Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Judith Sandmeier

Die Erfindung des Ortsbildes. Malerischer Städtebau, Ortsbildpflege und Heimatschutz in Bayern um 1900

Berlin 2023, Gebr. Mann, 412 Seiten


Rezensiert von Thomas Götz
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 17.06.2024

Möglicherweise hätte der ursprüngliche (Unter-)Titel der an der Bauhaus Universität Weimar eingereichten Dissertation den Kern dieser breit interdisziplinär angelegten Studie noch präziser getroffen: „Die Anfänge der städtebaulichen Denkmalpflege in Bayern um 1900“. Denn die etwas modische Rede von der „Erfindung“ suggeriert neuschöpferische Freiheiten, die im Amalgam der noch jungen Disziplinen von Städtebau und Denkmalpflege um die vorletzte Jahrhundertwende gerade nicht vorlagen. Das „geschlossene Ortsbild“ mochte als gleichsam regulative Idee vage sein – erscheint aber dann in seinen Konkretionen als grundständig kontextgebunden, wie Sandmeier ja selbst in den Kapiteln über „Voraussetzungen und Rahmenbedingungen“ und den davon abhängigen Akteuren mit ihren Netzwerken breit und fundiert – auf rund einem Drittel des gesamten Textes – ausführt (S. 37-143). Die erhaltenden Leitbilder des Städtebaus setzten Veränderungen im Zuge dynamischer ‚Modernisierung‘ (wie in den Großstädten München und Nürnberg) oder auch nach großen Brandkatastrophen wie in Seßlach, Mittenwald oder Zirl in Tirol jene spezifischen Grenzen im Denk-, Plan- und Machbaren, die der heutigen städtebaulichen Praxis ganz offensichtlich fehlen. Die von Sandmeier präsentierten, wohlausgewählten Beispiele, zu denen neben den genannten auch Mittelstädte wie Weiden oder Lindau sowie Märkte (Frickenhausen) oder weitere Dörfer (Oberammergau, Welsberg) gehören, unterstreichen dies, archivalisch dicht belegt, nachdrücklich und anschaulich (nicht zuletzt mittels attraktiver einschlägiger Abbildungen im Anhang). Diese Fallstudien werden sinnvoll, weil sich jeweils erläuternd, verzahnt mit jenen wissenschaftlichen, medialen und rechtlich-planungstechnischen Prozessen (hilfreich zu den Instrumentarien siehe insbesondere S. 269-276, 310-314), die vor dem Ersten Weltkrieg aus „Vorbildern“ und „Nachbildern“ dann „Ortsbilder“ machten; so lautet auch die sinnige Überschrift der verdichteten Zusammenfassung (S. 315-319). Ob es hierzu eingangs konzeptionell bzw. dann in der Untersuchung selbst unbedingt Giorgio Agambens Begriff „Dispositiv“ gebraucht hat, um Kontexte, Fachtheorie, Wissen, Macht, Akteursnetzwerke und Planungspraxis zusammenzuführen, überlässt der Rezensent dem Leser.

Warum man dann um 1900 in Bayern so gebaut hat wie man es tat (und nicht nur dort – die Arbeit lädt zur Vergleichen im gesamten deutschsprachigen Raum ein), ist letztlich vor allem der vor 1914 so enorm rührig-erfolgreichen „Heimatschutz“-Bewegung zu verdanken. Es war „symptomatisch“, wie Sandmeier bemerkt, dass der Bayerische Verein für Volkskunst und Volkskunde, der die staatlicherseits ausgelagerte Beratungstätigkeit von Kommunalverwaltungen und privaten Bauherrn im großen Maßstab leistete, sich 1912 in „Bayerischer Heimatschutzverein“ umbenannte (S. 309). Bis hinauf in die ministerielle Ebene war ein bildungsbürgerlicher Wertekanon weitgehend Konsens geworden, im Zuge dessen einzelne namhaft-herausragende akademische Protagonisten mit ihrem fachlichen Einfluss und Prestige und dann amtliche, ehrenamtliche und bürgerschaftliche Akteure vor Ort eben vielfach an einem Strang zogen. Sandmeier macht dies am Beispiel der Lindauer Altstadt und dem mit der Stadt vielfältig freundschaftlich verbundenen Friedrich (von) Thiersch besonders anschaulich. Im Blick auf die an sich als notwendig erachteten Veränderungen auch im Bestand wird hier ersichtlich, dass man sich in dem medial, z.B. durch Inventare und Bildvorträge vermittelten Zusammenwirken von Stadtraum, Bild und Struktur „der Geschichtlichkeit, Besonderheit und Schönheit des Eigenen bewusst [geworden] war“ (S. 219).

