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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Wolf-Dietrich Bukow/Johanna Rolshoven/Erol Yildiz (Hg.)

(Re-)Konstruktion von lokaler Urbanität

Wiesbaden 2023, Springer VS, VII, 317 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-658-39634-3


Rezensiert von Alina Becker
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.07.2024

Der Sammelband „(Re-)Konstruktion von lokaler Urbanität“, herausgegeben von Wolf-Dietrich Bukow, Johanna Rolshoven und Erol Yildiz, versammelt namhafte Autoren und Autorinnen aus unterschiedlichen Disziplinen wie Erziehungswissenschaften, Kulturanthropologie und Soziologie mit Beiträgen zur Bedeutung des städtischen Quartiers. In der Einleitung verweisen die beiden Herausgeber und die Herausgeberin auf eine Diskrepanz zwischen dem Versprechen eines Urbanitätsnarrativs und der urbanen Lebenswirklichkeit. Urbanität wird hier als stadtgesellschaftliche Herausforderung verstanden und als Lösung eine „fundierte (Re-)Konstruktion konkreter, kleinräumig ausgerichteter Urbanität“ (5) gefordert. Entsprechend widmen sich die Beiträge im Sammelband dem urbanen Quartier. Die einzelnen Artikel nehmen eine kritische Haltung gegenüber dem Urbanitätsbegriff wie auch gegenüber aktuellen (profitorientierten) Stadtentwicklungsmaßnahmen ein und befassen sich mit Stadt aus einer postrassistischen beziehungsweise postmigrantischen Perspektive. Immer wieder hervorgehoben wird die Bedeutung städtischer Konvivialität. Der Band ist in vier Sektionen unterteilt, an denen sich auch diese Rezension orientiert.

Den ersten Abschnitt „Wege zur (Re-)Konstruktion von Urbanität in der Stadtgesellschaft“ leitet der Beitrag von Christian Reder ein, der ausgehend von einer historischen Dimension von Urbanität aktuelle städtische Entwicklungen insbesondere im Hinblick auf Migration und Vielfalt beschreibt. Mit Bezug auf den Architekten und Stadttheoretiker Bogdan Bogdanović plädiert Reder für ein „Europa der Städte anstelle eines Europa der Nationen“ (22). Insgesamt liest sich sein Beitrag wie ein Wunschzettel für Städte, er fordert: leistbares Wohnen, attraktive öffentliche Plätze, Freiheit von Konsumzwängen, eine hinreichende Balance zwischen Arm und Reich und anderes mehr. In ihrem gut strukturierten Artikel „Urbanität und Stadtgerechtigkeit“ analysiert Johanna Rolshoven den Urbanitätsbegriff auf drei Ebenen: Urbanität als eine der Stadt zugeschriebene Eigenschaft beziehungsweise Lebensweise, als eine Kategorie der Stadterforschung sowie als eine stadtpolitische Planungsdirektive. Mit Rückgriff auf die Architektin und Raumplanerin Margaret Crawford spricht sich Rolshoven für ein realistisches, alltags- und konfliktbasiertes Urbanitätsverständnis aus und stellt das Konzept der „vernakularen“ (38), also historisch am Ort gewachsenen, Urbanität vor. Zentral ist für sie der Begriff der Stadtgerechtigkeit, welcher unter anderem Raum-, Zeit-, Gender-, Ressourcen- sowie soziale Gerechtigkeit beinhaltet. Brigitta Schmidt-Lauber beschreibt in ihrem Aufsatz eine Veränderung individueller wie gesellschaftlicher Lebensgestaltung auf Grund von Ethisierung und Digitalisierung. Neben urbanen Qualitäten wie Pluralität, einer umtriebigen Atmosphäre und kulturellen wie infrastrukturellen Angeboten gelten nachhaltige, ökologische und soziale Lebensverhältnisse und Werte wie Überschaubarkeit, Sicherheit und Vertrautheit als attraktiv. „Plakativ formuliert, versucht die Stadt das Land hineinzuholen und das Land die Stadt“ (52). Dies bezeichnet die Autorin auch als „Vermittelstädterung“ (49) und begreift sie als Chance für Klein- und Mittelstädte. Schmidt-Lauber versteht Stadt als relationale Kategorie und endet mit einem Plädoyer für die Überwindung der binären Kategorien Stadt und Land zugunsten eines praxeologischen Raumverständnisses, welches die „Alltagspraxen und -verhältnisse konkreter Orte und Menschen zum Ausgangspunkt“ (55) nimmt. Wolf-Dietrich Bukow ist mit zwei Beiträgen im Sammelband vertreten. Sein erster Text „Die Dekonstruktion eines urbanen Quartiers“ befasst sich mit dem Eigelsteinquartier in Köln. Nach einer interessanten historischen Betrachtung des Quartiers zeigt Bukow am Förderverein beziehungsweise Bürgerverein Kölner Eigelstein beispielhaft auf, wie dieser mittels einer „post-rassistischen Kampagne“ (75) die Eingewanderten-Bevölkerung nicht nur ausschließt, sondern unter Zuhilfenahme von Narrativen, die sich unter anderem auf die Schadstoffbelastung beziehen, sogar für den „Abwärtstrend des Quartiers“ (69) verantwortlich macht. Bukow kritisiert eine „investorengesteuerte, einseitig gewinnmaximierende Quartierentwicklung“ (60), vor allem aber eine „biodeutsche Perspektive von Urbanität“ (72). Eine Einordnung des Begriffs „biodeutsch“ wäre geboten gewesen.

