Aktuelle Rezensionen
Hubert Klausmann (Hg.)
Sprachlicher und gesellschaftlicher Wandel in Baden-Württemberg. Projekte der Tübinger Arbeitsstelle „Sprache in Südwestdeutschland“ (2020–2023)
(Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Untersuchungen, 129), Tübingen 2023, Tübinger Vereinigung für Empirische Kulturwissenschaft e.V., 304 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-947227-14-3
Rezensiert von Edith Burkhart-Funk
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.08.2024
Der Sammelband enthält sechs hochkarätige Beiträge von vier Autorinnen und Autoren über teilweise groß angelegte empirische Studien. Die ersten vier Beiträge stellen die Ergebnisse von Fragebogenaktionen vor. Untersucht wird, in welchem Ausmaß in den unterschiedlichen Regionen bei jungen Menschen noch Dialektkompetenzen vorhanden sind, welche sprachlichen Register ihnen überhaupt zur Verfügung stehen, in welchen Situationen diese eingesetzt werden und wie sie diesen sprachlichen Registern gegenüber eingestellt sind. Anlass dieser Studien war die 2018 angestoßene Dialektinitiative des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Bei der Eröffnungstagung wurde es als Mangel empfunden, dass zwar ständig vom Rückgang der Mundarten die Rede sei, es dafür aber keinen empirischen Nachweis gäbe – zumindest für Baden-Württemberg.
Für die umfangreiche Studie von Hubert Klausmann war die Augsburger Untersuchung „Dialekt im Kindergarten“ (Werner König und andere) das Vorbild. Aus erhebungspraktischen Gründen passte Klausmann sie an die Verhältnisse an Grundschulen an und verschickte im Herbst 2019 die entsprechend modifizierten Fragebögen an die Lehrerinnen und Lehrer der beiden ersten Grundschulklassen in Baden-Württemberg. 705 Lehrkräfte lieferten Informationen über 13 591 Schülerinnen und Schüler aus 697 Klassen sowie über ihre eigenen Einstellungen zu Dialekten und deren Gebrauch. Es ergibt sich ein sehr differenziertes Bild, etwa was die Bandbereite der sprachlichen Register angeht, über die die jungen Menschen verfügen, was überhaupt als Dialekt beziehungsweise Hochsprache verstanden wird, was die regionalen Unterschiede und die Unterschiede im städtischen beziehungsweise ländlichen Raum hinsichtlich der Einstellungen zum Dialekt betrifft oder in welchen Situationen noch Dialekt gesprochen wird. Ein Ergebnis ist, dass die „Generation der bewertenden Personen noch viel häufiger Dialekt spricht als die Generation der bewerteten Kinder“ (64). Unterschiedlich ist auch die Wahrnehmung, wo im Kontinuum der sprachlichen Varietäten Standard- und Umgangssprache aufhören und wo Dialekt beginnt: In städtischen Räumen wird „der Begriff ‚Dialekt‘ [...] schon dann der Sprache eines Kindes zugeordnet [...], wenn dies nicht (norddeutsch geprägtes) Hochdeutsch“ spricht (61–62). Klausmann vergleicht seine Ergebnisse mit der Kindergarten-Studie in Bayerisch-Schwaben und stellt unter anderem fest, dass in beiden Bundesländern die Entwicklung eindeutig in Richtung Dialektverlust geht. „Auffallend ist, dass sich die Regionen mit dem stärksten Dialekterhalt weit entfernt von den Großstädten sowie in einer Region mit großem Identitätspotential befinden. In Baden-Württemberg ist dies der schwäbische und dort ganz besonders der ostschwäbische Raum, in Bayerisch-Schwaben sind dies das Ries und das Allgäu.“ (63)
