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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Ulrich Hägele (Hg.)

Kuratierte Erinnerungen. Das Fotoalbum

(Visuelle Kultur. Studien und Materialien 15), Münster 2023, Waxmann, 291 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4763-9


Rezensiert von Martin Beutelspacher
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.08.2024

Nachdem in den letzten Jahrzehnten das kulturwissenschaftliche Interesse an Fotografie enorm gestiegen ist, wuchs in der Folge auch das Interesse am Umgang mit und an der Verwendung von Fotografien. Diese Tendenz ist durch die digitale Fotografie eher verstärkt als abgeschwächt worden. Dass nun die Kommission Fotografie in der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft ihre Tagung im Jahr 2022 in Berlin dem Thema des Fotoalbums gewidmet hat, liegt im Trend. Der Titel des Sammelbandes zur Tagung deutet die Zielrichtung an und ist gleichzeitig die Kurzdefinition des Tagungsthemas: Strukturierte Erinnerung durch Foto-Arrangements und anderen Elemente im Album wie Beschriftungen, eingeklebte Eintrittskarten, Zeichnungen, Zeitungsausrisse oder andere Ephemera.

Ulrich Hägele fächert in seiner Einleitung diese Charakteristika des Fotoalbums auf und unternimmt eine Tour de Force durch dessen Geschichte sowie die wissenschaftliche Beschäftigung damit, bevor er die fünf Kapitel des Sammelbandes mit ihren insgesamt 18 Beiträgen kurz vorstellt.

Das erste Kapitel „Historisches Artefakt“ zeigt Typen des Fotoalbums. Axel Bangert präsentiert ein Offiziersalbum aus einem Kriegsgefangenenlager in der Lüneburger Heide vom Frühjahr 1942, in dem sich Aufnahmen von schlimmen Gräueln und Natur mischen. Diese beiden Realitäten sind inkompatibel. „Das Idyll der Heimat wird zunehmend vom Grauen des Lagers durchdrungen.“ (39) Ebenfalls Fotoalben aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs thematisieren Petra Bopp und Jürgen Matthäus, als „oft inkohärente und kryptische Zeitdokumente mit Beziehung zu erzählerischen und gestalterischen Traditionslinien, die mindestens bis zum Ersten Weltkrieg zurückreichen und an klassische Reise- und Familienfotografie anknüpfen“ (49) und liefern dazu einen ausführlichen Fragenkatalog (49–50). Diesen wenden sie auf zwei Alben eines Soldaten an der Ostfront 1941/42 an, belegen die verschiedene Herkunft der Fotografien, beschreiben die bewusste Montage und die Kommentare des Verfassers und stellen eine „Kombination der beiden Bildthemen Heldentod und Heldenehrung“ (56) fest.

Christiane Cantauw stellt ein Projekt der LWL-Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen vor, das 2020 durch Aufrufe 90 als sehr selten geltende bäuerlich-ländliche Fotoalben in Westfalen sammeln und digitalisieren konnte. Sie haben stark dokumentarischen Charakter, ähneln oft Chroniken oder Familienarchiven und sind damit mehr als ein Reflex der bürgerlich-städtischen Fotografie. Jan Carstensen präsentiert einen Fotoalben-Bestand seiner eigenen Familie über vier Generationen von circa 1870 bis in die 1950er Jahre mit einem umfassenden Wissen über die fotografierenden und dargestellten Personen.

Im zweiten Kapitel „Museum und Archiv“ geht es um den Umgang mit Fotoalben in öffentlichen Sammlungen. Lea Simon und Theresia Ziehe berichten aus dem Jüdischen Museum Berlin, das mehr als 400 Fotoalben besitzt. Sie zeigen die je spezifische Behandlung von sechs sehr unterschiedlichen Alben aus der Zeit von etwa 1860 bis 1993. Ines Hahn nimmt uns mit in die circa 600 Fotoalben umfassende Sammlung des Stadtmuseums Berlin. Sie zeigt repräsentative Alben mit wuchtigen Lederumschlägen, Firmenalben, anlassbezogene Prachtalben, sachliche Fotodokumentationen und alle Arten privater Alben. Sie beklagt die zu nachlässige Dokumentation von Herkunft und Gebrauch und verweist darauf, dass immerhin 158 Alben des Museums zwar online einsehbar sind, aber nur zehn auch blätterbar.