Kontextueller Hintergrund für das dann so prägende Ineinandergreifen von Denkmalschutz und Städtebau war zuvorderst die rasante Umgestaltung der überkommenen (agrarischen) Kulturlandschaft im Zuge der fossilenergetisch möglich gewordenen Revolutionierung von Bautechniken und -materialien, auch in Bayern. Zunehmender Kommerz und Verkehr (er-)forderte Durch- und Abbrüche, vorab bei nutzlos-störend gewordenen mittelalterlichen Stadtmauern bzw. -toren. Angesichts des Verlusts erschien das Bedrohte nun als „malerisch“ und nicht als funktional, aber als kollektiv-identitätspolitisch erhaltenswert – mithin auf eine Weise umzugestalten, dass auch die Veränderung, das Nachbild, die „Geschlossenheit“ des Ortsbilds nicht zerstörte, ja fallweise sogar erst (neu) herstellte (vgl. die Beispiele Mittenwald und Zirl; hier kann von „Erfindung“ am ehesten die Rede sein). Die Lösung konnte sich dann wiederum anderswo – abstrakt – als Vorbild eignen. Dem Ideal Rothenburg ob der Tauber gemäß sollte jedenfalls immer ‚das Ganze‘ (hier: der Stadt) gesehen und weiterhin „geschlossen“ zumindest erscheinen – und solcherart den Bruch in und durch die modernen Zeiten heilen; darum ging es zuallererst. Die „heimische Bauweise“ in Vergangenheit und Gegenwart, in Studium, Denkmalpflege und Baupraxis bot dabei Orientierung: Diese habe sich, so die Durchführungsbestimmungen einer einschlägigen Ministerialentschließung, „aus der Geschichte und den Eigentümlichkeiten des Volksstammes, aus den örtlichen Sitten und Lebensbedürfnissen, dem heimischen Baumaterial, aus den klimatischen und sonstigen Verhältnissen der Gegend in Verbindung mit der nicht selten von auswärts beeinflussten, schöpferischen Kraft der Baumeister“ entwickelt. Und diese Achtsamkeit für die „Wechselwirkung von Baukultur und Kulturlandschaft, dem regionalen Wissen und um die Nutzung von regionalen Baustoffen“, so Sandmeier (vgl. S. 91), bildete bezeichnenderweise in Zeiten wachsender Gefährdung eine wirksame Klammer zwischen Denkmalpflege (samt vorgängiger Inventarisierung), medialer Ästhetisierung und Popularisierung ‚guter Beispiele‘ sowie fallweise zähem Aushandlungskampf zwischen den Beteiligten. Sandmeier weist sicher zu Recht kritisch darauf hin, dass die „heimatlichen Musterlösungen“ und ihre vorgeschlagenen ‚Verbesserungen‘ der Tendenz zur „Typisierung“ und damit zur ‚Konstruktion‘ unterlagen (vgl. S. 309). Gleichwohl ist damit eine Grundfrage jeweils aktueller Baukultur berührt – wie sich Neubauten in den Bestand einer (alten) Stadt einfügen lassen. Dem heute Lebenden bleibt überlassen zu urteilen, ob aktuelle den damals realisierten Lösungen gewachsen sind – oder nicht. Ohne Zweifel waren Wunsch nach und Wille zu einem „geschlossenen Ortsbild“ vor dem Epochenbruch 1914/18 an Voraussetzungen und Kontexte vielfältiger Art gebunden, die heute verloren bzw. gänzlich entfallen sind. Von den Gründen dafür zu handeln, erforderte aber ein eigenes Buch.

Judith Sandmeier hat mit ihrer enorm material- und literaturgesättigten Studie (das Verzeichnis umfasst rund 40 Seiten!) ein Werk vorgelegt, deren umkreisende Reflexionen zu den verflochtenen Wechselwirkungen von Denkmalpflege, Städtebau und Architekturpraxis in den Zeiten fortschreitender Transformation überkommener Agrikultur- in Industrielandschaften anregend und mit Gewinn zu lesen ist. Dem Buch ist breite Rezeption, auch in den Nachbar- bzw. Teilwissenschaften zu wünschen, von der Kunstgeschichte über die Stadt- und Urbanisierungs- bis hin zur Umweltgeschichte oder Kulturlandschaftsforschung.