Der zweite Beitrag von Hubert Klausmann basiert auf einer Umfrage bei 136 Ortsvorstehern in Baden-Württemberg, die bereits in den Jahren 2010 bis 2012 durchgeführt worden war. Es geht um die Frage, welches sprachliche Register in welcher sozialen Situation gewählt wird. Unterschiedliche Situationen im familiären, halböffentlichen und öffentlichen Bereich wurden vorgegeben. Die Gewährspersonen konnten unter sieben Sprachstufen auswählen, „vom Ortsdialekt bis zur Standardsprache“ (82). Aufschlussreich ist der Dialektgebrauch in der Familie bei den unterschiedlichen Generationen. „Innerhalb von zwei Generationen ist die Verwendung der Dialekte [...] um mehr als 50 % zurückgegangen.“ (85) Das ernüchternde Fazit ist, dass „die Weitergabe des Dialekts von Generation zu Generation nicht mehr gewährleistet [...] und dass er – wenn dies so weitergeht – vor dem Untergang nicht mehr zu retten ist“ (88). Die Hauptursachen sieht Klausmann in sprachlichen Ideologien, für die es bislang keine Gegenmaßnahmen gibt. „Obwohl die sprachlichen Ideologien wie der Standardismus (Jede Nation darf nur eine einzige Standardsprache haben), der Homogenismus (Eine Standardsprache darf keine Varianten haben) und der Hannoverismus (In Hannover spricht man das beste Deutsch) nachweislich falsch sind, führen sie in der deutschen Gesellschaft zu einer Herabsetzung aller Varianten, die diesen Ideologien nicht entsprechen.“ (89) Verstärkt werden diese Ideologien durch die Erfahrung sprachlicher Diskriminierung etwa in der Schule und der noch immer herrschenden, irrigen Meinung von Eltern, „dass die Dialekte an der schlechten Rechtschreibung ihrer Kinder schuld seien“ (89). „Im Grunde genommen könnte nur eine massive Öffentlichkeitsarbeit dazu führen, diese hartnäckigen Ideologien aus den Köpfen zu bekommen. Solange aber Medien und Schule daran kein Interesse haben, werden die sprachlichen Ideologien weiter für den Abbau der Dialekte [...] sorgen.“ (89)
Isabell Arnstein stellt ihre Studie zur inneren und äußeren Mehrsprachigkeit junger Erwachsener im Norden Baden-Württembergs vor. Menschen verfügen über unterschiedliche sprachliche Register, die sie je nach Situation einsetzen, also über eine innere Mehrsprachigkeit. Dazu kommt eine zunehmende äußere Mehrsprachigkeit durch Zuwanderung von Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, was die Situation noch komplexer macht. In sechs beruflichen Schulen beantworteten 911 Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren einen zweigeteilten Fragebogen. Für die 167 Jugendlichen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, mussten einige Fragen nämlich angepasst werden, etwa statt „Wie wichtig ist es für Dich, dass Du Dialekt sprichst?“ dann „Wie wichtig ist es für Dich, dass Du auch Deine Muttersprache sprichst?“ Gefragt wurde nach der persönlichen und sozialen Situation, nach Herkunft, Wohnort und Ortsloyalität. Die Mehrheit der Fragen bezog sich auf die Sprachkompetenz und das Sprachverhalten in unterschiedlichen Kontexten, auf Erleben sprachlicher Diskriminierung (Benachteiligung und Abwertung), auf den Einfluss des Dialekts beziehungsweise der eigenen Muttersprache auf das Identitätsgefühl sowie die Behandlung von Mehrsprachigkeit im Unterricht. Die Studie belegt, dass „Dialektsprecher eher an ihrem Ort wohnen bleiben“, der Dialekt „für viele ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität ist“ und dass „ein Bedürfnis, mehr über ihren/den Dialekt zu erfahren“, besteht (145). Bei den Jugendlichen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, ist die Ortsloyalität geringer (126) und das Gefühl von sprachlicher Diskriminierung stärker (127 und 139–140). Die Muttersprache ist wichtig für die eigene Identität (129) und sollte eine größere Rolle im Unterricht spielen (130). Arnstein fordert von den Schulen, den Sprachalltag, also die sprachliche Vielfalt in Baden-Württemberg, stärker zu berücksichtigen. Sprachliche Diskriminierung sollte thematisiert werden und das Identifikationspotential von Dialekt und das Integrationspotential der Muttersprache sollten genutzt werden.