Michael Farrenkopf und Stefan Przigoda führen uns ins Deutsche Bergbau-Museum Bochum, das über circa 700 Fotoalben verfügt. Firmenrepräsentation steht hier im Vordergrund, die im 20. Jahrhundert jedoch zunehmend von gedruckten Bänden übernommen wird, ab den 1930er Jahren auch vom Film. Das private Fotoalbum nimmt Sophie Schulz unter die Lupe, die von einem Ausstellungsprojekt berichtet, das die Medien des Albums (und der Ausstellung) 2016/18 im Berliner Museum der Dinge in drei sehr unterschiedlichen, sich wechselseitig ergänzenden, sehr objektorientierten Teilen zeigte. Vieles blieb auch hier offen, wenn etwa Bilder entfernt worden sind, Bezüge unklar waren oder bei Alben eben nur eine Doppelseite gezeigt werden konnte. Doch „weit über den Bildinhalt der einzelnen Fotografien hinausgehend beziehen sich im Album Bilder, Texte, Ephemera aufeinander und machen das Fotoalbum zu einer besonderen Ordnungs- und Erzählform“ (154).

Im Kapitel „Digital“ nähern wir uns der Gegenwart. Murielle Cornut zeigt an 93 Fotoalben einer Basler Familie aus gut hundert Jahren, dass durchgängig Fragen offen bleiben. Gleichzeitig liefern Fotos und Alben in Materialität, zeittypischen Schäden oder Vorlieben auch Zusatzinformationen. Die Digitalisierung sei dagegen nur eine bildhafte Reproduktion, in der Form, Materialität und damit auch Wirkung verschleiert sind. „Das Digitalisat bedroht“, so resümiert sie „keineswegs das Original“ (170). Nadine Kulbe stellt einen engagierten Fotoamateur vor, der digitale Fotobücher aufwändig und zielgruppenspezifisch gestaltet und weiterreicht. Sie bildeten „auch eine Art Medium der Langzeitarchivierung“ (178). Fotobücher zu gestalten sei eine „kuratierte Auseinandersetzung“ (179) und spiegle die eigene Haltung wider.

Im vierten Kapitel „Moderne und Alltag“ geht es um den Zeitgeist. Judith Riemer zeigt uns das Fotoalbum des Bauhaus-Schülers Walter Köppe aus den Jahren 1927 bis 1931. Die Fotos sind nur teilweise von ihm, dafür aber die collagierte Anordnung mit eingeklebten Drucken und weißen Tuschestrichen auf schwarzem Albumkarton. Damit stellt er ohne jeden schriftlichen Kommentar Spannungen und Beziehungen dar. Zwei Repräsentationsalben aus DDR-Großbetrieben stellt Stefanie Regina Dietzel vor, auch wenn, wie sie einschränkt, das persönlich kuratierte Medium Fotoalbum dazu ungeeignet scheint. Dennoch wurden in der DDR häufig Alben zusammengestellt, in denen „ein möglichst positives Bild des Betriebes“ (200) gezeichnet wurde. So etwa das aus einem Vorrat an Fotos zusammengestellte und an Betriebsangehörige aus festlichem Anlass verschenkte Album des VEB Baumwollspinnerei und Zwirnerei Leinefelde, in dem auch die sozialen Leistungen des Betriebs thematisiert werden. Ein überaus aufwändiges Einzelstück stellte der VEB Automobilwerk Eisenach für den Republikpräsidenten Wilhelm Pieck her, das ebenfalls „als Leistungsnachweis, als Beweis für soziales Bewusstsein und letztendlich auch zur Selbstvergewisserung“ (206) des Industriebetriebs diente. Im Freilichtmuseum am Kiekeberg dienen, wie Stefan Zimmermann berichtet, 50 Fotoalben einer Familie als Hintergrundinformation bei der Translozierung und Neueinrichtung ihres Quelle-Fertighauses aus dem Jahre 1968. Dabei stellen die auf den Fotografien erkennbaren Objekte, Arrangements, Zustände und Dynamiken des kleinbürgerlichen Wohlstandes herausragende Quellen für die Präsentation im Museum dar.

