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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Henrike Lähnemann/Eva Schlotheuber

Unerhörte Frauen. Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter

Berlin 2023, Propyläen, 222 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-549-10037-0


Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.08.2024

Hier publizieren zwei Professorinnen, eine aus Oxford und die andere von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, über norddeutsche Frauenklöster des Mittelalters bis zur evangelischen Gegenwart. Die Quellen dazu sind exzeptionell. Die deutsche Autorin in England, Henrike Lähnemann, hat auf der Suche nach dem Bücherbesitz von Zisterzienserinnenkonventen unter den sogenannten Heideklöstern Niedersachsens in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel ein unediertes Konvolut von 1800 Briefen aus der Zeit zwischen 1460 bis 1560 entdeckt und herausgegeben. Sie stammen aus einer Tradition, die 850 Jahre ununterbrochenen Bestand unter zwei Konfessionen umfasst.

Die einstige Vorsitzende des Verbandes der Historiker Deutschlands, Eva Schlotheuber, habilitierte sich an der Universität Düsseldorf mit der Edition eines Konventstagebuches aus dem Benediktinerinnenkloster Lüne vor Braunschweig. Schlotheuber wurde zunächst Professorin für mittelalterliche Geschichte in Münster, jetzt ist sie es in Düsseldorf.

Was macht die Auswertung der seltenen Quellen aus einer Region so aufregend? Dass Frauen in der Vergangenheit sich schreibend äußern durften und es glänzend konnten, wenn auch anonym entsprechend dem Zeitgeist. Wer weiß denn das heute und lehrt so etwas an den Hohen Schulen? Wir bleiben ratlos für den deutschen Süden. Fragen nichts als Fragen auch an die Christentumsgeschichte. Was können wir über die „Stimmen der Vergangenheit“ von den „unerhörten Frauen“ lernen? Der Waschzettel formuliert treffend: „Liebe, Politik und Alltag in mittelalterlichen Frauenklöstern. Die Hälfte derer, die im Mittelalter in ein Kloster eintraten, waren Frauen. Was waren ihre Beweggründe? Wie sah ihr Leben in Klausur aus? Wie dachten und wie lebten sie?“

Während einer Braunschweiger Fehde mussten die Nonnen des von Patriziertöchtern der Stadt bevölkerten Zisterzienserinnenstifts „Heilig Kreuz“ das Kloster zwangsläufig verlassen, und die lateinische Schilderung des Auszugs lässt gut erkennen, wie eine solche Belegschaft aussah: „Am Morgen versammelten sich die Nonnen zum Glockenschlag in der Kirche, um sich und ihr Kloster Gott anzuvertrauen [... und] so sehr weinten und klagten, dass sie kaum zu singen vermochten. Sie intonierten gemeinsam die Antifon ‚O crux splendidior‘ […], den ihnen wohl bekannten liturgischen Wechselgesang. Es folgten fünf Paternoster, ehe sie sich Gott, dem Heiligen Kreuz als ihrem Patron und allen Heiligen überantworteten und gemeinsam unter Tränen den Chor verließen. Für den Auszug formierten sie sich in Prozessionsordnung: An der Spitze der Propst und seine Kleriker, es folgte die Äbtissin Mechtild von Vechelde […], dann die Priorin Remborg Kalm und die ältesten Nonnen, die ‚seniores‘, anschließend die Subpriorin und zum Schluss sowohl alle Nonnen, die bereits die Nonnenkrönung erhalten hatten, als auch die Anwärterinnen, die Mädchen mit ihrer Magistra. Daran schlossen sich die Laienschwestern an, und den Abschluss bildeten zwei oder drei Männer sowie die übrigen Frauen.“ (20)

Eva Schlotheuber schildert Folgendes. Während die Familienmitglieder an besonderen Festtagen ins Kloster kommen durften, war es den Nonnen aufgrund der Klausur nicht erlaubt, das Kloster zu verlassen, um an Familienfesten teilzunehmen oder kranke Angehörige zu pflegen. Sie waren deshalb in der Kommunikation auf Briefe angewiesen. Unter den Briefen der Lüner Benediktinerinnen findet sich eine ganze Zahl von Glückwunschschreiben zu den Hochzeiten von Geschwistern, bei denen die Nonnen bedauern, dass sie aufgrund ihrer abgeschiedenen Lebensweise nicht zur Feier kommen können, aber statt ihrer selbst Heilige als himmlische Gäste mit guten Wünschen als Geschenke senden würden.

