Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Kristina Stein-Hinrichsen

Tanzen als Widerstand. „One Billion Rising“ und choreographische Interventionen im öffentlichen Raum

(TanzScripte 64), Bielefeld 2022, transcript, 354 Seiten mit Abbildung, ISBN 978-3-8376-6291-7


Rezensiert von Agnieszka Balcerzak
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.07.2024

„Strike. Dance. Rise!“ lautet der performative Protestausruf und das ihm innewohnende Versprechen von „One Billion Rising“ (OBR), einer weltweiten Kampagne für ein Ende der Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die von Eve Ensler, einer New Yorker Künstlerin, Feministin und Gründerin der Nichtregierungsorganisation V-Day, initiiert wurde. Die Kampagne, die 2023 ihr zehnjähriges Jubiläum feierte und mittlerweile zu einer globalen Bewegung anwuchs, begann als Aktionsaufruf aufgrund der erschütternden Statistik, dass auf der Welt eine von drei Frauen im Laufe ihres Lebens körperliche und seelische Gewalt erlebt, was bei einer Weltbevölkerung von sieben Milliarden Menschen mehr als einer Milliarde Frauen und Mädchen entspricht. Laut UN-Statistiken waren zum Beispiel von insgesamt 87 000 getöteten Frauen im Jahr 2017 rund 50 000 Opfer von Gewalt seitens ihrer Partner oder Familienangehörigen (15). Um das Bewusstsein für diese Problematik zu schärfen, wird seit 2013 am 14. Februar in mehr als 200 Ländern der Welt der Aktionstag „One Billion Rising“ gefeiert. Mit der gemeinsamen Protesthymne „Break the Chain“ und einer Flashmob-Choreographie nutzen Menschen weltweit den Tanz als politische Botschaft für Frauenrechte und Solidarität mit den Betroffenen.

Choreographische Interventionen im öffentlichen Raum als performative Formen des Protests, die auf eine direkte Verbindung des Ästhetischen mit dem Politischen abzielen, sind zwar kein Novum in der langen Geschichte der Demonstrationen. Da wären etwa die künstlerischen Aufführungen der Occupy-Bewegung, die feministische Protestkunst des russischen regierungs- und kirchenkritischen Performance-Kollektivs Pussy Riot oder der getanzte Harlem Shake der ägyptischen Jugend als Zeichen des Protests gegen die regierende Muslimbruderschaft, der 2013 weitere arabische Reformstaaten eroberte. Mit der OBR-Kampagne aber wurden der weibliche Körper und der Tanz als ästhetisches Mittel und Botschaft erstmalig ins Zentrum einer transnationalen Protestbewegung gerückt. In ihrer Dissertation „Tanz als Widerstand. ‚One Billion Rising‘ und choreographische Interventionen im öffentlichen Raum“ untersucht Kristina Stein-Hinrichsen am Beispiel der OBR-Kampagne, ob dieser Tanz als ästhetische Protest- und Bewegungspraxis eine transnationale feministische Gegenöffentlichkeit herstellen und zur Normativierung der Frauenrechte als Menschenrechte beitragen kann.

Stein-Hinrichsen, die am Arbeitsbereich „Kultur, Medien und Gesellschaft“ des Instituts für Bewegungswissenschaft an der Universität Hamburg promovierte, rückt den Tanz als zentrale politisch-ästhetische Ausdrucksform im Diskursfeld der OBR-Demonstrationen und damit die körperliche Dimension von Protest in öffentlichen Räumen in den Fokus ihrer Analyse. Im Rahmen des erkenntnistheoretischen und wissenssoziologischen Ansatzes ihrer Studie folgt sie dem Interaktionsgefüge von öffentlichem Raum, Politik und Kultur sowie einem performativen Verständnis von Öffentlichkeit, Geschlecht und Choreographie am Beispiel von Tanz. „Dance is dangerous, joyous, sexual, holy, disruptive, and contagious, and it breaks the rules“ (11), zitiert die Autorin in der Einleitung die OBR-Initiatorin Eve Ensler und ordnet die Bewegungspraxis als eine „transnational getanzte Protest-Figuration“ (14) ein, die nicht ohne die Anwesenheit des Körperlichen gedacht werden kann. Mit der US-amerikanischen Tanzwissenschaftlerin Susan Leigh Foster begreift sie in ihrem Denkmodell den weiblichen Körper als „signify agent“ und „ariculate matter“ (12), als politischen Agenten und Handlungsträger eines performativen zivilen Ungehorsams, der von einem potenziell gefährdeten Körper zu einem tanzend protestierenden politischen Körper umgedeutet wird. Entlang der politischen Philosophie und dramaturgischen Konzeption des öffentlich-politischen Raumes nach Hanna Arendt, begreift die Autorin politisches Handeln als „acting in concert“ (56) und geht beim politischen Raum der OBR-Bewegung von einem performativen Aufführungsraum aus, der durch das gemeinsame Tanzen hergestellt wird. Gleichzeitig bedient sie sich der feministischen Öffentlichkeitstheorie und bespricht Nancy Frasers Konzept der subalternen Gegenöffentlichkeit als theoretische Perspektive auf die Pluralität von Öffentlichkeit (41–42) und Elisabeth Klaus’ Drei-Ebenen-Modell der Öffentlichkeit (43–48), um darauf aufbauend performative feministische Gegenöffentlichkeiten als kollektives Handeln zu deuten, das hegemoniale Ordnungen, herrschende Öffentlichkeiten, bestehende Machtverhältnisse oder soziale Missstände anprangern kann.

Die kulturvegleichende Studie analysiert das Diskursfeld von „One Billion Rising“ in dem Zeitraum 2012–2014 und konzentriert sich exemplarisch auf drei nationale und kulturelle Räume – Deutschland, Indien und Südafrika. Stein-Hinrichsen wählt diese Nationalstaaten und kulturellen Räume auf drei Kontinenten sehr bewusst aus, denn diese unterscheiden sich deutlich voneinander im Hinblick auf ihre Demokratie- und Protestgeschichte, Altersstruktur und Geschlechterverhältnisse, ihre Medienlandschaft und Öffentlichkeit sowie die gesellschaftliche Bedeutung des Tanzes. Gleichzeitig aber sind sich Indien und Südafrika in Bezug auf Ausmaß und Dimensionen genderspezifischer Gewalt ähnlich, indem sie eine deutliche Diskrepanz zwischen den implementierten Rechtsnormen und der tatsächlichen Rechtsrealität aufweisen. Die OBR-Kampagne verbindet nahezu alle Ebenen und Räume der Öffentlichkeit miteinander: von einer Homepage, Social-Media-Auftritten und YouTube-Kampagnenvideos, über das gemeinsame Tanzen zu der Protesthymne „Break the Chain“ in der Öffentlichkeit bis hin zu Verhandlungen des getanzten Protests in Tages- und Wochenzeitungen, TV-Berichterstattungen oder Kritiken in Form von Blogs und Podcasts. Um das Interdependenzgeflecht von Öffentlichkeit, Körper und Geschlecht in dem Datenkorpus zu OBR zu analysieren, entwickelt die Autorin eine Methodentriangulation, die Elemente der wissenssoziologischen Diskursanalyse und Videohermeneutik mit qualitativer Inhalts- und Aufführungsanalyse verbindet. Diesen wissens- und erkenntnistheoretischen Zugang zu den unterschiedlichen Materialtypen legt sie zusätzlich in einem Fragenkatalog (130–134) dar, wobei sie bei den Materialtypen des Datenkorpus zwischen Textmaterialen der Selbstpraxen, den Kampagnenvideos, den Rezeptionen im Textformat und den TV-Reportagen unterscheidet.

Die Studie ist in acht theoretisch-empirische Kapitel gegliedert. Auf eine kurze Einleitung, in der unter anderem die nationalstaatlichen Kontexte samt Statistiken der Gewalttaten gegen Frauen skizziert werden, folgt in den ersten drei theoretischen Teilen unter den Überschriften „Doing Public“, „Doing Gender“ und „Doing Choreography“ die Auseinandersetzung zuerst mit den Prozessen der Herstellung und Verhandlung von (Gegen-)Öffentlichkeit, dann mit der Performativität und Verhandlung von Geschlecht in gesellschaftlichen Prozessen und Praktiken sowie zuletzt, um eine theoretische Perspektive auf die Performativität und Widerständigkeit getanzter Protestformen zu formulieren. Im vierten Kapitel des theoretischen Teils präsentiert die Bewegungsforscherin das von ihr entwickelte methodische Konzept des wissenssoziologischen und erkenntnistheoretischen Zugangs zur Untersuchung des Bild- und Textkonvoluts des OBR-Diskursfeldes und seiner Narrative.