Der Abschnitt „Urbanität als Möglichkeitsraum“ beginnt mit Bukows zweitem, sehr umfangreichen Artikel „Das lebendige Quartier als Referenzrahmen für die (Re-)Konstruktion von Urbanität“. Der Autor nutzt eine Vielzahl von Konzepten: „Urbanitätsformat“ (82), „Urbanitätsdrehbuch“ (92), „Urbanitätsstory“ (89), „soziale Grammatik“ (93) und die „drei Säulen der Stadtgesellschaft“ (110). Der Beitrag ist durch seine zahlreichen Bezüge sehr komplex. Eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung erfordert laut Bukow Quartiere mit einer dichten und soziokulturell gemischten Struktur, also eine „synchrone Quartiersentwicklung“ (120). Erol Yildiz nimmt in seiner Abhandlung eine postmigrantische Perspektive ein, die mit den hegemonialen Erzählungen von Migration bricht. Er spricht sich dafür aus, die Lebenswirklichkeit und die sozialen Praktiken Migrierter in den Mittelpunkt zu stellen, ohne Machtverhältnisse und Migrationsregime außen vor zu lassen und fordert eine „non-dualistische Sichtweise“ (128). Am Beispiel von „Zuwanderervierteln“ und „Hinterhofmoscheen“ macht er deutlich, dass diese nicht nur Erfahrungs-, Begegnungs- und Kommunikationsräume für Migrierte sind, sondern auch Teil der Entwicklung von urbanen Räumen. Das Zusammenspiel von Menschen und Räumen bezeichnet Yildiz als „transkulturelle Praxis“ (138). „Ökonomische Aktivitäten“ und „Hinterhofmoscheen“ werden in diesem Kontext als Teil eines gemeinschaftlichen Handelns und Denkens verstanden, als widerständige und gegenhegemoniale Haltungen und Aktivitäten des Alltags, kurz: als „Kultur urbaner Konvivialität“ (128). Marcel Cardinali fordert in seinem planerisch geprägten Beitrag „Quartier der kurzen Wege“ einen menschlichen Maßstab für die Quartiers- und Stadtentwicklung. Fußläufige Erreichbarkeit bezieht er interessanterweise nicht nur auf die Distanz, sondern auch auf die Qualität der Wege. Ein Rückblick auf die mittelalterliche Stadt mit ihrer Funktionsmischung bietet für Cardinali zugleich das „Zukunftskonzept für morgen und übermorgen“ (158). Joannes Kögel und Thomas Güte legen den Fokus ihres Aufsatzes auf das Verhältnis von Anonymität und Gemeinschaft sowie von Gleichheit und Demokratie. Diese „Doppelstruktur“ (166) ermögliche die Koexistenz verschiedener Lebensstile, Bedürfnisse und Gewohnheiten. Darüber hinaus betonen die beiden Autoren die Bedeutung von Partizipation und Teilhabe.