Die mir interessantesten Themen aus dem Inhaltsverzeichnis lauten: „Die Flucht der Nonnen (I.1); Der klösterliche Lebensraum (I.2); Das Kloster als Schule (II.1); Das Kloster als Bildungsraum (II.2); Der Platz im Leben (III.1); Die Familie und die Klostergemeinschaft (III.2); Repräsentation und Status (III.3); Die Strenge des Lebens: Musik und Reform (IV) mit den Kapiteln: Weltliche Lieder beim Leinenschwingen (IV.1); Die Klosterreform (IV.2); Musikunterricht in Ebstorf (IV.3) sowie Vom Sterben des Einzelnen in der Gemeinschaft (VI.2); Heilkundliches Wissen und Sterberituale (VI.3); Diesseits und Jenseits im Wienhäuser Nonnenchor (VI.3)“.

Das Inventar des Nonnenchors haben die bisherigen Volkskundestudierenden in der Regel schon gekannt. Jetzt aber öffnen sich Blicke nicht nur in eine fremde Welt, sondern auf Lebensbewältigung zu allen Zeiten. „Das Kloster als Bildungsraum“ erfährt eine wichtige Information, zunächst nach dem lateinischen Text übersetzt: „‚Wann auch immer in den Klöstern die Unterweisung gelehrten Wissens abnimmt, wird ganz sicher die Wirkung des religiösen Lebens zugrunde gerichtet‘, hielt eine junge Ebstorfer Nonne Ende des 15. Jahrhunderts in ihrem Notizbuch fest und griff damit vermutlich eines der lateinischen Sprichwörter auf, wie sie in der Klosterschule gelehrt wurden. Während die ältere Forschung das religiöse Leben der Frauen für intellektuell anspruchslos hielt, weiß man heute, dass die Bewältigung des Gemeinschaftslebens der Frauen in strenger Klausur sehr anspruchsvoll war, die Beherrschung des gelehrten Lateins für den Chordienst, eine tiefreichende theologische Durchdringung der eigenen Aufgaben und ökonomisches Wissen für die Verwaltung der Klostergüter erforderte.“ (55)

Ein Beispiel. Zum „Musikunterricht in Kloster Ebstorf“ bei Lüneburg gibt es eine herrliche Abbildung einer Guidonischen Hand (Farbtafel Nr. 10) für den Mädchenunterricht, der nicht nur zukünftigen Nonnen diente, sondern auch deren Nichten. Im Benediktinerkloster Pomposa bei Ferrara hat Guido von Arezzo sein Hauptwerk über die Kirchentonarten verfasst und darin die Solmisation, das heißt den notierten Gesang mit Silbenfindung (ut, me, ri, fa, sol, la) ausgeführt. Das geschah dann in der Regel mit Hilfe einer meist lateinisch beschrifteten Merkhand. Innerhalb der Benediktinerkongregation war es die Bursfelder Observanz, die den Chornonnen das Latein vorschrieb, so auch hier, obgleich in den Bildern der ältere Zustand geschildert wird.

Die Zisterzienserinnenklöster Wöltingerode und Medingen in der heutigen Heidelandschaft Niedersachsens gehörten schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Geiste der devotio moderna zu den nach deren Regeln reformierten Konventen. Der Landesherr hatte strenge Klausur verordnet samt Schweigegebot und einer strikten Reformliturgie. Dies bedeutete in der Praxis eine Art zweiter Gründungen jener Gemeinschaften (113–120).

In Medingen gab es im letzten Paragrafen als zentrales Anliegen Folgendes: „Insbesondere die Frauenklöster hatten oft weltliche Mädchen nur zur Ausbildung und Erziehung übernommen. Diese Option war bei den Familien sehr beliebt, weil es im Mittelalter für Frauen keine anderen Bildungs-Institutionen gab. Die Familien waren bereit, dafür zu zahlen, und die Gemeinschaften waren auf dieses Geld oftmals angewiesen. Das sollte jetzt unterbunden werden, da das enge Miteinander von Mädchen, die später in die Welt zurückkehren und heiraten würden, mit den zukünftigen Nonnen für Spannungen sorgte. Daher sollten weltliche Schülerinnen nicht mehr aufgenommen werden, damit die Schwestern sich ohne Ablenkung dem Gottesdienst widmen konnten.“ (117–118)

Die erwähnte Tagebuchschreiberin aus dem Umkreis von Braunschweig beginnt ihre Aufzeichnung im Jahre 1484, verwendete dafür Pergament eines alten Gebetbuches neu, obwohl sie keine der Dignitäten innehatte wie zum Beispiel magistra puellorum. Bei der endgültigen Aufnahme in den Orden heißt es dann Jungfrauenweihe (consecratio virginis) und wurde am Habit durch ein Krönchen angezeigt. 1499 erzählt die Schreiberin lateinisch von einem Festessen, zu der die niederadeligen Verwandten, also Laien, eingeladen waren. Und hier kommt nun der besagte Benediktinerinnen-Konvent Heilig-Kreuz noch genauer in den Blick, weil dort 1491 nach Ansicht von Gästen kein gottgefälliges Fest gefeiert wurde. Die Besuchsnonnen aus den Heideklöstern nahmen großen Anstoß daran, wie man aus dem edierten Tagebuchbericht ersehen kann. Es ging um „weltliche Lieder beim Leinenschwingen“ (105–108). Man muss dazu wissen, dass dort bis zu jener Zeit Flachs für die Anfertigung von Leinen oder Linnen durch das Kloster selbst üblich war. „Schwingen“ ist der vierte Arbeitsvorgang nach „Rupfen, „Riffeln“ und „Brechen“, nach dem „Schwingen“ folgen „Hecheln“, „Spinnen“ und „Haspeln“. Das Ende der Klosteraffäre war prosaisch. Der neue Propst verbot einfach den Flachsanbau.

Im Kloster Ebstorf ist heute noch an einem Schlussstein aus der 2. Hälfe des 14. Jahrhunderts eines der gewiss wegen seiner kritischen Tendenz gegen Kleriker bemängelten Lieder zu sehen: Das Lied „Eselchen in der Mühle (asellus in de mola)“ (112). Auch in heutigen Schwesternkongregationen gab es bis in die Gegenwart zumindest auf Fastnacht selbst organisierten und getexteten Karneval.

Weniger Aufsehen erregend war offensichtlich das Sticken großer Bildteppiche, etwa mit der Ehebruchsgeschichte von Tristan und Isolde samt Minnetrank, Bettszenen und niederdeutschen Beischriften. Die altbekannten Motive machten sie jedoch zu einer Interpretation von kluger Frauenhilfe im Kampf gegen das Böse und der Rettung vor Krankheit und Tod (95–97).

Alles in allem eine spannende Lektüre. An dieser ist besonders das umfangreiche „Glossar zu den Begriffen der niedersächsischen Klostergeschichte“ (206–214) für ein breiteres Publikum zu loben. Es ist kein bloßes Fachvokabular, sondern bietet vorzügliche Realeinführungen. Instruktiv ist außerdem die Karte als Vorsatzpapier. Es wäre zu wünschen, das Buch in gegenwärtigen Proseminaren als Lektüre zu verwenden, um Sachwissen zu vermitteln.

Sind das nun Frauenstudien? Oder handelt es sich um Ordensforschung mit deren Organisationsveränderungen und theologisch begründeten Reformbestrebungen? Man könnte bei der Gattungszuweisung auch an Frühformen der Mentalitätsgeschichte denken. Ich erkenne engere Zusammenhänge mit vielen heutigen Versuchen in den Wissenschaften, dem überholten Dogmatismus alter Erkenntnisinteressen zu entkommen und in der Freilegung neuer Quellen die Vergangenheit anthropologischer als bisher zu lesen und das heißt natürlich auch mit ansonsten in doppeltem Sinne erlesenem Verstand.