Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Gisela Naomi Blume

Der neue jüdische Friedhof in Fürth. Geschichte – Gräber – Schicksale

(Personengeschichtliche Schriften 12), Nürnberg 2019, Gesellschaft für Familienforschung in Franken, 736 Seiten, zahlreiche Abbildungen


Rezensiert von Benigna Schönhagen
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 22.05.2024

Friedhofsdokumentationen sind zu wichtigen Standardwerken jüdischer Lokalgeschichte geworden, sie belegen die meist jahrhundertealte Existenz jüdischer Gemeinden in Deutschland. Deren gewaltsames Ende unter dem NS-Regime hat diese Form des Totengedenkens überhaupt erst entstehen lassen, da es niemanden mehr gab, der die Tradition der Memorbücher fortsetzen konnte, die aschkenasische Gemeinden seit dem Mittelalter führten.

Heute erfassen diese Dokumentationen wichtige kulturhistorische Zeugnisse. Sie dokumentieren nicht nur die Entwicklung der jeweiligen Gemeinde(n), sondern sie bieten auch eine Fülle an genealogischen und lokalgeschichtlichen Informationen sowie Zeugnissen der jüdischen Sepulkralkultur. Doch die späte Hinwendung zur jüdischen Geschichte und zum Erhalt jüdischer Zeugnisse und Denkmäler, die den Holocaust überstanden haben, zeigt sich auch in diesem Bereich. Obwohl Verwitterung die steinernen Informationsquellen fortschreitend bedroht, dauerte es bis in die 1980er Jahre, bis die ersten Friedhofsdokumentationen erstellt wurden.

Die im Gefolge der Auschwitzprozesse gegründete Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen machte 1981 den Anfang. Seitdem wurden in ihrem Auftrag insgesamt 75 von knapp 350 jüdischen Friedhöfen auf wissenschaftlicher Grundlage erfasst. 1989 folgte Baden-Württemberg, wo die Dokumentation der 145 Friedhöfe durch das Landesdenkmalamt 2003 abgeschlossen wurde. Andere Bundesländer zogen nach. 2020 startete das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege ein umfassendes Inventarisationsprojekt jüdischer Grabmäler in Bayern, das sich auf umfangreiche Vorarbeiten von Lokalhistorikern und Ehrenamtlichen stützt (https://bet-olam-bayern.de/cementeries). Seit 2006 stellt das Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte der Universität Duisburg-Essen mit seiner epigraphischen Datenbank Friedhofsdokumentationen aus ganz Deutschland und darüber hinaus mit der Möglichkeit zur Volltextrecherche und zahleichen Suchfunktionen online (https://web.archive.org/web/20221008004535/http://www.steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat).

Doch neben den digitalen Ausgaben werden Friedhofsdokumentationen weiterhin gedruckt. Sie bilden nicht nur ein wertvolles Archiv für wissenschaftliche Recherche und erinnerungskulturelle Vermittlungsarbeit. Sie haben darüber hinaus auch die Funktion von Gedenkbüchern. Das trifft gleichfalls auf die Dokumentation des neuen jüdischen Friedhofs in Fürth zu, die 2019 als Band 12 in der Reihe „Personengeschichtliche Schriften“ der Gesellschaft für Familienforschung in Franken erschienen ist.

Gisela Naomi Blume, die Autorin des gewichtigen, über 700 Seiten umfangreichen Bandes und von 2004 bis 2008 Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Fürth, hat bereits 2007 ihre Rekonstruktion des alten Fürther jüdischen Friedhofs publiziert, anschließend die Friedhöfe von Oberzenn und Uehlfeld dokumentiert und für Fürth mit mehreren Projekten der Erinnerungsarbeit ein, wie es im Vorwort des Fürther Oberbürgermeisters heißt, „sicherlich einzigartiges Werk [geschaffen; B.S.], das nicht nur dazu beiträgt, den Toten ihre Ehre und Würde zurückzugeben, sondern den Hinterbliebenen auch einen Teil ihrer Vergangenheit, ihrer Wurzeln“.

