies und seine Erfahrungen im Zusammenhang mit der Französischen Revolution führten dazu, dass er sich schließlich in einer Bekenntnisschrift und – später als Abgeordneter der Paulskirchenversammlung 1848/49 – für den Anschluss Luxemburgs an das Deutsche Reich und ein unter preußischer Führung stehendes Deutsches Reich aussprach (S. 72).

Umso bedeutender – weil letztlich die „politische Affäre Preußens“ begründend – das wohl zufällige Treffen zwischen Boch-Buschmann und dem damaligen Kronprinzen am 11. November 1833 in Mettlach. Der schließlich von Schinkel geschaffene Brunnen, ein Gegengeschenk des Kronprinzen für die Übergabe der Gebeine König Johanns in Verbindung mit der Grablege in Kastel – sie waren Symbole einer nationalen Gedächtnisgeschichte, Orte kollektiven Gedächtnisses, die zugleich dazu beitrugen, im Wechselspiel nationaler Interessen in Europa den Spannungsbogen über die Deutungshoheit der Geschichte zu erhalten.

Sie zeigen zudem, dass die Kategorien von Nationalität und Identität für einen Umgang mit mittelalterlicher Gedächtnisgeschichte in der Gegenwart – weder in der des 19. Jahrhunderts noch des 21. Jahrhunderts – nicht passen und dass somit dynastische und nationale, um nicht zu sagen nationalistische Vereinnahmungen von Personen oder Ereignissen der Geschichte immer wieder an ebenderselben vorbeigehen. Ja, man könnte sogar so weit gehen und fragen, ob sich nicht auch eine (nationale) Gedächtnisgeschichte „irren“ kann – entweder, wenn sie bzw. die mit ihr verbundenen Erinnerungsorte bewusst von Regierungen für ihre Zwecke instrumentalisiert werden und damit nicht objektiv sind, oder schlicht deshalb, weil eine kollektive Erinnerung anders konstituiert ist als eine individuelle. Kollektive Erinnerungskultur an konkreten Orten als konstituierender und kontinuierlicher Akt einer nationalen Identitätsbildung – diese Art der Memoria war geradezu kennzeichnend für das 19. Jahrhundert.

Es bleibt zu hoffen, dass die Überführung der Gebeine Johanns nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1946 nach Luxemburg letztlich ein Beitrag dazu waren, den Blick weg von nationaler Gedächtnisgeschichte hin zu einer europäischen Gedächtnisgeschichte zu weiten. Oder, wie Heimann schreibt: „Die hergebrachte historisch-politische Gewichtung der Gebeine als Ausweis nationaler Größe trug aber nicht in allen Teilen der politischen Öffentlichkeit der Nachkriegszeit. Am Ende der politischen Affäre stand demokratiepolitisch Versöhnliches zwischen historischen Nachbarn. Das ist mehr als bemerkenswert.“ (S. 164)

Fazit: Das neue Buch von Heinz-Dieter Heimann ist nicht nur aus fachwissenschaftlicher Sicht überaus gelungen, sondern der Autor hat es verstanden, den Leser auf eine vielfältige und auch psychologisch interessante Reise zur Gedächtnis- und damit auch Kultur- und sich entfaltender Nationalgeschichte des 19. Jahrhunderts mitzunehmen, die auch einen weiteren Blick auf die Geschichte der nationalen Identität europäischer Völker wirft; sowohl in ihrer jeweiligen nationalen Identität als auch in einem kollektiven europäischen Gedächtnis.