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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Rick Tazelaar

Hüter des Freistaats. Das Führungspersonal der Bayerischen Staatskanzlei zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegsdemokratie

(Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit in Bayern), Berlin/Boston 2023, de Gruyter, XII, 418 Seiten, 12 Abbildungen


Rezensiert von Stephan Deutinger
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 24.07.2024

Das jüngste „Bayern-Projekt“ des Münchener Instituts für Zeitgeschichte „Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit. Politik, Personal, Prägungen in Bayern 1945 bis 1975“ wollte, so die Selbstaussage der Projektleiter, „erstmals den personellen und funktionalen Gesamtzusammenhang einer Landesregierung“ im Rahmen „einer kulturhistorisch erweiterten Verwaltungsgeschichte“ untersuchen (S. IX). Als erste Frucht dieses auf sieben Jahre angelegten Forschungsvorhabens liegt die Arbeit von Rick Tazelaar über das Führungspersonal der Staatkanzlei vor, die zugleich als Promotionsschrift an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität diente.

Verf. betrachtet zunächst die Entwicklung der aus dem Außenministerium hervorgegangenen Staatskanzlei in der NS-Zeit, der er „abnehmende Bedeutung“ attestiert, zugleich aber auch, „dass sie in vielerlei Hinsicht die NS-Politik mitgetragen oder es zumindest versucht hat“ (S. 45). Dann geht er ausgiebig auf die „Gründerväter“ der neuen Staatskanzlei nach 1945 ein, als welche er Fritz Schäffer, Anton Pfeiffer, Wilhelm Hoegner, Hans Ehard und Karl Schwend identifiziert. Bei aller Unterschiedlichkeit seien sie sich in ihrem Hauptziel einig gewesen: „Die bayerische Staatlichkeit sollte nach innen und nach außen so weit möglich wiederaufgebaut und verteidigt werden“ (S. 130). Der Hauptteil, der umfangsmäßig etwa ein Drittel des Buches ausmacht, ist dann dem eigentlichen Thema, dem Führungspersonal der Staatskanzlei, gewidmet. In einer Mischung aus biographischer und statistischer Methode präpariert Verf. innerhalb dieses Personals vier „Erfahrungsgruppen“ heraus, die in jeweils spezifischer Weise die Staatskanzlei geprägt hätten, wobei in diesen Gruppen nicht lediglich das Lebensalter, sondern ebenso die politische Betätigung abgebildet ist. Einen weiteren Perspektivwechsel unternimmt Verf. mit einer Beschreibung der Organisationsstrukturen und der „Organisationskultur“ der Staatskanzlei, die „durch enge Raumverhältnisse und Leitungsbeamte geprägt [gewesen sei], die sich in der Regel als unpolitische, etatistische Fachexperten im Dienst des Gemeinwohls verstanden“ und der gemeinsamen Zielsetzung nach als „Hüter des Freistaats“ (S. 339). Abschließend wirft Verf. einen Blick auf die „Geschichtspolitik“ der Staatskanzlei, ihre Beziehungen zum Münchener Institut für Bayerische Geschichte und ihr Engagement bei der Gründung des Instituts für Zeitgeschichte. In dieser Geschichtspolitik, die in ideologischer Weise generell Kontinuitäten bayerischer Staatlichkeit behauptet, für die NS-Zeit aber bestritten habe, hätten „die Interessen des bayerischen Staats zu jedem Zeitpunkt im Zentrum“ gestanden (S. 370). Alles in allem, so die Quintessenz der Arbeit, habe sich die Staatskanzlei „zwischen 1945 und 1962 zu einer effektiven, stabilen Schaltzentrale im Mittelpunkt der bayerischen Ministerialverwaltung“ entwickelt, die auch in der Bundespolitik gestaltend tätig wurde. Die NS-Belastungen des Personals und das „einseitige Geschichtsnarrativ“ der Staatskanzlei würden jedoch „Schattenseiten“ in der „Erfolgsgeschichte des bayerischen Staates nach 1945“ darstellen (S. 377 f.).