Im abschließenden fünften Kapitel „Poesie der Sammlung“ geht es vor allem darum, dass Alben gleichzeitig privat sind und dennoch ihre Zeit und Umstände widerspiegeln. Wie das vermieden werden soll, führt Friedrich Tietjen als „kuratiertes Vergessen“ (231) an zwei Projekten zu privaten Alben in Österreich und Ostdeutschland vor. Der nicht präsente Austrofaschismus und sogenannte „Anschluss“ ans Deutsche Reich sind im ersten Projekt das Thema, im zweiten das Fehlen der vielfältigen Krisen und der Untergang der DDR. Die Alben vermitteln den Eindruck, „dass die österreichische Bevölkerung zwischen 1930 und 1950 und die in Ostdeutschland zwischen 1980 und 2000 außerordentlich geruhsame und von großen politischen Erschütterungen weitgehend unberührte Leben geführt haben“ (233). Die Fotofolgen bilden stereotyp vor allem besondere persönliche und familiäre Ereignisse ab. Mit Eintrittskarten, Kaufbildern, Zeitungsausschnitten und getrockneten Blumen verfolgen sie das kuratorische Ziel „einer konsistenten, strukturierten und folgerichtigen Geschichte“ (240). Widersprüche, Extreme, Versagen, aber auch Utopien und Unzufriedenheiten werden ausgeblendet – womit diese als Leerstellen zu Fragen führen. Dass die oft betrachteten Fotos oder Fotoalben in der romanhaften kollektiven Autobiographie „Die Jahre“ von Annie Ernaux nicht der Beleg für Authentizität sind, sondern, „das Individuum infrage stellen“ (249) zeigt Imke Lichterfeld, indem sie vorführt, wie Namen, Umstände und Situationen sich bei der Bildbetrachtung verunklären. „Es handelt sich bei den Blicken ins Fotoalbum dann nicht mehr um den Einblick in den Alltag einer einzelnen Privatperson, sondern in kollektive Erinnerungen“ (251). Simone Egger zeigt an 270 Briefen und einem Album die in Schnappschüssen festgehaltene kleinasiatische Jugend einer großbürgerlichen kosmopolitischen Griechin vor dem Ersten Weltkrieg, ihre Verbindung zu ihrem Verlobten in München durch die Kriegsjahre und die Jahre ihrer Ehe 1919 bis 1932.

Leporellos aus dem Nachlass der Dortmunder Fotografin Annelise Kretschmer im Museum für Kunst und Kultur in Münster stellt Anna Luisa Walter vor. Darin sind, sorgfältig gestaltet, kleinere Serien von Fotos versammelt. Der Zweck könnte Werbung oder Anschauung für die Kundschaft gewesen sein, teilweise scheinen es auch unverkaufte Exemplare oder private Geschenke zu sein. Mit ganz anderen professionellen Fotografien beschließt Melanie Konrad den Band, die sich der Sammlung von vor allem in den Jahren etwa 1900 bis 1930 gekauften Erotica-Bildern vor allem sadomasochistischen Inhalts von Felix Batsy widmet, der seine Alben daraus selbst gestaltet hat.

Damit schließt sich der überaus weite Reigen dieses Tagungsbandes. Er steckt das Panorama dessen ab, was die Sozial- und Kulturwissenschaften an Fragen an das Medium Fotoalbum stellen. Dies ist nur eine Momentaufnahme; der Trend zu weiteren Herangehensweisen, Fragestellungen und Mutmaßungen scheint ungebrochen.