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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Tjark Wegner

Handlungswissen, Kommunikation und Netzwerke. Der Ulmer Rat im Konflikt mit geistlichen Einrichtungen (1376-1531)

(Schriften zur Südwestdeutschen Landeskunde 84), Ostfildern 2023, Thorbecke, 580 Seiten


Rezensiert von Sarah Maria Lorenz
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 03.07.2024

Wissen ist Macht - Handlungswissen noch mehr, denn mit Erfahrung und Know-how lässt sich so manches politische Problem lösen, das wusste man bereits im spätmittelalterlichen Ulm.

Der Tübinger Historiker Tjark Wegner kommt nicht umhin, diese Tatsache auf den 580 Seiten seiner Dissertation über die Konflikte des Rates der Stadt Ulm mit den dortigen Konventen festzustellen. Gleich zu Beginn werden drei „Schlagworte“ eingeführt: „Handlungswissen, Netzwerke und Kommunikation“ (S. 28). Zu Recht wird bei den letzten beiden Begriffen an die aktuelle Mode der soziologisch-philosophischen Netzwerk- und Kommunikationsforschung in der Geschichtswissenschaft angeknüpft (S. 29-31) und gleichzeitig der Versuch unternommen, sie mit der empirischen Forschung der Ulmer Regionalgeschichte in Einklang zu bringen.

Völlig neu ist hingegen der Begriff des „Handlungswissens“ (S. 37-41), der eigentlich aus der Psychologie stammt und in der Analyse der Interaktion historischer sozialer Gruppen bisher wenig Beachtung fand. In Abgrenzung zum theoretischen Wissen beschreibt er die kognitive Fähigkeit, aus praktischen Erfahrungen eine eigene Professionalität in einer bestimmten Problemstellung zu erwerben („Generieren, Anwenden, Tradieren“, S. 40) und lässt sich kurz auf den Begriff des „knowing how“ bringen (vgl. Robert Kreitz, Wissen, Können, Bildung - ein analytischer Versuch, in: Bildung-Wissen-Kompetenz, hg. von Ludwig A. Pongratz/Roland Reichenbach/Michael Wimmer, Bielefeld 2007, S. 98-136, hier S. 12). Diese praktische Komponente des „Gewusst-wie“ führt dazu, dass Handlungswissen vor allem in der pädagogischen Forschung im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Unterrichtsmethoden diskutiert wird. Dieses Konzept auf das politische Agieren der Ulmer Institutionen des Spätmittelalters anzuwenden, ist ein innovativer Ansatz, der vom Autor zu Recht für weitere Regionalstudien gewünscht wird (S. 442).

Das untersuchte Aktenmaterial stammt in erster Linie aus dem Stadtarchiv Ulm und dem Staatsarchiv Ludwigsburg und ist mehr als ausreichend. Hervorzuheben sind die bereits edierten Briefe der Söflinger Klarissen, die besonders im Reformkonflikt der 1480er Jahre wichtig werden. Diese breite Quellenbasis erlaubt es, der Monographie einen ausführlichen und sehr übersichtlich gestalteten Anhang mit den Analysen der einzelnen im Buch vorkommenden Elitendynastien, der Auflistung der Konventsmitglieder der besprochenen Einrichtungen und einer Auflistung der Ratsmitglieder der Stadt Ulm anzufügen (S. 443-527).

Der Untersuchungsraum konzentriert sich auf die spätmittelalterliche Reichsstadt Ulm, wobei er sich, wenn es um Wissensräume geht, auch oftmals innerhalb der Netzwerke der handelnden Akteure ausweiten kann. Mit den Jahren 1376 bis 1531 umfasst die Studie die turbulente Epoche der Ulmer Stadt- und Regionalgeschichte zwischen Reform und Reformation.

Gegliedert in vier Teile steckt der Autor (S. 44) zunächst den Rahmen seiner Untersuchung ab und führt die oben genannten Begriffe ein, um dann die einzelnen Protagonisten der Ulmer Stadtgesellschaft (Bürgerschaft, Adel, Franziskaner- und Klarissenkloster sowie verschiedene Ordensgemeinschaften) auf ihre Netzwerkkompetenz hin zu untersuchen. Danach kommt Wegner zur Substanz der Studie. Chronologisch vorgehend, analysiert er die Konflikte zwischen dem Rat der Stadt Ulm und den geistlichen Institutionen unter der Prämisse der Anwendung von Handlungswissen. Im Kern ging es bei den Auseinandersetzungen um die Absicht des Ulmer Rates, die einzelnen religiösen Gemeinschaften einem Reformprogramm zu unterziehen und diese damit einer stärkeren Kontrolle zu unterwerfen. Obwohl sich die Konvente vehement dagegen wehrten, hatten einige (zunächst) Erfolg, andere weniger. Wegner stellt also einen Zusammenhang zwischen Handlungskompetenz, vorhandenen Netzwerken und Konflikterfolg her. Sehr anschaulich wird dies anhand des Reformversuchs der Söflinger Klarissen und des Franziskanerordens durch den Ulmer Rat in den Jahren 1484 bis 1487. Interessanterweise treten dort individuelle Akteure wie die Klarisse Magdalena von Suntheim in Erscheinung, die mangels eigener Erfahrungen den Franziskaner Guardian Jodocus Wind um Rat für das richtige politische Vorgehen bat. Die überlieferte Korrespondenz belegt eindrucksvoll die Nutzung kommunikativer Netzwerke zur Beschaffung von Expertise, wenn eigenes Handlungswissen fehlte. Auch der Rat und die Eliten Ulms konnten auf diese zurückgreifen.

Durch die ausgewählten Fallbeispiele aus drei Jahrhunderten gelingt es, den Zusammenhang zwischen erworbener oder tradierter Handlungsexpertise und erfolgreichem politischen Agieren in der spätmittelalterlichen Gesellschaft herauszuarbeiten. Dabei konnten „bei einzelnen Personen besonders genaue Betrachtungen zu ihren Netzwerken, ihren Kommunikationsmöglichkeiten und ihrem Handlungswissen angestellt werden“ (S. 430). Diese Mikrostudien sind ein Spezifikum und eine Stärke der Forschungsarbeit. Generell hängt jedoch die Aneignung von Handlungswissen von zu vielen individuellen und institutionellen Faktoren ab, als dass sie verallgemeinert werden könnte.

Insgesamt liegt mit der Studie von Tjark Wegner eine solide Forschungsarbeit zur Dynamik von Expertisestrategien in der spätmittelalterlichen Ulmer Gesellschaft zwischen Reform und Reformation vor. Auf einer klar umrissenen und fundierten Quellenbasis und unter Einbeziehung neuerer Forschungsansätze und -methoden gelingt es dem Autor, die Netzwerk- und Kommunikationsstrukturen der Akteure im Hinblick auf den Erwerb von Handlungswissen herauszuarbeiten. Darüber hinaus beleuchtet er die Bedeutung persönlicher Beziehungen und dynastischer Netzwerke für die Generierung von Expertenwissen und die daraus resultierende politische Emanzipation durch erweiterte Handlungsoptionen. Die Monographie ist damit ein Beispiel für die gelungene Anwendung einer aus der Psychologie stammenden Methodik in Verbindung mit dem empirischen Vorgehen der Landesgeschichte, um auf diese neue Art und Weise einen Blick hinter die Kulissen der Ulmer Reformkonflikte zu erlangen. Es ist zu hoffen, dass das durch diese wissenschaftliche Methodik generierte Handlungswissen häufiger Anwendung findet.