Trotz ihres beachtlichen Umfangs kann die Arbeit, wie schon den vorstehend wiedergegebenen eigenen Zusammenfassungen des Verf.s zu entnehmen ist, dem informierten Leser nur wenig grundlegend Neues bieten. Der bleibende Wissensgewinn beschränkt sich auf biographische Vertiefungen zu einigen Persönlichkeiten der zweiten Reihe, die bisher unter dem Radar der Historiker durchgeschlüpft waren, namentlich Hans Kraus, Claus Leusser, Fritz Baer und Hans-Heinrich Herwarth von Bittenfeld. Ansonsten war man dank der vorbildlichen Edition der zeitlich einschlägigen Ministerratsprotokolle durch die Münchener Historische Kommission und dank einer Reihe von eingehenden biographischen Studien zu den Ministerpräsidenten, aber auch zu anderen wichtigen Akteuren wie Pfeiffer, Schwend und Ernst Deuerlein bisher schon über die Staatskanzlei und ihr Personal einigermaßen im Bilde. Generell zehrt die Arbeit über weite Strecken von lange vorliegender Literatur, hinsichtlich der Staatskanzlei während der NS-Zeit etwa von Rittenauers Forschungen über das Amt des Ministerpräsidenten in dieser Epoche, hinsichtlich der ausführlich wiedererzählten Entnazifizierung von Niethammer, Hoser und anderen, hinsichtlich der Geschichtspolitik von Löffler, Vollhardt und Wolfrum.

Dem Mangel an essentiellen neuen Erkenntnissen steht leider eine ausgesprochene Wertungsfreudigkeit des Verf.s gegenüber. So verwendet er ein Fünftel des ganzen Buches auf das Nacherzählen der doch bereits sehr gut bearbeiteten Biographien der Ministerpräsidenten (die nicht einmal zum Führungspersonal der Staatskanzlei zu rechnen sind), ohne ihnen nennenswertes Neues hinzufügen zu können. Eine sachgerechte Würdigung der einzelnen Persönlichkeiten, die in das Amt kamen, weil sie aus der NS-Zeit eben nicht ernsthaft kompromittiert waren, findet dabei jedoch nicht statt. Halbverstandene Zusammenhänge und vermeintliche „Schattenseiten“ werden zu Charakterbildern aneinandergefügt, die Schäffer, Hoegner und Ehard gleichermaßen in ein befremdliches Licht tauchen. So genügen bei Schäffer seine Betätigung in der BVP, die Sympathie für die Monarchie als Staatsform und der Umstand, daß es 1932/33 Gespräche zwischen der BVP und der NSDAP gab, um ihm „eine Mischung aus katholischen, föderalistischen, etatistischen und autoritären, illiberalen und antiparlamentarischen Vorstellungen“ zu attestieren, die die Staatskanzlei „teilweise bis heute“ (!) prägten (S. 73). Selbst einem Wilhelm Hoegner wird „Antiparlamentarismus und Antipluralismus“ unterstellt, immerhin „wesentlich geringer als beispielsweise in den konservativen Kreisen der CSU ausgeprägt“ (S. 100).

Eine sinnvolle Beurteilung historischer Sachverhalte gelingt Verf. auch dort nicht, wo er neues Tatsachenmaterial erarbeitet hat. Leidtragender ist insbesondere der langjährige Leiter der Staatskanzlei Fritz Baer. Verf. legt nachvollziehbar dar, inwiefern Baer in der NS-Zeit als leitender Beamter in der Devisenüberwachung an der Exekution der antisemitischen Politik des Regimes beteiligt war, und betont auch, daß Baer wohl „kein überzeugter Nationalsozialist“ war (S. 186), da es ihm in einer für einen aufstrebenden Beamten bemerkenswerten Weise gelang, nie einen Aufnahmeantrag in die Partei stellen zu müssen. Nun wäre es durchaus aufschlußreich gewesen, genauer zu untersuchen, wie Baer sich denn unter demokratischen Vorzeichen gerierte. Darüber erfährt man wenig. Verf. verweist nur darauf, daß Baer 1946 kurzzeitig Hauptabteilungsleiter im Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung wurde. Wie es zu dieser Stellenbesetzung kam und wie sich das Wirken Baers dort gestaltete, hat Verf. nicht ermittelt. Er weiß jedoch: „In seinem Fall wurde der Bock zum Gärtner“; Baers Stellung in der Wiedergutmachungsbehörde sei „zynisch“ gewesen (S. 189). Wenn Baer sich aber, wie so viele Beamte, nun nicht als Weltanschauungstäter, sondern als „williger Funktionsträger“ (S. 186) verstand, wie kann man dann unbesehen davon ausgehen, daß er sich bei der Wiedergutmachung nicht ebenfalls als Verwaltungsexperte bewährte? Was genau wäre daran dann „zynisch“?

Kaum besser als Baer ergeht es Herwarth von Bittenfeld. Der war ebenfalls nie bei der Partei und stand sogar den Männern des 20. Juli nahe. Diese qualifiziert Verf. mit leichter Hand ab, denn „Stauffenberg und die anderen wollten den Krieg keineswegs verlieren. Sie waren bloß nicht mit der Art und Weise einverstanden, wie der Krieg geführt wurde“ (S. 197). So ergibt sich aus dieser Verbindung für Herwarth moralisch kein Vorteil. Er war während des Krieges im Osten bei der Anwerbung von Freiwilligeneinheiten tätig, die dann auch für die Partisanenbekämpfung eingesetzt wurden. Wie genau Herwarth hier „involviert“ war, hat Verf. nicht ermittelt, er folgert aber dennoch sehr drastisch: „Am Kriegsende waren von Herwarths Händen [!] sicherlich nicht braun, aber dennoch klebte Blut daran“ (S. 197).

Angenehm geht die Untersuchung nur für die Oberregierungsrätin Margarethe Bitter aus. Sie hatte den Vorteil, eine Frau zu sein, was der „Genderperspektive“, die Verf. ebenfalls bedienen möchte, sehr entgegenkommt (S. 333). Mit Bitter kam man in der Staatskanzlei nicht recht klar, weshalb man ihr 1953 den Wechsel zum Auswärtigen Amt nahelegte, wo sie schon während des Krieges gearbeitet hatte. Verf. interpretiert das als „Abschiebung“ und Ausdruck einer gewissen Frauenfeindlichkeit gegen eine „starke, unabhängig handelnde Frau“ (S. 338). Für eine solche Frauenfeindlichkeit in der Staatskanzlei hat Verf. nicht den geringsten Beleg außer der Tatsache, daß es in ihrem höheren Dienst kaum Frauen gab. Wo qualifizierte Juristinnen in ausreichender Zahl nach der nationalsozialistischen Diffamierung des Frauenstudiums hätten herkommen sollen und daß es in der Nachkriegsgesellschaft in keiner Behörde und in keinem Unternehmen anders aussah, sagt Verf. nicht. Er stellt auch nicht in Rechnung, daß Bitter in Kairo geboren und aufgewachsen war, in Kiel studiert, in Halle promoviert und danach bis zum Kriegsausbruch wieder in Ägypten gelebt hatte und sich mit diesem Werdegang vielleicht nicht ganz in den ausgeprägten Korpsgeist des höheren bayerischen Berufsbeamtentums im allgemeinen und der Staatskanzlei im speziellen fügte, den er selbst immer wieder betont (S. 177 f., 331 f.). Der Vorgang wird dennoch benutzt, um ein „Arbeitsklima“ zu brandmarken, „in dem eine hochqualifizierte männliche Elite die Entscheidungen traf und sich für die fachliche Arbeit zuständig sah, während Frauen dabei eine unterstützende Rolle spielten und bestenfalls attraktiv aussehen konnten“ (S. 334).

Der Lockerheit des Verf.s bei Urteilen über Menschen und Verhältnisse korrespondiert eine verblüffende Hemdsärmeligkeit bei der Verwertung seiner Quellen. Als Beispiel diene ein Vorgang aus dem Bereich der Beamtenpolitik der Staatskanzlei. Mit ihr hat Verf. erkennbar innere Probleme, denn er glaubt aus der Literatur zu wissen, daß „das deutsche Berufsbeamtentum in Hinblick auf die Zukunft ein Hemmnis für den Wiederaufbau der parlamentarischen Demokratie dar[stellte]“ (S. 211). Den Artikel 95 der Bayerischen Verfassung, der die grundsätzliche Aufrechterhaltung des Berufsbeamtentums bestimmte, interpretiert er als Ausdruck einer „konservativen, gegen Modernisierung und Demokratisierung gerichteten Politik“ (S. 212). Daß Ehard den Wünschen der Amerikaner nach einer „Demokratisierung des Beamtenrechts“ nicht folgte, hält er für „reaktionär“ (S. 217). Zu ergründen, warum Ehard ebenso wie die Verfassungsväter so handelten, wie sie handelten, fällt Verf. nicht ein. Hätte es wirklich der Demokratie gedient, wenn - so wie in der NS-Zeit (Hellmuth in Würzburg) - sogar ein Zahnarzt hätte Regierungspräsident werden können?