Im fünften und zugleich ersten empirischen Kapitel setzt sich Stein-Hinrichsen zuerst mit dem Bild- und Textmaterial sowie den unterschiedlichen länderspezifischen Formen und Ausgestaltungen der Kampagnenvideos auseinander, zum Beispiel mit dem Video „One Billion“ der Berliner Hip-Hop-Künstlerin Sookee (189–193), mit der Videoproduktion „One Billion Rising Cape Town“ der südafrikanischen Aktivistinnengruppe 1BillionRisingCT (193–199) oder mit dem Collagevideo „India Rising“ (229–233). In einem vergleichenden Verfahren analysiert sie diese auf den Ebenen von Narration, Performativität und Theatralität und schaut sich die ästhetischen wie diskursiven Strategien an, um Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen den lokalen Kampagnenvideos ausarbeiten zu können. Im zweiten empirischen Kapitel, das der Rezeption von OBR gewidmet ist, steht die (massen-)mediale Verhandlung der Narrative in den nationalstaatlichen Kontexten im Mittelpunkt. Abschließend folgen ein Resümee und eine Reflexion der Forschungsergebnisse.

Stein-Hinrichsen stellt zwar fest, dass über den Tanz kollektiver Protest mit weiblichem Körper als politischem Handlungsträger möglich ist und durch die Studie der „body gap“ (326) in den Konzepten der Öffentlichkeit demokratischer Ordnungen geschlossen wird. Zugleich wird aber deutlich, dass die erfolgreiche Herstellung einer feministischen Gegenöffentlichkeit über Tanz nur in einem performativen und diskursiven Zusammenspiel von Produktion und Rezeption der Narrative möglich ist, das wiederum von den lokalen und länderspezifischen Choreographien bedingt wird. Während die Autorin im Falle Deutschlands und Südafrikas eher von „getanzten Öffentlichkeiten“ (324) spricht, erkennt sie in der indischen OBR-Kampagne eine beglaubigte „feministische Erfolgsgeschichte getanzter Gegenöffentlichkeit“ (329). Abschließend stellt sie jedoch fest, dass „One Billion Rising“ – ob als politisches Versprechen, mediale Kampagne oder soziale Bewegung verstanden – „die Wette auf [ihr] eigenes Performativ nicht vollumfänglich gewinnen“ (329) konnte und nennt kritische Stimmen (327), die der Kampagne beispielsweise „blosen Markencharakter“ und „elitäres Protestplanen“ attestieren.

Wenn Schwächen des Werkes genannt werden sollen, dann unter anderem der Hinweis darauf, dass eine kritische Reflexion über die potenziellen Grenzen des öffentlichen Tanzes als Mittel des sozialen Protests ausführlicher sein könnte. Es wäre auch interessant zu erfahren, inwieweit die lokalen OBR-Kampagnen tatsächlich nachhaltige Veränderungen bewirken können und wie sie sich in politische Strategien und institutionelle Veränderungen einfügen. Bei einer Studie, die sich so stark am künstlerisch-ästhetischem Bild- und Videomaterial orientiert, wäre eine ausführlichere Bebilderung (das Buch hat nur zwei Farbabbildungen), auch zu den unterschiedlichen regionalen Tanz-Choreographien, wünschenswert gewesen. Die Stärke des Buches von Stein-Hinrichsen wiederum liegt zweifellos in seiner umfassenden Untersuchung von „One Billion Rising“, der ihr zugrunde liegenden Narrative und der Performativität dieser Bewegung. Die Betonung der kulturellen Vielfalt und der globalen Reichweite von OBR ist ebenfalls lobenswert. Darüber hinaus bietet die Studie interessante Einblicke in die Bedeutung von Körperlichkeit und Bewegung als Mitteln des Protests und Widerstandes. Die Autorin unterstreicht die kraftvolle Verbindung zwischen Körperausdruck und politischer Botschaft und trägt so zur Erweiterung des Verständnisses von Aktivismus bei. Als eine eindrucksvolle Analyse des politischen Potenzials von öffentlichem Tanz ist das Buch für alle zu empfehlen, deren Interessen an der Schnittstelle von Tanz, Geschlechterstudien und sozialem Aktivismus liegen und die sich mit feministischen Gegenöffentlichkeiten kritisch und reflektiert auseinandersetzen wollen.