Aktuelle Rezensionen
Markus A. Meinke
Bayern und der Eiserne Vorhang 1945-1990. Die Grenzregime der DDR und der Tschechoslowakei im Vergleich
Regensburg 2023, Friedrich Pustet,470 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Rezensiert von Helmut R. Hammerich
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 03.07.2024
Die Dissertation von Markus A. Meinke füllt eine Lücke in der Erforschung des „Eisernen Vorhanges“, nimmt er doch einen Vergleich zweier Grenzanlagen vor, die Bayern fast fünf Jahrzehnte von Ostdeutschland und der damaligen Tschechoslowakei trennten. Die von Ulf Brunnbauer an der Universität Regensburg betreute Arbeit ist klar in sechs Kapitel gegliedert. In den ersten beiden einleitenden Kapiteln beschreibt der Autor seinen überzeugenden Ansatz, den er gekonnt sowohl im aktuellen Forschungsstand als auch in der Zeitgeschichte verortet. Meinke will nicht nur die vordergründigen politischen und pioniertechnischen Aspekte dieser Grenzen untersuchen, sondern vielmehr das „Milieu des Grenzraums“ (S. 45) in den Blick nehmen. Ihm geht es auch um die mentale Konstruktion der Grenze, um Emotionen und Wahrnehmungen des Gegenübers. Seine Quellenbasis ist beeindruckend und weist bisher unbekannte Archivbestände ehemaliger Grenzpolizeiinspektionen oder Grenzschutzabteilungen aus. Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Filme und Dokumentationen sowie Interviews runden seine Quellenauswahl sinnvoll ab.
Das erste Hauptkapitel zeigt den Auf- und Ausbau der Grenzen zu Bayern seit 1945. Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten der ostdeutschen und tschechoslowakischen Grenzregime, allen voran das identische, am sowjetischen Beispiel ausgerichtete Grundprinzip, überwogen doch die Unterschiede. Diese waren zum Beispiel die Nutzung unterschiedlicher Sperrelemente wie Minenfelder und später Selbstschussanlagen auf der ostdeutschen oder Hochspannungszäune und freilaufende, scharf abgerichtete Hunde auf der tschechischen Seite. In den 1970er Jahren wurden beide Grenzanlagen ausgebaut, modernisiert und perfektioniert, um dann wiederum in den späten 1980er Jahren durchlässiger zu werden. Hier schöpft der Autor aus dem Vollen, wenn er die perfiden und menschenverachtenden Methoden der beiden Staaten vergleicht. Kritisch anzumerken ist nur, dass er sich hin und wieder in seiner Argumentation zu widersprechen scheint. Etwa, wenn er die harmlos wirkende tschechoslowakische Grenze beschreibt und mit der tödlichen DDR-Grenze vergleicht (S. 122-141), und dann zum Erstaunen des Lesers zum Ergebnis kommt, dass die Annahme eines harmloseren Grenzregimes der CSSR „illusorisch“ sei (S. 137). Ja, im Gegenteil die statistische Auswertung sogar deren höhere Effektivität belege. Hier sind dann die Kapitelzusammenfassungen hilfreich, die bei durchschnittlich rund einhundert Seiten Umfang pro Hauptkapitel sonst verzichtbar gewesen wären.
Im vierten Kapitel geht der Autor der Frage nach, wie die Grenzregime in Bild, Text und Ton dargestellt und in der Bevölkerung beiderseits der Grenzen verankert wurden. Dieser spannende Abschnitt zeigt einen ganzen Blumenstrauß an zum Teil kuriosen Maßnahmen der Staaten, die Grenze zu erklären oder für das eigene politische Regime als Ort der Propaganda zu nutzen. Der Autor spricht von Propagandaschlachten, meist mit Plakaten, Tafeln oder Lautsprecherdurchsagen, aber auch mittels Flugblattraketen und -luftballons oder schwimmender Materialhülsen ausgefochten. Erst die neue Ostpolitik der Regierung Brandt führte zu einer Veränderung. Die CSSR hingegen warb in ihrer Grenzzone hauptsächlich für den Tourismus. Nach innen sollte der Sinn der waffenstarrenden Grenze durch Filme, Erzählungen und sogar durch Romane nachgewiesen und ein gemeinsames Feindbild geschaffen werden. Bei seiner Analyse nutzt der Autor gewinnbringend einen Ansatz von Edith Sheffer aus dem Jahre 2007, die am Beispiel der Grenzstädte Neustadt bei Coburg (Bayern) und Sonneberg (Thüringen) den beiderseitigen Konstruktionen der innerdeutschen Grenze nachging. Leider werden dabei die Grundlagenwerke zu den Grenztruppen der DDR kaum genutzt, so dass viele Erkenntnisse als neu erscheinen. Dies gilt zum Teil auch für das nächste Kapitel.
Die Ausführungen im fünften Kapitel zu den Kontakten und Verhaltensschemata der Grenzorgane auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges sind nicht weniger spannend. Vor allem auf Zeitzeugenberichten fußend weist Meinke nach, dass der Grenzdienst mit großen körperlichen und psychischen Belastungen verbunden war. Die persönlichen Motive zu diesem schweren Dienst waren vor allem finanzielle Sicherheit, politische Überzeugung sowie Abenteuerlust. Dafür musste ein Klima der Anspannung und der Angst ertragen werden, welches vom Auf und Ab des Kalten Krieges bestimmt wurde. Im Vergleich waren die grenzüberschreitenden Kontakte von ostdeutscher Seite unerwünscht, während die CSSR-Grenzorgane bis zum Einmarsch der Streitkräfte des Warschauer Paktes im August 1968 und dann wieder ab Ende der 1970er Jahre durchaus offener waren.
Kapitel 6 schließlich untersucht die Durchlässigkeit des „Eisernen Vorhangs“. Zum einen geht es um die Mittel und Methoden für die lebensgefährliche Überwindung des Hindernisses, zum anderen um die Motivlage der Betroffenen. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass die tschechoslowakische Grenze in den 1950er Jahren wegen der Starkstromzaunanlagen kaum zu überwinden war. Die DDR-Grenze dagegen war erst ab Mitte der 1960er Jahre schwer zu überwinden. Bis Mitte der 1980er Jahre waren beide Grenzen dann wohl gleich professionell gesichert und erst ab 1986 stieg die Zahl der erfolgreichen Fluchten nach dem Abbau der Minenfelder und Selbstschussanlagen in der DDR deutlich an. Der Autor spricht hier von der Entwicklung hin zu einer „semi-permeablen“ Grenze (S. 436) und belegt dies nicht zuletzt mit der Schilderung verschiedener, teils spektakulärer Fluchtversuche und gelungener Fluchten. Die Motivationen zur Flucht waren vielfältig und reichten von politischen, wirtschaftlichen bis hin zu rein privaten Gründen. Und das galt auch für die erstaunlich vielen Grenzübertritte von West nach Ost. Nach dem vollständigen Abbau sämtlicher Grenzanlagen, der sich bis Mitte Dezember 1995 hinzog, entwickelte sich die Grenzregion dann zu einem gemeinsamen Lebensraum und teilweise sogar zu einer Vorzeigeregion in der Mitte Europas.
Insgesamt legt Markus A. Meinke eine in sich schlüssige, gut geschriebene und mit viel Neuigkeitswert ausgestattete Studie über zwei brutale Grenzregime des Kalten Krieges vor, die den eher neutralen und starren Begriff des „Eisernen Vorhanges“ mit Leben füllt.