Der Band ist in zwei, ihrem Umfang nach höchst unterschiedliche Teile gegliedert. Während der erste auf gerade 20 Seiten die Geschichte des 1881 erworbenen und ab 1906 belegten Friedhofs sehr knapp skizziert, listet der zweite alle „Gräber und Schicksale“ auf, nach Grabfeldern geordnet.

Zwei der zehn Grabfelder sind Kindern vorbehalten und ein nach 2000 belegtes den nichtjüdischen Ehepartnern der weitgehend aus Kontingentflüchtlingen bestehenden aktuellen Gemeinde – eine pragmatische Lösung, zu der sich nicht alle Gemeinden durchringen.

Jedes Grab ist in dem Band mit einem Foto vertreten, allerdings sind diese so klein oder verschattet, dass die Inschriften oft nicht zu entziffern sind. Umso wichtiger ist es, dass die Inschriften ebenfalls vollständig wiedergegeben wurden. Die meisten sind in Deutsch gehalten und spiegeln ebenso wie die Formen der Grabsteine die Assimilation der Fürther Gemeinde zu Beginn des 20. Jahrhunderts wider. Die seltenen hebräischen Inschriften sind leider nur in deutscher Übersetzung wiedergegeben. Auf jede Fotografie eines Steins folgen genealogische Angaben in einem festen Schema, das Hinweise zu Eltern, Kindern, Ehepartnern, Wohnadressen sowie Todesdatum und -ursache, zusätzlich Tag und Tageszeit der Beerdigung umfasst. Daran schließt sich eine biografische Skizze an, die detailreich unterschiedlichste Informationen zusammenträgt. Mit Katasterunterlagen, den Familienregistern der jüdischen Gemeinde, Adressbüchern und zahlreicher lokalgeschichtlicher wie biografischer Literatur ist die verwendete Quellengrundlage außergewöhnlich umfangreich. Zusammen mit den zahlreichen Fotografien erinnerungskultureller Zeichen und thematisch einschlägiger Gebäude spiegeln diese Angaben die lange und akribische Sammelarbeit der Verfasserin wider, verlangen aber nachgerade nach einer systematisierenden Auswertung.

So stellt der Band eine Fundgrube für viele weitere Untersuchungen dar, sei es zur Herkunft der Toten, der Berufs- und Sozialstruktur der Gemeinde, zu ihrer Organisation und religiösen Haltung sowie zu den Stufen der Verfolgung, aber auch zur Epigrafik und Stilgeschichte der Grabsteingestaltung.

Zu den zahlreichen Entdeckungen, die Leserinnen und Leser dabei machen können, gehört auch eines der Doppelgräber, von denen es auffallend viele auf diesem Friedhof gibt. Der Stein fällt durch zwei einander zugeneigte, vollplastisch gestaltete Bäume auf. Er wurde 1918 für Sofie Heilbrunn, geb. Honig gesetzt, deren Mann Leopold erst dreißig Jahre später beigesetzt wurde. Das markante Grabdenkmal stammt von Léo Marschutz (1903–1976), dem Neffen der Verstorbenen. Eine Tante der Verstorbenen heiratete in Wien den aus dem schwäbischen Buttenwiesen stammenden Moritz Bauer (1840-1905), dessen Tochter Adele Bloch-Bauer stand Gustav Klimt für das Bild Adele Modell, das zu einer Ikone des Jugendstils wurde. Unzählige weitere Geschichten verbinden sich mit den Grabsteinen. Etwa die Geschichte von Bertha Anker, die bei ihrem Tod 1918 der Stadt ihr gesamtes Vermögen von über 200.000 Reichsmark stiftete, oder von Sigmund Morgenthau, der sich als Stadtrat in den 1920er Jahren gegen den Zusammenschluss von Nürnberg mit Fürth starkmachte. Auch die Geschichte des Holocaust und der Nachkriegsgemeinde lässt sich an den Geschichten nachvollziehen. So finden sich viele nachträglich angebrachte Hinweise auf Opfer der Schoa, aber auch einige Überlebende, die nach 1945 eine neue Gemeinde aufbauten wie der in Lodz geborene Jakob Salzträger, der mehrere Konzentrationslager durchlitt, bevor er im Dachauer Außenlager Landsberg am Lech befreit wurde, nach Fürth kam und dort 40 Jahre lang der Gemeinde als Vorstand und Schammes diente.