So waren nach Ansicht des Verf.s ebenfalls reaktionäre Ränke im Spiel, als es 1946 um die Besetzung der Leitung des Landespersonalamtes ging, wo die Wahl auf einen „Vertreter des konservativen bayerischen Berufsbeamtentums“ fiel, Ministerialrat Matthias Metz aus dem Finanzministerium, obwohl der „jedoch ‚rückständig‘ und ‚für moderne Auffassungen‘ über die Beamtenpolitik nicht zugänglich war“ (S. 218). Zu einer solchen Einschätzung kann man  nur kommen, wenn man die zugrunde liegenden Quellen, zwei in der Edition der Historischen Kommission leicht zugängliche Ministerratsprotokolle (vom 4. Dezember 1946 und 15. Januar 1947), regelrecht vergewaltigt. Hier referierte nämlich Innenminister Seifried „Klagen über Metz, der rückständig und modernen Auffassungen nicht zugänglich sei“. Von Beamtenpolitik ist dabei mit keinem Wort die Rede, und Metzʼ Rückständigkeit nur ein Gerücht im Konjunktiv. Daß nach dem gleichen Protokoll in den Augen von Hans Kraus Metz „ein guter Demokrat und tapferer Kämpfer gegen den Nazismus“ war, läßt Verf. unter den Tisch fallen. Die Berufung zum Generalsekretär verdankte Metz, dann nicht, wie Verf. suggeriert, der konservativen Gesinnung Ehards, sondern dem Umstand, daß der zuvor nominierte Franz Weiß von der Bayernpartei, der bis dato nur in der Privatwirtschaft tätig gewesen war, nichts eiligeres im Sinn hatte, als möglichst schnell hochrangiger bayerischer Berufsbeamter zu werden, und zwar aus dem Stand gleich Ministerialdirektor, was schon aus Haushaltsgründen nicht möglich war.

Sorglicher als mit seinen Quellen geht Verf. auch mit seinen Zahlen nicht um. Mit statistischen Methoden ist er offenkundig nicht näher vertraut. Grundsätzlich hätte er sich vielleicht die Frage vorlegen können, wie sinnvoll Statistiken bei Grundgesamtheiten bis herunter zu N=8 überhaupt sein können, wo also das Mitzählen oder Nichtzählen einer einzigen Person auf das Ergebnis gleich mit Veränderungen von 10-15 Prozent durchschlägt. Den 28 Prozent ehemaligen NSDAP-Mitgliedern beim Führungspersonal der Staatskanzlei im Jahr 1962, von denen man sich fragt, wie ein solcher Zahlenwert bei einer Grundgesamtheit von acht natürlichen Personen überhaupt möglich sein soll, entsprechen in der Realität zwei Personen. Ein einziger Mensch weniger - und man wäre schon bei nur mehr 12,5 Prozent, und die Kurve in der Grafik würde gegenüber 1957 nicht steigen, sondern fallen. Gottlob sind die Grafiken des Verf.s nicht allzu zahlreich, denn sie sind allesamt unbrauchbar, ja irreführend. Als Säulendiagramme stellen sie Werte aus unterschiedlichen Grundgesamtheiten nebeneinander, als Kurvendiagramme verwenden sie auf der Zeitachse als Einheit extrem unterschiedliche Zeitabschnitte von wenigen Monaten bis hin zu etlichen Jahren. Die Steigungen werden dadurch völlig verzerrt, die Kurven mithin sinnlos.

Zu allem Überfluß läßt Verf. sich auch noch auf das anspruchsvolle Feld der Wissenschaftsgeschichte ein und fügt seiner Arbeit ein Schlußkapitel über die „Geschichtspolitik“ der Staatskanzlei an. Er verwertet hier den altbekannten Befund, daß Schwend und Deuerlein, Baer erst nach seiner Pensionierung, sich historiographisch betätigten und dabei selbstredend die bayerische Staatlichkeit zugrunde legten. Nun hat Verf. in einem Text Bernhard Löfflers (GWU 2018) aufgeschnappt, daß die Behauptung historischer Kontinuitäten in der bayerischen Staatlichkeit reine Ideologie sei und Landesgeschichte deshalb eine Legitimationswissenschaft. Er hat jedoch nicht verstanden, daß Löffler allein von Kontinuitätserzählungen sprach, die in die Vormoderne zurückgreifen, also vor die Begründung des modernen bayerischen Staates zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er hat ferner nicht erkannt, daß der Text sich in erster Linie gegen Andreas Kraus und seine Gesamtdarstellung der bayerischen Geschichte richtete und sehr viel weniger gegen Max Spindler, von dem eine solche „Meistererzählung“, wie Löffler sie nannte, bekanntlich überhaupt nicht existiert. Und schließlich hat Verf. auch nicht realisiert, daß es sich bei dem Text um zugespitzte, bewußt provozierende Thesen, die selbst ideologiekritisch hinterfragt werden können, handelt - wie Löffler klug differenzierend eigens unterstrich -, um individuelle Interpretationen und keineswegs um evidenzbasierte Erkenntnisse.

