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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Wolfgang Petz

Zuflucht auf Zeit. Lageralltag in Kempten 1945 bis 1949 aus der Sicht des litauischen Fotografen Kazys Daugėla

(Kataloge und Schriften der Museen der Stadt Kempten [Allgäu] 29), Friedberg 2023, Likias, 128 Seiten, 91 Abbildungen


Rezensiert von Markus Naumann
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 03.06.2024

Annähernd 10.000 sogenannte Displaced Persons (DPs) befanden sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Herbst 1945 in der damals ca. 34.000 Einwohner zählenden Kleinstadt Kempten im Allgäu. Es handelte sich dabei um Ausländer, die es aufgrund der deutschen Besatzungspolitik und des Kriegsverlaufs aus ihrer Heimat hierher verschlagen hatte. Wegen der hohen Zahl mussten diese Menschen auf Veranlassung der US-Militärregierung in Lagern untergebracht werden. Das größte befand sich in der „Schloßkaserne“, dem Nordflügel der ehemaligen Fürstabtei Kempten (Residenz), und auf dem Gelände der angrenzenden Prinz-Franz-Kaserne. Über 1.300 Litauer lebten hier bis 1949 zeitweise; die ersten waren bereits 1943 als zivile (Zwangs-)arbeitskräfte in Kempten angekommen, die Masse später als Flüchtlinge vor der Roten Armee und dem stalinistischen Terror. Der genaue Migrationsgrund lässt sich im Einzelnen aufgrund der Aktenlage wohl nicht mehr ermitteln. Um die Versorgung der DPs und ihre Rückführung in die Heimatländer kümmerte sich die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), 1947 wurde sie von der International Refugee Organization (IRO) abgelöst, nachdem sich die Probleme einer geordneten Rückführung der osteuropäischen DPs als unlösbar herausgestellt hatten. Das Kemptener IRO-Büro lag auf dem Gelände des Litauerlagers, des letzten zu diesem Zeitpunkt in der Stadt noch bestehenden DP-Lagers.

Unter den litauischen DPs befand sich der Fotograf Kazys Daugėla (1912–1999). Seine Fotografien stehen im Mittelpunkt des anzuzeigenden Buches, das als Begleitband zu einer Ausstellung im Kempten-Museum entstanden ist. Sie zeigen den Nachkriegsalltag aus der bisher wenig bekannten Perspektive ausländischer Flüchtlinge und Verschleppter, zumal Einheimischen der Zutritt zu den DP-Lagern nicht gestattet war. Daugėla hatte an der Höheren Landwirtschaftlichen Lehranstalt in Wien (Universität für Bodenkultur) ein Diplom als Kulturingenieur erworben. Nach seiner Rückkehr vom Studium widmete er sich der Fotografie. Ab 1937 erzielte er neben seiner beruflichen Tätigkeit als Kulturtechniker im Landwirtschaftsministerium und Hochschullehrer erste Erfolge bei Ausstellungen. Im Frühjahr 1945 gelangte er auf der Flucht nach Kempten; dort lebte er zuletzt nicht mehr im Lager, sondern fand eine Privatunterkunft. 1949 konnte er mit seiner Frau und der vierjährigen gemeinsamen Tochter in die USA ausreisen, wo er als Vermessungs- und Bauingenieur arbeitete und diese Tätigkeiten wiederum mit der Fotografie verband. Daugėla nahm mit seinen Bildern weltweit an Wettbewerben und Ausstellungen teil, heute befinden sie sich größtenteils im Architekturmuseum in Vilnius.

Mit den in Kempten entstandenen Aufnahmen gelingt es Kazys Daugėla, das Leben in und außerhalb des Lagers einfühlsam und mit Liebe zum Detail zu dokumentieren. Seine Bilder erzählen vom Leben in Massenquartieren, von der Unterbringung in Dachkammern, von Winterkälte, dem Mangel an Nahrungsmitteln und von der Ratlosigkeit angesichts der Zeitläufte. Trotz der schwierigen äußeren Bedingungen entfalteten die Litauer in Kempten bei weitgehender Selbstverwaltung ein bemerkenswertes kulturelles Leben, organisierten Gottesdienste, kirchliche Jugendgruppen, ein breites Bildungsangebot vom Kindergarten über eine sechsjährige Grundschule, ein Gymnasium, an dem Daugėla Englisch unterrichtete, bis zu Kursen für Erwachsene, Sportveranstaltungen, Schachturniere, Konzerte und Theateraufführungen unter anderem im Kemptener Stadttheater. Litauisches Brauchtum wurde gepflegt und eigene Lagerzeitschriften hielten den Gedanken an die Heimat und eine Rückkehr dorthin wach. Letztlich emigrierten die meisten Litauer-DPs allerdings nach Nordamerika. All dies spiegelt sich in den Fotos.

Der Autor Wolfgang Petz bezeichnet die Aufnahmen von Kazys Daugėla zu Recht als Glücksfall. Ihm selbst kommt das Verdienst zu, sie mustergültig aufbereitet und in einem einleitenden, anschaulich mit Bild- und Quellenmaterial ausgestatteten wissenschaftlichen Aufsatz in den historischen Kontext gestellt zu haben. Dabei nimmt er die Situation der Balten insgesamt in den Blick; bis zu 2.500 Litauer, Letten und Esten lebten nach dem Krieg in Kempten. Petz stützt sich schwerpunktmäßig auf Unterlagen aus dem Stadtarchiv Kempten; punktuell werden Bestände aus den UN Archives und den National Archives der USA einbezogen. Hier bieten sich Anknüpfungsmöglichkeiten für künftige Forschungen – nicht nur in Bezug auf die Balten, sondern auch Angehörige anderer Staaten wie Polen, Ukrainer und Russen. Spannend wäre sicher auch noch die Klärung der Frage, inwieweit sich Kollaborateure mit den deutschen Besatzern unter ihnen befanden und wie ihre weiteren Lebenswege verliefen.

Komplettiert wird das von Volker Babucke vom Likias Verlag in Friedberg sehr ansprechend und gediegen gestaltete Buch durch eine biografische Skizze zu Kazys Daugėla aus der Feder seines Neffen und Nachlassbesitzers Antanas Skaisgiris sowie persönliche Erinnerungen Daugėlas an seine Jahre in Kempten.