Aktuelle Rezensionen
Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart/Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.)
Matthias Erzberger. Für Demokratie und gegen den Obrigkeitsstaat
Stuttgart 2023, Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 196 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Rezensiert von Karsten Ruppert
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 24.07.2024
Der Band versammelt die Referate einer gemeinsamen Tagung der Herausgeber vom März 2021. Wie vergleichbare Publikationen hat er das Manko, dass ihm ein innerer Zusammenhang fehlt. Gemäß der Einleitung soll dieser in Antworten auf die Frage bestehen, warum der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger so polarisierte. Gerade in der vor allem angestrebten Aufdeckung der Ursachen des Phänomens kommen die Beiträge nicht entscheidend weiter. Das mag vor allen Dingen darauf zurückzuführen sein, dass keine neuen, speziell dazu geeigneten Methoden (Individual- oder Massenpsychologie, kollektive Mentalitäten, Traditionen und Eigenarten der politischen Kultur) zur Anwendung kommen. Da Erzberger sein gesamtes Politikerleben lang emotionalisierte, kann jede Detailstudie dazu ein solcher Beitrag sein; doch wird dies den selbst gesteckten Ansprüchen nicht gerecht. Dennoch überzeugen sämtliche Studien als Forschungsleistungen. Sie fördern neue Erkenntnisse dadurch zutage, dass die Autorinnen und Autoren umfangreichere eigene Untersuchungen zusammenfassen und zum Teil auf der Grundlage neuer Archivalien vertiefen.
Das gilt auch für den ersten Aufsatz von Gabriele Clemens. Doch fällt ihre Ausbeute etwas geringer aus, da sie sich auf einem gut bestellten Terrain der Erzbergerforschung bewegt. Sie untersucht nämlich aufgrund ihrer umfangreichen Kenntnisse des Rechtskatholizismus die Feindschaft, auf die Erzberger innerhalb dieses Netzwerks gestoßen ist. Ein zahlenmäßig kleiner, aber publizistisch außerordentlich wirkmächtiger Kreis von Personen, die im Kaiserreich aufgestiegen waren und ihre preußisch-nationale Haltung mit in die Republik nahmen. An ausgewählten Beispielen wird vorgeführt, dass sie besonders fürchteten, dass der einflussreiche Politiker die Zentrumspartei nach links zu Parlamentarismus und Demokratie führen würde.
In der folgenden Untersuchung des Auftrags von Erzberger, im Frühjahr und Frühsommer 1915 den italienischen Dreibund-Partner vom Eintritt in den Krieg an der Seite der Alliierten abzuhalten, geht es so gut wie gar nicht mehr um den umstrittenen Politiker. Vielmehr streicht Jörg Zedler heraus, dass Erzberger sein zupackendes Wesen, seine unkonventionellen Methoden und seine fehlende Scheu vor Konventionen und Hierarchien in dieser nicht offiziellen Mission zugutekamen - auch auf diplomatischem Parkett der Politiker neuen Typs. Er profitierte vor allem von der Unterstützung durch den deutschfreundlichen Papst wie vom exzellenten Netzwerk in dessen Umgebung, auf das er zurückgreifen konnte. Dieses wird allerdings zu detailliert, teilweise ohne Bezug auf das Thema ausgebreitet. Obwohl er von allen, die sich von deutscher Seite um die Aufrechterhaltung der italienischen Neutralität bemühten, am erfolgreichsten gewesen sei, sei er daran gescheitert, dass Österreich nicht bereit war, im gewünschten Umfang dem kühl kalkulierenden Italien territoriale Abtretungen zu machen.
Eine in der Forschung bisher wenig beachtete Phase in Erzbergers Leben wird in dem Aufsatz über die von ihm gegründete Waffenstillstandskommission zum Wiederaufbau der im Westen Frankreichs zerstörten Gebiete behandelt. Anna Karla schlägt dabei insofern den Bogen zum Thema des Bandes, als für sie im Mittelpunkt steht, wie Erzberger es dabei mit der Wirtschaft hielt. Er sondierte innerhalb dieser Kommission in Zusammenkünften mit Führern der deutschen Wirtschaft, wie weit diese den Wiederaufbau würden leisten können. Aus dieser Tätigkeit seien zu enge Verbindungen zu einzelnen Wirtschaftsführer zu seinem Vorteil konstruiert worden. Obwohl die Verfasserin herausstellt, dass diese im Prozess gegen ihn wie bei der Destabilisierung der Republik eine Rolle spielten, kann letztlich nicht geklärt werden, inwieweit diese Tätigkeiten dazu beigetragen haben, dass Erzberger zur Hassfigur der Republik wurde.
