Aktuelle Rezensionen
Gerlinde von Westphalen
Lady Abbess. Benedicta von Spiegel. Politische Ordensfrau in der NS-Zeit
Münster 2022, Aschendorff, 537 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Rezensiert von Ignacio García Lascurain Bernstorff
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 03.06.2024
Die vorliegende Biografie der Eichstätter Äbtissin Benedicta (Elisabeth) von Spiegel (1874–1950) stellt einen Beitrag für gleich drei Gebiete der Geschichtswissenschaft dar: die Adelsgeschichte, die Benediktinergeschichte und die Zeitgeschichte. Entsprechend dem Untertitel („Politische Ordensfrau in der NS-Zeit“), lässt sich der letzte Aspekt auch als Politikgeschichte betrachten, wenngleich kirchliche Wirkfelder und Ämter der Akteure im Vordergrund stehen, beispielsweise des Priesterprofessors Franz Xaver Wutz und der Bischöfe Konrad Graf von Preysing und Michael Rackl.
Die 16 Kapitel umfassende Monografie stellt das Leben einer gut vernetzten und gebildeten Adeligen im 20. Jahrhundert in chronologischer Reihenfolge dar. Den Auftakt macht allerdings eine ausführliche Beschreibung der Äbtissinenweihe Spiegels im September 1926. Die Studie fußt vornehmlich auf der Korrespondenz Spiegels im Archiv ihrer Abtei St. Waldburg in Eichstätt. Insofern ist die wiederholte Betonung neuer archivalischer Erkenntnisse (S. 12, 70, 105, 206, 271, 402) berechtigt. Eine herausragende Rolle als privilegierte Beobachterin über einen langen Zeitraum spielt die Lieblingsnichte der Äbtissin, Aloysia Freiin von Spiegel, eine Verwandte des Gatten der Verfasserin. Die Themenkomplexe sind stets ineinander verwoben, entsprechend den Wirkungsfeldern Spiegels, so etwa Passagen, die sowohl die Benediktiner- als auch Adelsgeschichte in ihren unterschiedlichen Lebensphasen erhellen (S. 27, 395). Die zwei Gründungen der Äbtissin im angelsächsischen Raum – Holy Cross in Boulder (Colorado, USA) und St. Mildred in Minster (Ramsgate, UK) – untermauern die Auswahl der Anrede „Lady Abbess“ als Titel der Biografie, die sowohl aus der Korrespondenz Franz Xaver Wutzʼ mit Spiegel (S. 23, 179) als auch aus der Bezeichnung der Kirchenfrau in Dokumenten der Alliierten (S. 388, 409) entnommen ist.
Die Autorin trägt viel neues Material zu den Seligsprechungsprozessen jeweils von Therese Neumann und von Fritz Gerlich bei. Die Palette an Erkenntnissen reicht von der Kommunikation der Widerstandsgruppe um die Zeitschrift „Der gerade Weg“ über Nebenakteure, wie den Neupriester Bruno Rothschild und den hilfsbereiten NS-Mann Friedrich Stoer, bis hin zu neuen Details zur Gefangennahme Gerlichs (S. 283 ff.). Die Verfasserin setzt sich fundiert mit der neuesten Forschungsliteratur zu diesen Personen auseinander. Das Buch bereichert auch die Ordensgeschichte der Benediktiner im Allgemeinen, jedoch insbesondere in Belgien und Deutschland, wo Spiegel gelebt hat. Durch ihr weltgewandtes Auftreten drängt sich die Frage auf, die ihr selbst anlässlich ihres Klostereintrittes gestellt wurde, über die gesamte Erzählung hinaus: „Was tust du eigentlich lieber, Lika, tanzen oder beten?“ (S. 39)
Wenngleich die vermeintliche Hysterie Spiegels in der ersten Buchhälfte (S. 166 f., 104, 186) sowie spannungsgeladene Konfliktbeziehungen geschildert werden, wie diejenige zu Gottfried Ewald einerseits als dezidierter Kritiker ihrer Freundin Therese Neumann und andererseits als Lebensretter ihres Bruders Adolph von Spiegel, kommt auch die intellektuelle Begabung und das geschickte politische Handeln der Benediktinerin immer wieder zum Tragen. Bezüglich des politischen Handelns lässt sich das Leitmotiv des Eigenschutzes als Rechtfertigung für möglicherweise kontroverse Taten ausmachen (S. 206, 265, 380). Dadurch wird auch ihre Führungsrolle legitimiert. Dieser Führungsanspruch war in ihrem Standesbewusstsein begründet (S. 51, 70, 97, 273, 296). Die Monografie Westphalens steht damit im Zeichen der Fragestellungen zeitgenössischer Adelsgeschichte der Moderne, die nach einem Vorrang des Politischen, vornehmlich nach „Positionsbestimmungen einer sozialen Gruppe unter den veränderten und sich permanent und beschleunigt weiter verändernden Bedingungen der Moderne“ (E. Conze/M. Wienfort) fragt und eine „kulturell zu verstehende Identitäts- und Stabilitätsbehauptung“ feststellt. Westphalen erweitert damit die Ansichten des von ihr mehrfach zitierten Friedrich Keinemann bis hin zur jungen Bundesrepublik (S. 416 f.) im Sinne einer kontinuierlichen Politisierung des westfälischen Adels seit dem Kulturkampf bei einer bemerkenswerten Handlungskontinuität in der Weimarer Republik. Mehrere Fotografien und Verzeichnisse runden dieses Buch ab, das die Geschichtsschreibung in verschiedenen Richtungen bereichert.