Im anschließenden Beitrag berichtet Isabell Arnstein über die Befragung von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern der 8. Klassenstufen einer baden-württembergischen und einer bayerischen Realschule in den Landkreisen Neckar-Odenwald und Miltenberg. Es geht um die Thematisierung und Verwendung von Dialekt im Unterricht. In beiden Schulen spielt Dialekt in der schulischen Praxis kaum eine Rolle, obwohl aus Schülersicht das Interesse groß ist (198). Mögliche Ursachen sieht Arnstein in einer Unsicherheit auf der Seite der Lehrerschaft, wie mit sprachlicher Varianz umzugehen ist, und in einem Mangel an geeignetem Unterrichtsmaterial (199).
Rudolf Bühler zeigt in seiner umfangreichen Studie, wie sehr sich der Sprachgebrauch bei jungen Erwachsenen in den letzten 70 Jahren in unterschiedlichen Regionen Baden-Württembergs gewandelt hat. Er vergleicht eine Interviewserie des Arno-Ruoff-Archivs aus den Jahren 1955 bis 1964 mit Interviews aus den Jahren 2020 und 2022. Bühler greift zehn sprachliche Merkmale heraus: Die Aussprache von mittelhochdeutsch langem î, û, ê/ô/œ sowie von mittelhochdeutsch ei, von s vor t (st > scht), von nicht, Schwund des Reibelauts in au(ch), no(ch), glei(ch), Erhalt des Auslauts in scho(n), Reduktion des Pronomens es und Erhalt der ge-Vorsilbe beim Partizip Perfekt vor Nicht-Plosiv. Ausgezählt und verglichen wurden viele Tausend Sprachbelege. Als Interpretationshilfe, ob an einem Ort eine Realisierung basisdialektal, regionalsprachlich oder standardkonform ist, vergleicht Bühler die Belege mit den jeweiligen Sprachatlanten. Die Ergebnisse der nach Regionen differenzierten (West, Ost, Süd) Auswertungen werden in Diagrammen visualisiert. Insgesamt waren bei den historischen Aufnahmen über 90 % der Realisierungen dialektal (255). Die Gewährspersonen der neueren Interviews dagegen nutzen je nach Situation „das ihnen zur Verfügung stehende Spektrum zwischen basisdialektalen Formen und großräumiger Umgangssprache“ (255) und sind sich dessen auch bewusst (257).
Margret Findeisen zeigt im Werkstattbericht zu ihrer Dissertation, welche Schätze im Arno-Ruoff-Archiv noch nicht gehoben sind. Sie macht mehrere Hundert noch ungehörte Vertriebenen-Aufnahmen zugänglich, sortiert sie neu nach Herkunfts- statt wie bisher nach Aufnahmeorten und rückt sie aus dem sprachwissenschaftlichen in einen kulturhistorischen Fokus. Thematisiert wird das ursprünglich rein sprachliche Interesse der Interviewer, denen es deshalb streckenweise an menschlicher und kulturwissenschaftlicher Sensibilität mangelt. Seit 2022 ermittelt Findeisen in mühsamer Detektivarbeit noch lebende Nachfahren. In Folgeinterviews werden sie mit den Tonaufnahmen konfrontiert und soll deren Umgang mit dem Erbe ihrer vertriebenen Vorfahren ermittelt werden. Diesbezüglich herrscht Schweigen zwischen den Generationen, die Betroffenen wollen nicht reden, die Rezipienten nicht hören (291). Anhand einiger sehr berührender Beispiele zeigt Findeisen, wie hochrelevant dieses Thema auch heute noch ist und zwar nicht nur hinsichtlich der Vertriebenengeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch hinsichtlich der heutigen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung.