Aktuelle Rezensionen
Adelheid Rasche/Esther Meier (Hg.)
Stoff der Protestanten. Textilien und Kleidung in den lutherischen und reformierten Konfessionen. Beiträge zur internationalen Tagung vom 24. bis 26. Oktober 2019 im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg
(Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 46), Nürnberg 2022, Verlag des Germanischen Nationalmuseums,168 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-946217-31-2
Rezensiert von Melanie Burgemeister
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.08.2024
Der zu besprechende Band bietet in zwölf Beiträgen die Zusammenfassung einer bereits 2019 im Germanischen Nationalmuseum abgehaltenen Tagung, die Zusammenhänge zwischen Protestantismus und Textilien beleuchtete. Ausgangspunkt war die Sonderausstellung „Luxus in Seide. Mode des 18. Jahrhunderts“, kuratiert von Adelheid Rasche. In deren Zentrum stand ein luxuriöses Seidenkleid, das eine lutherische Pfarrerstochter bei ihrer Hochzeit mit einem lutherischen Pfarrer getragen hatte. Dieses Stück verweist in seiner opulenten Gestaltung auf das Spannungsverhältnis von Protestantismus und Luxus und regte so zur Diskussion an.
Das vielfältige Themenspektrum der Beiträge reicht dabei räumlich von der Schweiz bis nach Siebenbürgen und zeitlich von frühen Bildteppichen am Ende des 16. Jahrhunderts bis zur Bekleidung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch die Inhalte spiegeln das breite Feld protestantischer Textilien: Materialuntersuchungen finden sich neben Bildanalysen und Trachtenforschung. Die hinter den Objekten stehende Bedeutung wird hinsichtlich geschlechtlicher Zugänge, der vestimentären Praktik sowie den Kulturmechanismen protestantischer Identität reflektiert. Eine thematische Gruppierung der Beiträge ist nicht erfolgt, sie reihen sich zeitlich geordnet hintereinander.
Im ersten Beitrag untersucht Hanns Hubach die Bedeutung von Bildteppichen in oberdeutschen protestantischen Haushalten und den Einfluss der Reformatoren Matthias Erb und Heinrich Bullinger auf deren Verbreitung. Der textilen Sachkultur widmet sich Jörg Richter am Beispiel von Umarbeitungen vorreformatorischer Paramente in evangelischen Klöstern des Fürstentums Lüneburg. Anhand von drei Fallbeispielen zeigt er, wie Antependien aus älteren Stücken umgearbeitet wurden und gibt dabei einen Einblick in diese weit verbreitete Praktik.
Iringó T. Horváth fokussiert seinen Beitrag auf Gattungen und Provenienzen von Textilien des 17. und 18. Jahrhunderts aus reformierten Kirchengemeinden in Siebenbürgen und stellt heraus, dass über die Nutzung im Gottesdienst eher die Schönheit und der Wert der Stücke entschied als deren Provenienz. Entsprechend konnte er auch Textilien türkischen Ursprungs nachweisen.
Geschlechterforschung steht im Zentrum der Arbeit von Esther Meier zu Körper und Gewand. Sie untersucht das Werk des Pfarrers Wilhelm Löhe, der 1858 in Neuendettelsau die erste evangelische Paramentenwerkstatt in einem Diakonissenhaus gründete. Mit seiner Zuweisung dieser Produktion an Frauen trug er auch zur Konstruktion von weiblichen Geschlechtsrollen bei.
Amalie Hänsch und Wibke Ottweiler widmen sich in ihrem Beitrag „Der kuriose Knopf des Reformators“ der Detailstudie von Verschlüssen für Schauben auf Lutherbildnissen. Diese finden sich in unterschiedlichen Varianten zuerst auf drei Bildnissen aus der Werkstatt Lucas Cranachs d. Ä. aus der Zeit zwischen 1528 und 1530. Spätere Adaptionen übernahmen und interpretierten dieses Element in unterschiedlicher Weise. Damit eröffnet sich ein Spannungsverhältnis zwischen funktionalen Verschlüssen der Kleidungsstücke und ihren übergroßen Varianten auf Abbildungen. Leider konnten die Autorinnen diese Variationen aufgrund der wenigen Belege und des bestehenden Forschungsdesiderates nicht tiefer analysieren. Doch der Beitrag bietet einen guten Einblick in Quellen und Literatur zum Thema.
Anselm Schubert geht der weitgehend unerforschten „Erfindung des evangelischen Pfarrertalars“ nach. Dieses heute als Symbol sehr bekannte Kleidungsstück wurde erst 1811 in Preußen offiziell als Amtskleidung verbindlich gemacht. Vorläufer stammen aus Frankreich, das ab dem Ende des 17. Jahrhunderts seine Staatsbeamten uniformierte und hierzu auch die Pfarrer zählte. In Bayern fand die Einführung der evangelischen Amtskleidung dagegen erst 1843 statt; man übernahm die preußische Regelung. Einen kurzen Blick auf Widerstände und herrschaftliche Rechtfertigungen wirft Schubert am Ende seines Beitrages und zeigt damit, das Fakt und Fiktion sich in politischen Aussagen leicht vermischen können.
An der Schnittstelle von Kleidungsforschung und Kunstgeschichte widmet sich Karin Schrader den Fürstinnenporträts der Frühen Neuzeit und der Frage, inwiefern sich in ihnen konfessionelle Zugehörigkeiten ablesen lassen. Gerade in der Verbindung von Kleidung und politischer Macht offenbart sich die hohe symbolische Bedeutung von (abgebildeter) Kleidung. Anhand verschiedener Elemente wie Schnitt, Motivik, Schmuck und Stickereien zeigt die Autorin in ihrem spannenden Beitrag die Möglichkeiten der Individualisierung auf.
Detailreich nähert sich Susanna Burghartz dem Sujet der weiblichen Kopfbedeckungen in Zürich und Basel und untersucht das „Tächli-Tüchli“ anhand einer breiten Quellenanalyse: Ausgehend von einem seltenen erhaltenen Original nähert sie sich zunächst den materiellen Aspekten sowie Handel und Vertrieb dieser Tücher in ganz Europa. Ergänzend betrachtet sie Kleiderordnungen und gesellschaftliche Zwänge beim Tragen von Kirchenschleiern sowie die Abkehr von der Verschleierung. Schließlich vergleicht sie anhand überlieferter Abbildungen und einer Rekonstruktion des aufwändig aufgesteckten Tuches dessen Funktion und Aussehen. Mit diesem facettenreichen Zugang stellt die Autorin in ihrer äußerst lesenswerten mikroanalytischen Studie die Bedeutung des Tuches zwischen gesellschaftlicher Pflicht und individueller Selbstdarstellung eindrücklich heraus.
Anne Sophie Overkamp untersucht die religiösen und vestimentären Praktiken von Kaufleuten in Wuppertal zwischen 1750 und 1840. Sie stellt geltende Rahmenbedingungen und schriftliche Quellen vor und vergleicht diese mit Bilddokumenten aus der Region. Dabei präsentiert sie häufig benutzte Farben und Materialien und zeigt, wie eng der Spielraum der Kaufmannsfamilien aufgrund geltender Normen war.
Die Frage nach Identität und Integration von Transmigranten in Siebenbürgern stellt Irmgard Sedler in ihrem Beitrag zu Kulturmechanismen. Sie untersucht das protestantische Kleidungsverhalten von alteingesessenen Siebenbürger-Sachsen und den nach ihrer Deportation ab 1734 neu angesiedelten altösterreichischen Landlern als Außenseitern. Ab dem Beginn deren Ansiedlung verfolgt sie die vestimentär sichtbaren unterschiedlichen Entwicklungen beider Bevölkerungsgruppen bis um 1900.
Lena Krull analysiert die Erneuerung ständischer Tracht um 1900 anhand der neupietistischen Erweckungsbewegung in Minden-Ravensberg. Diese wendeten sich aus religiöser Überzeugung vor allem den gedeckten Farben zu und lehnten Aufwand in Kleidung und Lebensweise ab. Hierdurch entstand eine Verbindung von Religion und Kleidung, die die Ideale ersterer symbolisch kommunizieren sollte und so zum Sinnbild der regionalen „Tracht“ wurde.
Abschließend widmet sich Jutta Zander-Seidel dem Mythos der schwarzgekleideten Protestanten. Hierzu stellt sie die Entwicklungsgeschichte von der Reformationszeit bis an die Schwelle zum 20. Jahrhundert vor und zeigt, wie spät sich erst eine identitätsstiftende schwarze Kleidung etablierte. Dabei geht sie auf bis heute immer wieder fälschlich dargestellte Argumentationen zur schwarzen Kleidung gerade am Beginn der Reformation ein. Eine zweite wichtige Etappe in der Zuschreibung stellt der Pietismus dar, dessen schlichte, schwarze Kleidung oft als freudloses Stereotyp präsentiert wird und dem die Autorin in drei Beispielen nachgeht. So zeigt sie, dass gerade diese Wahrnehmung später als Symbol für frommes protestantisches Kleidungsverhalten verstanden wurde und die moderne Auffassung von passender Kleidung für Protestanten in früherer Zeit prägt.
Der vorliegende Band bietet einen facettenreichen Einblick in protestantische Textilien. Die Beiträge beleuchten auf unterschiedliche Weise einzelne Aspekte und gehen dabei entweder auf die tiefe Komplexität einzelner Kleidungsstücke ein oder bieten einen ersten Überblick über ein Thema. Insgesamt stellt das Buch somit eine wertvolle Rundschau in einen bisher kaum thematisierten Bereich dar, der aus der Kombination zweier Forschungsfelder resultiert. Diese Zuwendung zu einem Teilbereich der Kleidungs- sowie der Reformationsforschung eröffnet neue Möglichkeiten in der Analyse vergangener Lebenswelten und erfrischt mit einem interdisziplinären Quellenpluralismus, der die einzelnen Beiträge durchzieht und so differenzierte Einblicke ermöglicht.