Ähnlich geht es auch Stefanie Middendorf bei ihrer Untersuchung von Erzbergers Wirken als Reichsfinanzminister vom 21. Juni 1919 bis 12. März 1920. Sie relativiert mit Recht seinen Beitrag zu der oft gepriesenen Reichsfinanzreform. Denn diese sei wegen der Reparationszahlungen unvermeidlich gewesen und er habe auf mehrere Vorarbeiten zurückgreifen können. Anzuerkennen sei aber, dass er ein Beispiel für effektives demokratisches Regieren im Ausnahmezustand gegeben habe. Denn die gesamte Finanzverwaltung des Reiches habe erst aufgebaut werden müssen und vor allen Dingen sei dessen finanzielle Belastung durch die Reparationen zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt gewesen. Wie auch andere Autoren macht sie für seinen Erfolg seine agile und zupackende Art wie auch seine hervorragende Vernetzung nach allen Seiten im Reichstag verantwortlich. Dennoch seien ihm auch wegen der Umsetzung dieser Reform Vorwürfe gemacht worden und hätten sich daraus antidemokratische Ressentiments gespeist, indem überschießende Erwartungen konstruiert wurden, die im Ausnahmezustand nicht erfüllbar gewesen seien.
Der Mord an Matthias Erzberger ist in vielerlei Hinsicht gut untersucht. Dennoch gelingt es Christopher Dowe, einige neue Aspekte herauszuarbeiten. Gestützt auf die Akten des Prozesses, der nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die beiden damals noch lebenden Mörder geführt wurde, arbeitet er sowohl die Ideologie als auch die Strukturen der internationalen Verflechtung der antirepublikanischen Geheimorganisation Consul heraus. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass eine Kongruenz der Ressentiments in Gesellschaft und Justiz den Mördern 1922 das Entkommen erleichtert habe. Deswegen sei ihr Vorgesetzter damals von der Anklage der Mittäterschaft freigesprochen worden. Die eingehende und breite Darstellung verselbstständigt sich immer wieder so sehr, dass der Bezug zu Erzberger verloren geht.
Gestützt auf eigene Forschungen untersucht Dowe in einem zweiten Beitrag Erzbergers Vorgehen in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung um die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Legitimation der Weimarer Republik. Dies sei mehr ein rücksichtsloser Kampf um die Deutung von historischen Ereignissen gewesen als eine geschichtspolitische Debatte. Dafür spreche allein schon die Nähe der Hasstiraden von Kommunisten und Deutschnationalen.
Daran kann Jörn Leonhard anknüpfen. Er fragt nach den Gründen für die Hetzkampagnen gegen den Zentrumspolitiker vorwiegend vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Seine Antwort lautet, dass Erzberger einen pragmatischen Realismus besessen habe, der seinen Gegnern gefehlt habe. Diese hätten vielmehr den Bruch in ihrer Biografie und den Zusammenbruch ihrer politischen Ideale dadurch zu kompensieren versucht, dass sie die Schuld daran anderen, bevorzugt Erzberger, zugeschoben hätten. Trotz des essayistischen Ansatzes und theoretischer Unterfütterung mit Max Weber kommt Leonhard in dem zentralen Thema des Bandes, warum Erzberger zu einer solchen Hassfigur wurde, auch nicht weiter als die anderen Beiträge.
Zu Erzberger sind mehrere Biografien erschienen. Sie alle bewegen sich im Rahmen der Pionierstudie von Klaus Epstein, die bereits 1957 abgeschlossen wurde und 1962 auf Deutsch erschien. Das liegt vor allen Dingen daran, dass ein zentraler Nachlass nicht vorhanden ist. Dennoch sind zu Abschnitten und Aspekten seines Lebens immer wieder neue und anregende Einsichten in einzelnen Studien herausgearbeitet worden. So ebenfalls in dem vorliegenden Band. Dessen Aufsätze folgen auch insofern der Grundtendenz der Erzberger-Forschung, als sie ihn als Opfer und Hassfigur herausarbeiten. Aufgrund der immer wieder durchschlagenden apologetischen Motivation gerät die Forschung aber in die Gefahr, die Frage auszublenden, was er eigentlich selbst zu diesem Erscheinungsbild beigetragen hat. Der erste Schritt zur erweiterten Sicht könnte darin liegen, die Motivation herauszuarbeiten, warum dieser soziale Aufsteiger in seinem überbordenden Aktivismus alles an sich zog, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für ihn, die Sache und seine Partei. Das könnte ein Ansatz für eine Biografie sein, die sich geradezu aufdrängt angesichts der zahlreichen verstreuten Einzelstudien der letzten Jahrzehnte. Sie könnte von dem vorliegenden Sammelband ausgehen, der eine gediegene Forschungsleistung präsentiert. Würden dann noch die neueren Methoden der historischen Individual- wie Kollektivpsychologie berücksichtigt werden, dann wäre die Chance groß, tiefer in Leben, Leistung und Grenzen dieses Politikers einzudringen, der faszinierte, weil er nicht nur seine Feinde, sondern auch seine Freunde irritierte.