Verf. ignoriert indessen einfach die Kautelen seines „scharfsinnigen“ Ideengebers (S. 18), nimmt die Thesen für bare Münze, korreliert sie mit dem wenigen, was er von Deuerleins und Schwends Geschichtsschreibung in Erfahrung gebracht hat, und teilt nun auf der Grundlage des so gewonnenen Bildes kräftig in Richtung Landesgeschichte aus. Weil Schwend unter anderem bei Doeberl einige Semester (Anfang der Zwanziger Jahre und ohne Abschluß!) studiert habe und Deuerlein von Spindler promoviert worden sei, habe dessen - nach Ansicht des Verf.s ideologische - Geschichtsauffassung, seine „Meistererzählung“, in die Staatskanzlei eindringen können. Die Arbeit an seinem Institut für Bayerische Geschichte, das er sozusagen als Gegenleistung von Hoegner genehmigt erhielt, weil hier angeblich „die historiografische Hand die politische [wusch] und umgekehrt“, habe sich „dezidiert“ als „Legitimationswissenschaft“ verstanden (S. 430 u. ö.). Zu legitimieren gewesen sei die föderalistische Politik der Staatskanzlei und insbesondere Ehards. Spindler habe dabei assistiert, den bayerischen Staat von den Verbrechen des NS-Regimes zu exkulpieren und deshalb auch die Erforschung der NS-Zeit in Bayern vernachlässigt. Im Ergebnis habe die „enge Zusammenarbeit“ der Staatskanzlei „mit der Landesgeschichtsschreibung dazu [geführt], dass für NS-Opfergruppen kaum Platz in der bayerischen Geschichtsschreibung war.“ Und unmittelbar hierauf folgt der Schlußsatz des ganzen Buches: „Die Erfolgsgeschichte des bayerischen Staats nach 1945 hatte auch ihre Schattenseiten.“ (S. 378).

Die Landesgeschichtsschreibung als Schattenseite der bayerischen Geschichte nach 1945: Das ist dermaßen blanker Unsinn, daß man sich fragen muß, wie Verf. sich so weit vergaloppieren konnte. Neben der unter Akademikern häufig anzutreffenden maßlosen Überschätzung des politischen Einflusses von Professoren muß man ihm einfach weitgehende Unkenntnis der Sachverhalte attestieren, über die er hier spricht. Denn offensichtlich ist ihm nicht bewußt, daß das Institut für Bayerische Geschichte mangels Stellenausstattung nie ein Forschungsinstitut, sondern stets nur ein universitäres Ausbildungsinstitut sein konnte, und er kennt ebensowenig die Themen, mit denen sich das Institut in der unmittelbaren Nachkriegszeit tatsächlich beschäftigt hat, den Historischen Atlas von Bayern vor allem, der ja nun wirklich nicht geeignet ist, irgendeine „Meistererzählung“ zu bedienen. Aber schlimmer noch, Verf. hat, ausweislich des Literaturverzeichnisses, nicht einen einzigen Originalaufsatz Spindlers zur Kenntnis genommen, lediglich die Vorworte zum Handbuch der bayerischen Geschichte. Deren ältestes stammt freilich erst von 1968, was weit außerhalb des Untersuchungszeitraums liegt, und stellt eine unmittelbare Reaktion auf die damals sich abzeichnende anthropologische Wende von Spindlers Nachfolger Karl Bosl dar, der das Land als maßgebliche Bezugsgröße der Landesgeschichte aufzugeben sich gerade anschickte. Einen Text von 1968 oder noch später, der unter ganz anderen Bedingungen entstanden ist, für Vorgänge aus den 1940er oder 1950er Jahren heranzuziehen, ist ein Anachronismus, ein schwerwiegender methodischer Fehler.

Dabei wäre es ein leichtes gewesen, sich korrekt zu informieren; Verf. hätte lediglich zu Spindlers Aufsatz aus dem Jahr 1954 greifen müssen, „Der neue bayerische Staat des 19. Jahrhunderts“, der in der von Kraus herausgegebenen Sammlung der Spindlerschen Texte (Verf. kennt sie ebenfalls nicht) leicht zugänglich ist. Er hätte dann gesehen, daß hier keinerlei Politik legitimiert wird, schon gar keine föderalistische, sondern schlicht Argumente dafür vorgetragen werden, die Existenz des am Beginn des 19. Jahrhunderts begründeten bayerischen Staates und des darin in 150 Jahren gewachsenen Staatsbewußtseins als historische Tatsache anzuerkennen. Der zeitgeschichtliche Hintergrund dafür waren die Angriffe auf den eben aus den Trümmern mühsam wiederaufgerichteten bayerischen Staat, die von innen, aus Schwaben und vor allem aus Franken, seit 1949 - Stichwort Neugliederung des Bundesgebietes - auch von außen vorgetragen wurden (von all dem berichtet Verf. nichts, auch nicht vom „Luther-Ausschuß“). Eine nach drei Jahrzehnten des Ausnahmezustands wiedergewonnene Ordnung (eine demokratische Ordnung, wohlgemerkt!) sogleich wieder in Frage zu stellen - davor zu warnen, das war das einzige, worum es Spindler damals ging. Muß man das als Ideologie denunzieren?

Obendrein hat Verf. nicht einmal die historiographischen Aktivitäten der Hauptpersonen seiner Darstellung angemessen erfaßt. So ist ihm verborgen geblieben, daß Deuerlein im Jahr 1949 eine „Kleine Geschichte Bayerns“ veröffentlichte. Die Anlage dieser Gesamtdarstellung widerspricht allem, was Verf. über „Meistererzählungen“ der Staatskanzlei behauptet. Denn Deuerlein stülpte keineswegs den Franken und Schwaben die moderne Geschichte Bayerns über (wie Hubensteiner - dessen Namen Verf. ebenfalls nicht nennt! - es 1950 nolensvolens tat), sondern baute die Darstellung von den einzelnen historischen Territorien her auf, die im modernen bayerischen Staat aufgegangen waren. Man kann einem solchen Vorgehen allenfalls vorhalten, daß das Ergebnis erzählerisch unbefriedigend und langweilig ist - aber nicht, daß es einer bestimmten Ideologie folgen würde. Spindler hat sein Handbuch der bayerischen Geschichte übrigens bekanntlich auch genau so angelegt.

Für die „ausbleibende geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Rolle Bayerns im Nationalsozialismus“ sieht Verf. ebenfalls Spindler und die „bayerische Landesgeschichtsschreibung“ in der Verantwortung, ja sogar dafür, daß es bis 1995 dauerte, „bis mit Edmund Stoiber zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ein Bayerischer Ministerpräsident in offizieller Eigenschaft die Gedenkstätte in Dachau besuchte“ (S. 347f.) - was übrigens faktisch falsch ist, weil Max Streibl schon 1993 dort gewesen war, Ehard 1950 immerhin auf dem Leitenberg. Er verweist als Beleg für angeblich mangelndes Interesse wiederum lediglich auf den einschlägigen, von Spindler verantworteten Handbuchband (1974; Verf. kennt nur den verbesserten Nachdruck von 1979), wo die NS-Zeit „auf lediglich 19 von insgesamt 1.398 Seiten behandelt“ werde. Nun können 20 Seiten in einem Handbuch äußerst inhaltsreich sein, aber auf Inhalte geht Verf. nicht ein. Er hätte aber auch bei rein äußerlicher Betrachtung würdigen können, daß der Band einen ausgesprochenen zeitgeschichtlichen Akzent trägt, der Epoche von 1918 bis 1972 sind immerhin fast 300 Seiten gewidmet, davon die Hälfte der „Weimarer Zeit“; man muß es der damaligen Historikergeneration schon zugestehen, daß sie sich mehr für die Frage interessierte, wie es zur Katastrophe des Nationalsozialismus hatte kommen können, als für die Schrecken des Regimes selbst, die jedermann noch plastisch vor Augen standen. Daß Spindler unmittelbar nach Kriegsende für die Münchener Universität die Aufarbeitung ihrer NS-Geschichte in Angriff nahm, daß sein enger Mitarbeiter an der Kommission für bayerische Landesgeschichte, Hanns Hubert Hofmann, schon 1961 eine Geschichte des Hitler-Putsches vorlegte, daß Spindler sich um die Herausgabe der von der NS-Forschung so geschätzten bayerischen Regierungspräsidentenberichte bemühte, daß er viel Energie, Zeit und Geld investierte, damit die Kommission für bayerische Landesgeschichte 1960 die „Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der Juden in Regensburg“ herausbringen konnte, um die ihr jüdischer Bearbeiter Raphael Straus in der NS-Zeit (von anderen!) betrogen worden war, all das fließt in die Bewertungen des Verf.s nicht ein, weil es ihm unbekannt zu sein scheint. Es war in Wirklichkeit ziemlich viel, was Spindler mit den geringen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, bewerkstelligte.

Apropos Mittel: Es hätte dem Verf. durchaus auffallen können, daß die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte, über die er selbst berichtet (einen neueren Aufsatz Magnus Brechtkens referierend), nicht ohne Rückwirkung auf die zeitgeschichtlichen Möglichkeiten und Ziele der bereits in München vorhandenen geschichtswissenschaftlichen Institutionen bleiben konnte. Von einem durch Bayern maßgeblich mitfinanzierten und im Land ansässigen Institut durfte man doch wohl mit Fug erwarten, daß dort auch die bayerische NS-Zeit bearbeitet werden würde. In finanzieller Hinsicht warnte Walter Goetz 1949 eindringlich vor der Kannibalisierung der bereits bestehenden Münchener Forschungseinrichtungen durch die Neugründung, und er sollte Recht behalten: Im selben Jahr 1950, als Ministerpräsident Ehard dem Institut für Zeitgeschichte einen jährlichen bayerischen Finanzierungsanteil von bis zu 60.000 DM zusagte, verfügte die Kommission für bayerische Landesgeschichte über einen Gesamthaushalt von lediglich 21.250 DM abzüglich einer 15%-igen Kürzung, hatte sich aber nicht nur um einen historischen Zeitraum von zwölf Jahren, sondern um die gesamte bayerische Geschichte zu kümmern und erhielt auch nicht - wie das Institut für Zeitgeschichte - noch einmal das Vierfache von anderer Seite daraufgelegt. Aus solchen Relationen könnte man durchaus eine andere Schlußfolgerung als der Verf. ziehen, der zu wissen meint, daß „die Landesgeschichtsschreibung“ - wer immer das sein soll - sich nicht genügend um die NS-Geschichte gekümmert habe, und darüber nachdenken, ob nicht umgekehrt das Institut für Zeitgeschichte sich vielleicht viel zu lange nicht ausreichend mit Bayern beschäftigte.

So wie hier beruhen die zahlreichen Fehlurteile des Verf.s offenkundig auf einer bestürzenden Unkenntnis historischer Verhältnisse, Mentalitäten und Problemlagen in Bayern. Anscheinend hält er diese für unwichtige Details. Eine deutliche Sprache sprechen hier schon die Bildunterschriften zu dem beigegebenen Dutzend an historischen Photographien, die doch mit die exponiertesten Textteile eines jeden Buches darstellen. Bei Abb. 9 wird der Leser mit dem Personennamen Karl Greib, der wohl nur noch eingefleischten CSU-Kennern etwas sagen wird, allein gelassen, anstatt ihn als unterfränkischen Bezirksvorsitzendenden dieser Partei einzuordnen. Gleich zweimal wird dafür fälschlich der Bayernpartei-Vorsitzende Joseph Baumgartner als CSU-Mitglied ausgewiesen, bei der Beerdigung Otto Geßlers 1955, wo er „rechts vom Bundespräsidenten läuft“ (Abb. 7), und sogar bei einer „Sitzung der Viererkoalition am 21. August 1956“ (Abb. 8)! Dort soll mit am Tisch ein „Staatssekretär Friedrich Meinzold“ sitzen - den es nie gegeben hat; gemeint ist wohl Kultusstaatssekretär Hans Meinzolt.

Bei anderen Aussagen fragt man sich unwillkürlich, ob Verf. überhaupt begriffen hat, womit sich die Staatskanzlei in dem von ihm untersuchten Zeitraum eigentlich beschäftigte. Wie könnte man in Kenntnis ihrer intensiven Bemühungen in der lange Zeit offenen Pfalzfrage behaupten, „dass Bayern in territorialer Hinsicht [...] den Zweiten Weltkrieg fast unversehrt überstanden hatte“ (S. 47)? Der Verlust der linksrheinischen Pfalz betraf immerhin ein ganzes Siebtel der Vorkriegsbevölkerung Bayerns und landschaftlich, wirtschaftlich sowie ideell eine Perle im Kranz der bayerischen Regierungsbezirke. Für den deutschen Föderalismus bringt Verf. ebensowenig wirkliches Verständnis auf wie für die föderalistische Politik Bayerns, die er stereotyp als „offensiv“ anspricht. Ungern redet er von bayerischer Staatlichkeit, viel lieber von „Eigenstaatlichkeit“, ja „Sonderstaatlichkeit“ (S. 73). Dem Führungspersonal der Staatskanzlei sei es stets nur darum gegangen, „die Interessen des Freistaats gegenüber den anderen Ländern, und nach der Gründung der Bundesrepublik, gegenüber dem Bund durchzusetzen“ (S. 279). Daß föderalistische Politik dem Ganzen ebenso dient wie den Teilen, ja durch den Blick auf das Ganze überhaupt erst einen Sinn erhält, ist eine dem Verf. völlig fremde Perspektive, und seine These über die maßgeblichen Köpfe der Staatskanzlei: „An erster Stelle stand für sie stets der bayerische Staat“ (S. 1), ist deshalb in dieser Einseitigkeit falsch und geht an der Sache völlig vorbei. Die Erfahrungen und Perspektiven seiner Akteure mußten Verf. schon von daher rätselhaft bleiben, als ihm die bayerischen Verhältnisse auch in diachroner Perspektive nicht vertraut sind. Niemals schaut er ernsthaft in die Zeit vor 1918 zurück, obwohl etwa Schäffer, Hoegner oder Ehard, ebenso Pfeiffer und Schwend im föderalen Kaiserreich aufwuchsen und teilweise schon ins Berufsleben eintraten. Das Wort „Prinzregentenzeit“ kommt in dem gesamten Buch nicht vor.

Sapienti sat! Die zahlreichen Irrtümer und Verzeichnungen in dieser Arbeit richtigzustellen, bedürfte seinerseits eines Buches. Daß Hoegner nicht irgendwo „in Oberbayern“ (S. 89), sondern in München geboren war; daß Ehard nicht „während der NS-Zeit als Beamter in der Verwaltung gearbeitet“ (S. 231), sondern als Richter amtiert hatte; daß Epp nicht als „Reichsstatthalter Bayerns“ (S. 27), sondern als „Reichsstatthalter in Bayern“ firmierte; daß Bayern nicht erst seit 1932 (S. 67), sondern bereits seit 1930 nur mehr eine geschäftsführende Regierung hatte; daß andererseits Ehard 1960 nicht „geschäftsführender Ministerpräsident“ (S. 256) war, sondern vom Landtag ganz regulär gewählt wurde; daß es etwas anderes war, wenn man einen Beamten nach Bonn abordnete, als wenn er aus dem bayerischen Staatsdienst entlassen wurde (S. 252 mit Anm. 521); daß in einer Behördengeschichte die Existenz „sogenannter Vormerkungen“ (S. 207) nichts Berichtenswertes darstellt; daß es abwegig ist, für die Zeit nach 1945 noch von einem „politischen Katholizismus“ in Bayern zu sprechen (S. 202 u. 268); daß es Dinge wie „die bayerische katholische Studentenverbindung“ (S. 206) nicht gibt, sondern höchstens sehr unterschiedliche Varianten derselben; daß die durch das Reichserbhofgesetz unterbundenen Erbteilungen keineswegs in ganz Süddeutschland „zur gängigen Bauernpraxis gehörten“ (S. 117), sondern daß gerade Altbayern klassisches Anerbengebiet ist; solches und vieles andere mehr kann hier nicht näher ausgeführt werden.

Ein deutliches Wort verlangt aber noch die sprachliche Gestalt, in der die Arbeit daherkommt. Der Text strotzt von groben Grammatik- und Ausdrucksfehlern, kaum eine Seite ist ganz frei davon. Man kann über sie nicht hinweglesen, denn sie machen die Argumentation streckenweise beinahe unverständlich und verkehren bisweilen die intendierte Aussage sogar in ihr gerades Gegenteil. Es ist schon ein gewisser Unterschied, ob Pfeiffer Briefe „als nationalsozialistischer Kulturpolitiker“ schrieb (S. 110) oder an nationalsozialistische Kulturpolitiker. Zweifeln muß man etwa auch an der Aussage, daß Ehard 1950/51 als Bundesratspräsident versucht haben soll, „die von ihm befürchtete Beseitigung des Bundesrats und somit den Föderalismus zu verhindern“ (S. 306) - Genus und Kasus des Artikels (hier wohl: des Föderalismus) spielen im Deutschen schon eine gewisse Rolle. Es verbietet sich von selbst, die zahllosen falschen Artikel im einzelnen nachzuweisen, die Zufälligkeit in der Anwendung der Kongruenzregeln, die mißglückten Genitivkonstruktionen (die „Einführung von der Bekenntnisschule“), die Verwechslungen von Relativpronomen und Konjunktion (das/dass), die Schwierigkeiten mit den starken Flexionen, die teils bizarren Wortneuschöpfungen („Staatssicherungspolitik“) usw. usf.

Nun ist der Autor ein junger Holländer, der zwar ein bewundernswertes Deutsch sprechen wird, im Schriftlichen aber nicht ganz sattelfest ist. Seine launige salvatorische Klausel im Vorwort, „das Leben sei zu kurz, um Deutsch zu lernen“, schützt das Buch freilich in keiner Weise. Der Text hatte etliche Instanzen zu passieren, bis er an die Öffentlichkeit dringen konnte. Überall hat man anscheinend durch die Finger gesehen; irgendein Lektorat, das den Namen verdient, hat nicht stattgefunden. Das vorliegende Buch wird man leider auch als das Ergebnis eklatanter akademischer Betreuungsmängel betrachten müssen.