Den dritten Abschnitt des Bandes „Die quartierbasierte Stadtgesellschaft als Labor“ eröffnet der Beitrag „Städte und Stadtteile als kleinste Einheiten einer Stadtgesellschaft“ von Harris C. M. Tiddens und Andrea Isermann-Kühn. Sie fragen danach, wie Stadtteile Nachhaltigkeit und Resilienz erreichen können. Die tabellarische Auflistung der verglichenen Einheiten zeigt laut Autor und Autorin, dass es in Stadtteilen ein „demokratisches Vakuum“ (180) gegenüber Kleinstädten gibt. Interessant ist das Instrument „Bürgerrat auf Losverfahren“ (188), das am Beispiel des Stadtteils Mierendorff-INSEL in Berlin beschrieben wird. Es ermögliche nicht nur eine „Vor-Ort-Sichtweise“ (191), sondern auch Offenheit und Transparenz. Frank Eckardt und Michael Voregger beschreiben in ihrem Artikel das Quartier Ückendorf in Gelsenkirchen, einen „benachteiligte[n] Stadtteil“ (198) einer Stadt, die durch die Deindustrialisierung gekennzeichnet ist. Was die zwei Autoren aufzeigen ist lehrreich, weil sie das Quartier hier nicht als Idealform gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellen. Sie formulieren stattdessen verschiedene Faktoren einer „Abwärtsspirale“ (198), gehen aber nicht über eine Beschreibung hinaus. In ihrem Beitrag „Stadt als Borderland“ nimmt Regina Römhild eine postmigrantische Perspektive ein. Sie schließt an das Konzept des „Border Thinking“ (215) an und schreibt über „von Grenzen durchzogene […] Verhältnisse in unserer ganz unmittelbaren Nachbarschaft“ (216), womit sie sowohl Berliner Straßen als auch die eigene wissenschaftliche Disziplin meint. Eindrucksvoll ist vor allem Römhilds kritische Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Position und der eigenen Disziplin sowie ihr Engagement im Rahmen einer „Public Anthropology, die sich aktiv in die Debatte um ein postkoloniales Umdenken in Berlin einmischt“ (216). Abschließend plädiert Römhild dafür, eine postmigrantische Stadtforschung mit den Fragen der Dekolonisierung zu verbinden. Eine empirische Forschung in Leipzig ist Grundlage für den Beitrag von Karin Wiest über einen Jugendclub in einer Großwohnsiedlung. Dieser biete Gelegenheitsstrukturen für Begegnungen und somit für das Entstehen von Urbanität. Laut Wiest ist der Jugendclub ein Raum der Konvivialität im Sinne von Austausch, Offenheit und Unterstützung, inklusive der Bereitschaft Konflikte auszuhalten und auszuhandeln. Ein interessantes Fazit ist, dass das „Sprechen über den Umgang mit Migration [...] in diesem Umfeld stärker polarisierend [wirkt] als die gelebte Erfahrung zwischen ‚Unterschiedlichen‘“ (242).

Den letzten Abschnitt „Bausteine für nachhaltige lokal verdichtete Urbanitätsentwicklung“ beginnen Marc Hill und Caroline Schmitt mit ihrem Beitrag „Solidarität in einer Stadt für alle“, in dem sie sich mit der Verbindung von „Solidarität und Bürgerrecht“ (248) beschäftigen. Das Konzept „Urban Citizenship“ beziehungsweise „Stadtausweis“ wird am Beispiel der „Züri City Card“ und anhand einer ethnografischen Fallvignette aufgezeigt. Hill und Schmitt machen damit deutlich, wie mittels „urbaner Solidarität“ (252) „lokale Zugehörigkeiten jenseits von Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsstatus und Herkünften“ (249) hergestellt werden können. Einen Schwerpunkt auf städtische Bildungsinstitutionen legt die Untersuchung von Miriam Yildiz. Sie beschreibt das aktuelle Bildungs- und Schulwesen als ein System, in dem „Migration als Problem, Herausforderung, Krise oder Störung“ (264) verstanden wird. Junge Menschen erfahren durch dieses vorherrschende System Ausgrenzung und Diskriminierung, entwickeln dabei aber auch kreative und widerständige Alltagspraxen. Yildiz schlägt eine „urbane Schule“ (270) vor, die „Diversität, Ambiguität, mehrfache Orientierungen und vielschichtige Lebensentwürfe zum Ausgangspunkt“ (271) nimmt. Ein solches Bildungs- und Schulsystem öffne sich „zum Quartier und zu seinen Bewohnern und Bewohnerinnen“ (271). Agnes Katharina Müller schreibt in ihrem Beitrag über „Coworking-Spaces“. Ein solcher „third place“ (283), in Abgrenzung zum Arbeiten Zuhause (first) oder im Unternehmen (second), verbinde die Vorteile von wohnortnahem Arbeiten mit denen eines Büroarbeitsplatzes. Müller spricht sich für Coworking Spaces im Sinne von „Nachbarschaftsbüros“ (279) aus. Dieses Konzept scheint vielversprechend, trägt es beispielsweise durch Mehrfachnutzungen zu einer aktiven Nachbarschaft und einer Stadt der kurzen Wege bei. Ebenfalls mit Quartiersnachbarschaften befasst sich Severin Frenzel in seinem Beitrag „Fremdheit und Freiheit“. Mit Verweis auf den Begriff „parochial“ (295) der Soziologin Lyn H. Loflands beschreibt Frenzel ein nachbarschaftliches Verhältnis aus räumlicher Nähe und Freundlichkeit einerseits und aus einer aufrechterhaltenen Distanz und der Wahrung von Grenzen andererseits. Nach Frenzel ist es genau dieses Verhältnis und die aktiv beibehaltende Fremdheit, die eine urbane Alltagsnormalität und eine „urbane Konvivialiät“ (299) ermöglichen. Der Sammelband endet mit vier Thesen von Ingrid Breckner, die die Bedeutung des städtischen Quartiers mit einer „quartiersbezogenen Mischung“ (310) für die gesellschaftlichen Transformationsprozesse betont, die unter anderem durch technologische wie klimatische Herausforderungen notwendig sind.